Titel
Jesus
Christus, der
Stifter der christlichen
Religion. Der Doppelname beruht auf einer erstmalig bei
Paulus begegnenden
Kombination des Personennamens (Jeschua, später verkürzte Form für Jehoschua,
Josua, »Gott hilft«) mit
dem Amtsnamen
Christus. Die
Kombination selbst aber beruht auf dem
Urteil, welches das älteste
Bekenntnis der christlichen
Gemeinde
darstellt: »Jesus
ist der
Christus«, d. h. in dieser bestimmten Persönlichkeit haben sich die messianischen
Weissagungen und
Hoffnungen erfüllt.
Die Idee vom Messias (s. d.) selbst aber ist das ausschließliche Eigentum und Erbe des jüdischen Volkes gewesen. Während die Mythologie andrer Völker die sozialen und politischen Ideale in Gestalt eines goldenen Zeitalters an den Anfang der Geschichte verlegt, überträgt der seiner menschheitlichen Mission sich bewußte monotheistische Gottesglaube Israels dieselben in die letzte Zukunft, von der Vergangenheit, insonderheit der Davidschen, nur das phantasiemäßige Kolorit entlehnend.
Ein neuer David, welcher die vom alten Gotteshelden ins Werk gesetzte Herrschaft des auserwählten Volkes über die Völker der Erde vollenden und den Dienst des Einen Gottes zur Weltreligion erheben sollte, wurde in demselben Maß mit glühender Sehnsucht erhofft und erbeten, wie die äußern Verhältnisse des jüdischen Staats immer ärmlicher und kläglicher, der Abstand zwischen dem, was die Vergangenheit versprochen, und dem, was die Gegenwart gehalten hatte, immer weiter und trostloser wurde. Seit den Tagen des Exils hatte das jüdische Volk nacheinander persische, ¶
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ägyptisch-ptolemäische und syrisch-seleukidische Knechtschaft gekostet, und den glorreichen Jahren der Makkabäischen Erhebung und hasmonäisch-nationalen Herrschaft war rasch das Zwangsregiment der idumäischen Herodes-Dynastie gefolgt, welche selbst wieder von der Gnade der Römer [* 3] lebte. Seit dem Jahr 7 unsrer Zeitrechnung war das eigentliche Judäa sogar dem römischen Universalstaat direkt einverleibt worden, während die übrigen Teile Palästinas vorläufig noch den Söhnen Herodes' d. Gr. (s. d.) unterworfen blieben. Aber in demselben Augenblick, als die Einführung des römischen Zensus dem Volk zum erstenmal seine nunmehr unabwendbar gewordene Abhängigkeit von der erdrückenden heidnischen Weltmacht fühlbar machte, brach auch die Empörung des religiösen und nationalen Bewußtseins der Juden in lichten Flammen aus. In jene Tage des Galiläers Judas (s. d. 4) verlegt die spätere Sage der Christengemeinde die Geburt des Stifters (Luk. 2, 1. ff.), während mit ungleich mehr Wahrscheinlichkeit eine frühere Erzählung die letzten Jahre der Regierung des Herodes, etwa das J. 6 vor unsrer Zeitrechnung, dafür ansetzt (Matth. 2, 1. ff.; Luk. 1, 5). Beide Formen der Geburtsgeschichte, wie sie jetzt in den beiden ersten Kapiteln der nach Matthäus und nach Lukas genannten Evangelien vorliegen, schließen sich gegenseitig in allen Stücken aus, mit Ausnahme zweier Punkte, auf denen das dogmatische Interesse, welches beiden gemeinsam zu Grunde liegt, durchschlägt.
Während nämlich Jesus
aus dem galiläischen Städtchen Nazareth oder Nazara stammte
(Matth 13, 54-57;. 21, 11), daher er
auch im Leben wie im Tod immer »Jesus
von Nazareth« heißt, wie er als bloßer Einwanderer nicht hätte heißen können, mußte
er wegen des Micha 5, 1 (vgl.
Matth. 2, 5). angegebenen Kennzeichens der Messianität
aus Bethlehem in Judäa sein. Um nun aber zu zeigen, daß er hier geboren sei, läßt die Geburtssage bei Matthäus seine Familie,
die von alters her in der Davidsstadt Bethlehem wohnte, sich vor den Herodäern zuerst nach Ägypten,
[* 4] dann nach Galiläa flüchten,
während die spätere Form bei Lukas zwar von der richtigen Voraussetzung ausgeht, die Eltern Jesu hätten
in Nazareth gewohnt, dieselben aber vermöge eines äußerst künstlichen Apparats, wobei auch der oben angeführte Zensus eine
Rolle spielt, vorübergehend und gerade so lange nach Bethlehem versetzt, als nötig war, um das Jesuskind
dort geboren werden
zu lassen.
