Interessen
politik
und
Interessenvertretung. In der
Politik ist das
Interesse (s. d.) das bewegende
Element, und insofern
es sich bei der politischen Thätigkeit um die Vertretung der
Interessen des
Staats, der Dynastie, der
Regierung, der
Gemeinden oder um die
Interessen des Nationalwohlstands, des
Handels und
Verkehrs, der Machtstellung und der
Ehre
der
Nation u. dgl. handelt, ist alle
Politik eine Interessen
politik. Man pflegt jedoch diesen
Ausdruck regelmäßig anzuwenden,
um eine einseitige Interessen
politik, d. h. ein einseitiges Verfolgen spezieller
Interessen ohne Rücksicht, ja vielleicht sogar im
Widerspruch mit den
Interessen der Gesamtheit, zu bezeichnen.
Daß jemand für ein rechtlich erlaubtes und zulässiges
Interesse eintritt und dasselbe zu fördern sucht, ist gewiß nichts
Unrechtes; es ist unter Umständen sogar mehr oder weniger verdienstlich. Darum ist es auch durchaus
nicht tadelnswert, wenn zur Erreichung solcher
Zwecke die einzelnen Interessen
tengruppen sich fester zusammenschließen, wenn
sie eine planmäßige
Interessenvertretung organisieren, und wenn sie für ihre
Interessen eine
Agitation unterhalten. Tadelnswert
kann eine solche
Interessenvertretung aber dann sein, wenn sie einseitig da vorherrscht, wo das allgemeine
Interesse entscheiden
sollte. Das moderne Staatsleben stellt das letztere in den
Vordergrund.
Die Wahl der Volksvertreter in Staat, Provinz, Kreis [* 2] und Gemeinde kann nämlich entweder so geordnet sein, daß die verschiedenen Arten des Besitzes, die man als verschiedene Interessenklassen bezeichnet, abgesondert ihre Vertreter wählen, oder so, daß die Eigenschaft als Staatsbürger alle übrigen Qualitäten des Wählenden überragt und ein gleiches oder höchstens durch Vermögenszensus abgestuftes Wahlrecht gewährt wird. Im großen und ganzen war jenes das alte ständische, dieses ist das moderne Prinzip.
Als Stände im alten Sinn finden wir regelmäßig Adel und Bürgerstand, häufig daneben Kirche und Bauernstand. In modernen Verfassungen unterscheidet man nicht selten den geistigen und den materiellen Besitz, bei letzterm wiederum den ländlichen und städtischen, den größern und den kleinern. So hat z. B. die österreichische Verfassung das Wahlrecht den Verbänden des großen und des kleinen Grundbesitzes und den Handelskammern übertragen. Im Deutschen Reich finden sich die verschiedensten Vertretungsarten: Mecklenburg [* 3] hat seine alten Stände, Ritterschaft und Landschaft;
Bremen [* 4] hat eine Organisation der Interessen, indem die Gelehrten, Kaufleute, Handwerker, Landwirte und die zu keiner dieser Klassen Gehörenden für sich abgesondert wählen;
der preußische Staat hat ein nach dem Zensus abgestuftes, das Deutsche Reich [* 5] aber allgemeines und gleiches Wahlrecht.
Unter dem Streben nach Interessenvertretung versteht man nun heutzutage nicht selten die Reaktion gegen jenen modernen Zug des Staatslebens, welcher die Berücksichtigung des Standes und seiner Sonderinteressen bei politischen Wahlen ausschließt. Diese Reaktion vollzieht sich in doppelter Form. Die Wähler beschließen, nur einen Angehörigen ihres Berufs zu wählen. Landwirte, Fabrikarbeiter, kleine Gewerbtreibende thun sich zusammen, erklären mit mehr oder weniger Grund, die Interessen ihres Standes seien bisher vernachlässigt worden, und es sei daher notwendig, einen Mann zu wählen, der diese Interessen zur Geltung zu bringen vermöge.
