Irrtum
,
jedes falsche Urteil, insofern es durch den Schein (species veri) für wahr gehalten wird. Der I. ist entweder ein formaler, insofern das Urteil den Gesetzen des Denkens, oder ein realer, materieller, insofern dasselbe der Natur des Gegenstandes widerspricht. Jener wird durch genaue Kenntnis und richtige Anwendung der Denkgesetze, dieser durch besonnene Prüfung und unparteiische Untersuchung vermieden. In der Rechtswissenschaft versteht man unter I. (error) nicht nur das Falschwissen, sondern auch das Nichtwissen (ignorantia), indem es rechtlich von derselben Wirkung ist, ob man von einer Thatsache gar keine oder eine falsche Vorstellung hat.
Der I. findet aber im Rechtsleben nur dann Berücksichtigung, wenn er ein entschuldbarer ist, und zwar gilt der faktische
I., der I. über
Thatsachen (error facti), regelmäßig als entschuldbar, während der Rechtsirrtum
(error
juris) der
Regel nach nicht entschuldigt wird, da jeder
Bürger das
Recht seines
Staats kennen oder sich doch darüber vergewissern
soll
(ignorantia nocet). Nur ausnahmsweise wird im gemeinen
Rechte der Rechtsirrtum
Minderjährigen,
Soldaten und in gewissen
Fällen auch
Frauen und gänzlich ungebildeten
Personen verziehen. Nicht zu
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verwechseln ist aber damit der Fall des sogen. wesentlichen Irrtums
(error essentialis) beim Abschluß von Rechtsgeschäften.
Befindet sich nämlich ein Kontrahent über einen wesentlichen Umstand des Vertrags, z. B. über die Identität der Ware beim
Abschluß eines Kaufs, in Unkenntnis, so gilt das ganze Geschäft, resp. der Vertrag als nicht abgeschlossen;
denn was man nicht weiß, kann man auch nicht wollen. Es sind dies die Fälle, in welchen Savigny von einem sogen. uneigentlichen
I. spricht, da hier der I. eigentlich nur Beweismoment für den fehlenden Willen sei.
Dies ist die Bedeutung des Rechtssprichworts: errantis non est voluntas (beim I. ist der Wille ausgeschlossen).
Auch in strafrechtlicher Beziehung wird der Rechtsirrtum
, die Unkenntnis strafrechtlicher Bestimmungen oder einzelner Strafandrohungen,
von dem Strafrichter nicht berücksichtigt. Dagegen kann der faktische I. unter Umständen von Bedeutung werden. Es gehört
hierher namentlich die Bestimmung des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs (§ 59), wonach, wenn jemand bei Begehung einer strafbaren
Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestand gehören
oder die Strafbarkeit erhöhen, ihm diese Umstände nicht zugerechnet werden sollen.
Wenn also z. B. ein Unverheirateter mit einer Ehefrau den Beischlaf vollzieht, ohne zu wissen, daß diese Frauensperson verheiratet ist, so kann er nicht wegen Ehebruchs bestraft werden. Handelt es sich jedoch um fahrlässige Vergehen, so soll jene Bestimmung nur dann Platz greifen, wenn diese Unkenntnis selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet war.
Vgl. außer den Lehrbüchern des römischen Rechts und des Strafrechts Zitelmann, I. u. Rechtsgeschäft (Leipz. 1879).