Titel
Jüdisch
-deutscher
Dialekt
(Judendeutsch), der eigentümliche
Dialekt, dessen Grundlage die in
Vokalisation, Wortbildung
und durch Neugestaltungen getrübte, mit
Korruptionen aus dem
Hebräischen und andern alten und neuen
Sprachen gemischte hochdeutsche
Mundart bildet, und der von den deutschen
Juden in
Deutschland,
[* 2] im östlichen
Frankreich, den
Niederlanden bis zur
Neuzeit gesprochen wurde, besonders aber in Rußland,
Polen,
Ungarn,
[* 3]
Bosnien,
[* 4]
Serbien,
[* 5]
Rumänien noch heute die Umgangssprache
der Israeliten deutscher
Abstammung bildet.
Der jüdisch
-deutsche
Dialekt war bei den von aller
Welt abgeschlossenen
Juden vorwiegend Umgangssprache, ist nachlässig geschaffen
und oft zu dem
Zweck, nicht jedem verständlich zu sein, gehandhabt worden. Man kann je nach den einzelnen
Ländern verschiedene
Zweige dieses
Dialekts unterscheiden. Die Nachlässigkeit, mit der die grammatischen
Formen durcheinander
geworfen und verstümmelt sind, verbieten eine grammatische Behandlung des Jüdisch
-Deutschen; doch bietet dasselbe manchen
Anhaltspunkt für die Sprachforschung, und mit seiner
Hilfe lassen sich viele besonders in Süddeutschland gebräuchliche
Wörter und Redensarten erklären.
Man unterscheidet darin vier Elementarbestandteile:
1) das
Hebräische und zwar für Gegenstände aus dem
Kreis
[* 6] des
Judentums und des jüdischen
Lebens, bei Begriffsformen, mit
denen die jüdischen
Studien vertraut machten, verschiedenen
Ausdrücken aus der
Sprache
[* 7] des täglichen
Lebens und einigen andern
Gegenständen, die man absichtlich nicht mit dem deutschen
Wort benannte;
2) Kompositionen des Hebräischen und der Landessprache in vierfacher Weise: das deutsche Hilfsverbum »sein« mit dem hebräischen Partizipium, z. B. matzil sein (erretten), meschuggo (verrückt) sein, deutsche Flexionen hebräischer Wörter, z. B. Verba durch die Endsilben en oder n, als darschan-en (predigen), oder Adjektiva, z. B. chen-dig (anmutig) etc., Zusammensetzungen, wie Schabbeslicht (Sabbatlicht), Habdalabüchse (Gewürzbüchse), zu Wörtern erhobene Abkürzungen, z. B. Ra-T (Reichsthaler), Pa-G (preußischer Groschen);
3) ungebräuchliches oder fehlerhaftes
Deutsch, teils in Anwendung für die jüdischen
Gebräuche, z. B. aufrufen (zur
Thora),
lernen (als religiöses
Studium), teils in Judaismen aller Art, z. B. unrichtige
Aussprache und Schreibung (au für o, gel
für gelb), einige
Flexionen und
Konstruktionen (heit statt keit, mir statt wir), besonderer
Gebrauch der
Wörter (sich kriegen statt streiten, königen statt regieren,
Schule statt Gotteshaus), Redensarten und
Sprichwörter, willkürliche
Bildungen, z. B. jüdischen (beschneiden), teils endlich in einer beträchtlichen Anzahl
von alten, veralteten oder provinzialen
Ausdrücken bestehend, z. B. as (daß), Ette
(Vater) etc.;
4) aus der Fremde stammende Aussprache und Wörter, z. B. benschen (segnen, lat. benedicere), oren (beten, lat. orare), Pilzel (Magd, ital. pulcella), planjenen (weinen, lat. plangere), preien (einladen, franz. parler), Sargenes (Sterbehemd, ital. sargano, sargia) etc. -
Die jüdisch-deutsche Litteratur entwickelte sich namentlich in Polen und Deutschland vor der Mitte des 16. Jahrh. zum Zweck der religiösen Erbauung und Belehrung, der Verbreitung von Übersetzungen aus der profanen Litteratur sowie aus der Bibel. [* 8] Sie umfaßt Paraphrasen und midraschische Ausschmückungen biblischer Bücher (Zeênu urena), religiös-ethische Schriften (z. B. Brautspiegel, Seelenfreude, Frauenbüchlein, Buch der Frommen u. a.), Übersetzungen der Gebetbücher, Andachtsbüchlein (Techinnot), historische Werke (Schewet Jehuda u. a.), Ritualwerke (Minhagim), Sagen- und Heldenbücher, Belletristik (Josippon, Judith, Maassebuch, Übersetzungen von »Tausendundeine Nacht«, Rittergeschichten u. a.), Glossare zu Bibel und Talmud etc.; auch mehrere Verfolgungsschriften und Rechtsgutachten sind im jüdisch-deutschen Dialekt abgefaßt.
Seit M. Mendelssohn, der durch seine deutsche Bibelübersetzung den Sinn für deutsche Sprache und deutsche Wissenschaft belebte, schwand das Judendeutsch immer mehr. Nur in Rußland, Polen, Galizien, Rumänien etc. ist es noch heute nicht nur im Verkehr allgemein gebräuchlich, sondern wird auch unter Anwendung der jüdischen Kursivschrift zu schriftlichen Mitteilungen aller Art benutzt. Für die Juden in den genannten Ländern und die polnischem Einwanderer in England und Amerika [* 9] erscheinen gegenwärtig über 15 jüdisch-deutsche Zeitungen (Tages-, Wochen- und Witzblätter).
Vgl. Jost in Ersch und Grubers Encyklopädie (Bd. 27);
Zunz, Gottesdienstliche Vorträge (Berl. 1832).
Die Hilfsbücher zum Erlernen des jüdisch-deutschen Dialekts sind unzureichend. Über das in der Gaunersprache (s. Kochemer-Loschen ^[richtig: Kochemer Loschen]) aufgenommene und verarbeitete Judendeutsch vgl. Avé-Lallemant, Das deutsche Gaunertum, Bd. 3 u. 4 (Leipz. 1862), u. Steinschneider, Hebräische Bibliographie (Berl. 1864). Eine Chrestomathie der jüdisch-deutschen Litteratur gab Grünbaum (Leipz. 1882) heraus.