Der zweite Punkt der Übereinstimmung betrifft die sogen. vaterlose Erzeugung, die jungfräuliche Geburt Jesu. Während die beiden Geschlechtsregister (Matth. 1, 1-17;. Luk. 3, 23-38). ursprünglich auf der Voraussetzung der Vaterschaft des Joseph beruhen, während Matthäus unbefangen von Jesu Vater, Mutter, Brüdern, Schwestern (12, 46; 13, 55. 56), Lukas von seinen Eltern redet (2, 27. 33. 41. 43. 48), während Markus überhaupt von einer Geburtsgeschichte schweigt, Jesu Mutter und Brüder aber als auf die besondere Rolle, die er später aufnimmt, auch nicht im geringsten vorbereitet darstellt (3, 21. 31), wird Matth. 1, 18-25. die vaterlose Erzeugung in legendarischer Form eingeführt und findet sich Luk. 1, 35. eine förmliche Theorie derselben.
Ohne Zweifel hätte der jüdische Gottesbegriff derartigen mythologisierenden Gedankengängen erfolgreichern Widerstand entgegengesetzt, wenn nicht gleichzeitig das Christentum schon in heidnischen Kreisen weitgehende Eroberungen gemacht und entsprechende Vorstellungsformen adoptiert hätte. Innerhalb des Judentums nämlich hieß zunächst Israel als auserwähltes Volk der Sohn Gottes (2. Mos. 4, 23;. Jer. 31, 9). Wie nun aber der Messias persönlich dasjenige ist, was das ganze Volk sein sollte, so heißt auch er, mit Bezug auf Psalm 2, 7,. »Sohn Gottes«, und in diesem messianischen Sinn ist die Bezeichnung immer gefaßt, wo sie bei Matthäus und Markus Jesu dargeboten, von ihm acceptiert oder gar selbst in Gebrauch genommen wird. Die griechisch-römische Welt dagegen wußte von Gottessöhnen in handgreiflicherem Sinn; sie fand solche nicht bloß in den Heroen des Mythus, sondern sogar in geschichtlichen Persönlichkeiten, wie Pythagoras, Platon, Alexander, Augustus. Das Christentum hat solchen Vorstellungen mindestens die grobsinnlichen Elemente abgestreift, daher die Gotteskraft des Heiligen Geistes (s. d.) als Vermittelung der Zeugung aufgefaßt.
Dieselbe dogmatisch-mythische Bearbeitung und Darstellung des Lebens Jesu, welche solchergestalt in den beiden Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas noch mit Händen zu greifen ist, beeinflußt übrigens bis zu einem gewissen Grad auch diejenigen Teile der Lebensgeschichte Jesu, deren irdische Wirklichkeit noch durch die Hülle einer von alttestamentlichen Erinnerungen und messianischer Dogmatik bedingten, halb poetischen Darstellungsform deutlichst zu erkennen ist.
Zugestandenermaßen stehen der geschichtlichen Wirklichkeit am nächsten die Evangelien des Markus und des Matthäus, namentlich in allen denjenigen Berichten, bezüglich welcher Übereinstimmung unter ihnen herrscht, so daß sich die neuern kritischen Darstellungen des Lebens Jesu in der Regel nur durch ein Übergewicht der Bevorzugung, die dem einen oder dem andern der beiden genannten Evangelisten zu teil wird, zu unterscheiden pflegen. Noch größere Übereinstimmung herrscht in einer von theologischem Vorurteil und dogmatisch-apologetischer Tendenz emanzipierten Wissenschaft hinsichtlich des dritten und des vierten, d. h. der spätern Evangelien.
Dasjenige des Lukas hält sich zwar noch im allgemeinen an den synoptischen Stoff, behandelt ihn aber im einzelnen schon vom
Standpunkt einer höhern, insonderheit der Paulinischen, Christus
lehre, während das vierte, nach Johannes genannte Werk gleich
mit der Spekulation über das übersinnliche, göttliche Wesen Jesu beginnt, von vornherein weniger Geschichte
als Theologie in Aussicht stellt und den ganzen Rahmen der ältern Form der Berichterstattung auf allen Punkten durchbricht
(s. Evangelium). So ist es z. B. erst Folge dieser Johanneischen Umgestaltung und Erneuerung, welche die ältern Elemente der
Sage erlitten haben, wenn die Zeitdauer der öffentlichen Wirksamkeit Jesu auf etwas mehr oder weniger
als drei Jahre geschätzt wird. So lange hätte er sich, zumal als erklärter Messias, der Hochflut der hierarchisch-pharisäischen
Opposition und der rücksichtslosen Praxis der römischen Polizei gegenüber schwerlich halten können.