Die andre Form der Interessenvertretung ist die, daß die durch ein gewisses Interesse Verbundenen sich associieren und sich bestreben, ihren Associationen und der Thätigkeit derselben nicht allein Einfluß, sondern auch eine gewisse äußere Autorität zu verschaffen. Teilweise ist der Staat diesen Wünschen entgegengekommen. Er hat den Handelskammern und gewissen kaufmännischen Korporationen (Börsen, Ältestenkollegien, Syndikaten), auch den Innungen, den landwirtschaftlichen Vereinen Attribute der obrigkeitlichen Autorität gegeben, das Recht zur Führung eines öffentlichen Siegels, das Recht, den Berufsgenossen Steuern aufzuerlegen, Korporationsrechte etc.
Die Frage, wie weit eine Interessenvertretung politisch und moralisch zulässig sei, wird vielfach erörtert. Vorab muß gefordert werden, daß die zur Wahrnehmung von Berufsinteressen geltend gemachten Bestrebungen sich innerhalb der Grenzen [* 6] der strengsten Legalität halten. Die Bildung von Vereinen zur Wahrung gemeinsamer Berufsinteressen ist an sich durchaus zulässig; allein die Übertragung irgend eines obrigkeitlichen Attributs an sie ist nicht selten nachteilig, vielmehr sollten diese Vereine ihren Einfluß lediglich dem Gewicht der von ihnen beigebrachten Gründe verdanken. In Deutschland [* 7] ist die Landwirtschaft durch ein ganzes Netz von landwirtschaftlichen Vereinen vertreten, die zum Teil staatlich subventioniert werden. Wo, wie in Preußen [* 8] das Landesökonomiekollegium, ein oberster landwirtschaftlicher Beirat der Staatsbehörde besteht, pflegt der Einfluß desselben auf Fragen von technischem und wissenschaftlichem ¶
mehr
Charakter beschränkt zu sein. Die politischen Interessen der Landwirtschaft werden namentlich von dem seit 1868 bestehenden Kongreß norddeutscher, später deutscher Landwirte wahrgenommen. Dieser sowie der Landwirtschaftsrat beruhen auf freier Vereinigung. Auch hat man in neuerer Zeit besondere Bauernvereine (s. d.) organisiert. Die Interessen des Handels und der Großindustrie werden durch freie kaufmännische Vereine, durch staatlich organisierte Handelskammern und durch kaufmännische Korporationen wahrgenommen.
Die letztern haben die Rechte juristischer Personen, welche den Handelskammern abgehen, aber nicht das Recht, zwangsweise von den Berufsgenossen Steuern einzufordern welches die Gewerbe- und Handelskammern charakterisiert. Aus diesen verschiedenen Vertretungen heraus ist der deutsche Handelstag als eine freie Vereinigung erwachsen. Einzelne Industriezweige haben Vereinigungen gegründet, welche eigne Preßorgane unterhalten und zuweilen über große Geldmittel verfügen, so die Zucker-, Spiritus-, Eisenindustrie.
Ein Zentralverband deutscher Industriellen mit schutzzöllnerischen Tendenzen ist seit 1876 in Thätigkeit. Für das Kleingewerbe bestehen besondere Gewerbekammern in Bremen, Hamburg, [* 10] Leipzig, [* 11] Lübeck. [* 12] In Bayern, [* 13] Württemberg [* 14] und dem größten Teil von Sachsen [* 15] bilden die Gewerbekammern einen Teil der Handels- und Gewerbekammern. Dem Innungswesen hat man in letzter Zeit wieder größere Aufmerksamkeit zugewendet, wenn auch die Bestrebungen, förmliche Zwangsinnungen herzustellen, lebhaft bekämpft werden (s. Innungen).
Die Gewerkvereine und die Fachvereine sind die Interessenvertretungen des Arbeiterstandes; sie stehen lediglich auf dem allgemeinen Boden des Vereinsrechts und haben keine Art von Vorzug. Der Wunsch nach Arbeiterkammern, die analog wie die Handels- oder Gewerbekammern organisiert werden sollen, ist vielfach laut geworden. Eine Interessenvertretung ist auch der preußische Volkswirtschaftsrat (s. d.).
Vgl. v. Kaufmann, Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen in den Staaten Europas (Berl. 1879).