Dem ältern synoptischen Bericht zufolge hat Jesus
die messianische Fahne erst am Tag seines Einzugs in
Jerusalem
[* 5] offen und vor allem Volk entfaltet, um sie etwa eine Woche über aufrecht zu halten, während seine öffentliche Wirksamkeit
denselben Quellen zufolge etwa von einer Osterzeit zur andern reichte; sein erstes Auftreten fällt wahrscheinlich in den
Anfang des Jahrs 34 unsrer Zeitrechnung, sein Tod in den April 35; die neuern Forschungen weisen allerdings
ein Schwanken innerhalb des Zeitraums von 34-36 auf. Maßgebend bleibt die schon in der Mitte des 2. Jahrh.
nachweisbare und dann hartnäckig, trotz der glänzenden Autorität des vierten Evangeliums, Jahrhunderte
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hindurch festgehaltene und z. B. von Julius Africanus vertretene Überlieferung der Kirche, wonach Jesus
ein volles Jahr oder
auch ein Jahr und etliche Monate öffentlich gewirkt hätte.
Auch die äußern Umrisse dieses öffentlichen Auftretens lassen sich noch mit hinreichender Bestimmtheit feststellen, während
sie zugleich ausreichende Anhaltspunkte ergeben zur richtigen Beurteilung des geistigen Bildes, in welchem
sich die alttestamentliche und jüdische Messiasidee auf dem Grunde des religiösen und sittlichen Bewußtseins Jesu abzeichnete.
Charakteristisch ist gleich der Anfang und Anlaß der öffentlichen Laufbahn. Während von den Tagen jenes Galiläers Judas bis
zu den Zeiten des erklärten Messias Bar-Kochba (s. d.) unter Hadrian, also im Laufe von 4-5 Menschenaltern,
die messianische Idee sich, soweit sie ihre Spuren auf dem breiten Fahrwasser des jüdischen Volkslebens zurückließ, fast
ganz nur als ein politisches, stetig auf Rebellion gegen Rom
[* 7] hinarbeitendes, darum auch nur verhängnisvoll wirksames Ferment
des nationalen Bewußtseins erwiesen hat, ist Jesus
nicht etwa erst später, als er das Wort vom Zinsgroschen
sprach, gänzlich aus diesen Geleisen herausgetreten, sondern war denselben entwachsen, seitdem der erste zündende Funke
in seine Seele gefallen.
Die Stimme, die ihn aus der Stille und Zurückgezogenheit des bis in sein gereiftes Mannesalter zu Nazareth geübten Zimmermannshandwerks (Mark. 6, 3). auf den öffentlichen Schauplatz rief, war »die Stimme eines Predigers in der Wüste«, es war die gewaltige Bewegung, welche ein Mann hervorgerufen hatte, der sich bewußt war, unmittelbar an der Schwelle des messianischen Zeitalters zu stehen, der aber zugleich dieses bevorstehende Reich auf lauter Vorbedingungen rein sittlicher Art gründen wollte.
Dies war Johannes der Täufer (s. d.). Was man auch bezüglich
der Einflüsse, die, sei es von essäischer, sei es von pharisäischer Seite her, auf Jesus
erfolgt wären, vermutet hat,
mit Sicherheit läßt sich, abgesehen von den Bildungselementen, welche dem heranwachsenden Sohne Nazareths der Verkehr mit
den Lehrern der Synagoge und die eigne selbständige Lektüre des Alten Testaments lieferten, nur noch reden
von dem tiefgehenden, lange nachwirkenden Eindruck, den die Gestalt des Wüstenpredigers auf ihn gemacht hat, der da kein
Rohr war, im Wind hin- und herbewegt, kein Mann in weichen Kleidern, wie sie in den Häusern der Könige eine entsprechende Moral
predigen, aber ein Prophet und mehr als ein Prophet
(Matth. 11, 7. ff.). Und doch wußte
sich Jesus
in dem Moment, als er dieses Wort über den Täufer gesprochen hat, auch schon innerlich von ihm geschieden.
Zwar gehörte auch er zu den Zahllosen, die dem Aufruf des Täufers Folge geleistet und am Jordan die Taufe
empfangen hatten; ja, auch er hat anfangs nur dieselbe Rede geführt wie der Täufer: »Nahe ist das Himmelreich«; aber dieses
sein »Himmelreich« war doch ein andres als jenes gut alttestamentliche Königtum Gottes, wie es im Anschluß an die Reden der
Propheten eben noch ihr letzter und größter verkündigt hatte
(Matth.
11, 11). Bezeichnend für die sittliche Vertiefung, die Jesus
dem Begriff des messianischen Reichs gab, sind vielmehr jene
Seligpreisungen, womit die Bergpredigt beginnt.
Wenn hier die Nichtshabenden gepriesen werden, die doch alles haben;
die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Durstenden, weil sie satt werden sollen;
die reinen Herzens sind, weil sie Gott schauen;
die Friedensstifter, weil sie Gottes Kinder heißen werden (Matth. 5, 3. ff.): so spricht sich in alledem ein vom reinsten und tiefsten Gefühl aller drückenden Widersprüche des zeitlichen Daseins getragenes Bewußtsein aus, aber auch ein Bewußtsein, welches in demselben Augenblick, da es seine Schranken anerkennt, schon über dieselben erhaben ist und sich sammelt im seligen Gefühl der Einheit der eignen Lebenszwecke mit dem seiner Erfüllung allein ganz sichern Zweck Gottes. In nichts anderm aber besteht das eigentliche Wesen der Religion (s. d.).
Während also nach der im Judentum herrschenden Weltanschauung vornehmlich Siege über die Feinde, Herrschaft über alle Heiden und ein glänzendes Genußleben zu den Merkmalen der dem ganzen Volk als Lohn für seine Gesetzestreue in Aussicht gestellten messianischen Herrlichkeiten gehören, bieten dafür die von der Reichspredigt Jesu angeschlagenen Töne eine Reihe von wechselnden Ausdrücken für das in ihm mächtig pulsierende und ihn ganz ausfüllende Leben der Religion selbst.
Was aber so in der unmittelbaren Erfahrung einer unvergleichlich intensiv arbeitenden, aufnehmenden und ausgebenden religiösen
Natur mit Einem Schlage gesetzt ist, das selige Gefühl unverkümmerter Einheit mit sich selbst, mit Gott und mit seiner Schöpfung,
das legt sich für die nach Ausdruck ringende Vorstellung in einer Zweiheit von religiösen Begriffen auseinander,
zu deren Bezeichnung die Namen »Vater« und »Sohn« dienen. Der Name »Vater«, im Alten Testament nur vereinzelt und wie zufällig
einigemal anklingend, ist in der Verkündigung Jesu zum eigentlich begriffbestimmenden Namen Gottes geworden, wie denn auch
in den urchristlichen Gemeinden Jesu Gebetsruf »Abba« widertönte und die Apostel stetig grüßen »vom Vatergott
und seinem Sohn J.« Nennt sich dem entsprechend Jesus
selbst aber den »Sohn«,
so geschieht solches wenigstens in den synoptischen Evangelien noch ganz im Zusammenhang und unter Voraussetzung derselben
Weltanschauung, der zufolge auch in der Bergpredigt gerade die »Söhne Gottes« heißen, welche dasjenige auf dem
Weg zeitlicher Entwickelung und sittlichen Wachstums zu werden im Begriff sind, was der über alles Zeitliche erhabene Gott
im Himmel
[* 8] ewig ist, der auch ebendeshalb, weil er immer ist, was Menschen jederzeit nur werden sollen, »Vater« heißt
(Matth.
5, 9. 45. 48). Indem nun Jesus
den jüdischen Messiasbegriff in der Richtung vertiefte, daß daraus der
Sohn wurde, welcher allein den Vater erkannt und der Welt geoffenbart hat
(Matth. 11, 27),. also der Schöpfer des wahren Gottesbewußtseins
ist, war er sich wohl bewußt, in einen unversöhnlichen Widerspruch mit den glänzenden Messiasträumen seines Volkes zu treten.
Es ist daher nicht zufällig geschehen, wenn er im Anfang seiner Reichspredigt überhaupt mit Enthüllungen
über seine eigne Person zurückhielt.
Was er predigte während der ersten glücklichen Wochen und Monate des »galiläischen Frühlings«, das ist die Kunde vom Reiche Gottes, welches nahe, ja welches schon dasei. Mit inbrünstiger Wonne kündigt er der Welt den Vater an, dessen ewige Liebesherrlichkeit ihm die Lilien [* 9] auf der Flur und die goldene Saat auf den Feldern, wovon die »Gleichnisse« sprechen, noch mehr aber freilich die innere Harmonie des eigensten persönlichen Lebens offenbarte, kraft derer er der vollen Strömung göttlichen Lebens im menschlichen erfahrungsmäßig gewiß geworden war. Sofort sehen wir solche, die glauben oder gern glauben möchten an sein Wort, ihm begierig folgen; verehrende und dienende Frauen sitzen zu seinen Füßen, ja selbst Heilungen gehen von der Gesundkraft seines Wesens aus, und wunderhafte ¶