Titel
Inquisitio
nsprozeß,
im Gegensatz zum Anklageprozeß (s. Anklage) diejenige Gestaltung des Strafverfahrens, bei welcher der Richter, Inquirent, in Vertretung der verletzten Rechtsordnung, ohne erst einen privaten Strafantrag abzuwarten, die Spuren und Beweise eines Verbrechens selbst ermittelt, sowie von dem nicht als Partei, sondern wesentlich als Objekt der Untersuchung in Betracht kommenden Verdächtigen ein Geständnis zu erlangen sucht, zugleich aber auch von Amts wegen dasjenige erforscht, was zur Entlastung oder Entschuldigung gereichen kann.
Der I. ist seit dem Mittelalter unter dem hauptsachlichen Einflüsse des kanonischen Rechts und der Praxis in Deutschland [* 2] allmählich an die Stelle des allerdings mannigfacher Reformen bedürftigen alten Anklageprozesses getreten und hat sich in seiner Fortbildung durch die Reichs- und Landesgesetzgebung, wenn auch nicht überall in folgerichtiger Durchführung, in Deutschland und Österreich [* 3] erhalten, bis die besonders 1848 hervortretende Reformbewegung ihn allmählich in den deutschen Einzelstaaten verdrängte.
Ihren Abschluß fand diese Bewegung in der ganz auf dem Anklageprincip ruhenden Österr. Strafprozeßordnung von 1873 und der wesentlich demselben Princip folgenden Deutschen Strafprozeßordnung von 1877. Der deshalb nur noch historisch interessierende I. zerfällt in folgende Hauptabschnitte:
1) Die allgemeine Feststellung des Thatbestandes eines Verbrechens ohne Rücksicht auf einen bestimmten Thäter und die Verfolgung aller Spuren, welche zur Entdeckung des Urhebers führen (Generalinquisition).
2) Die Sammlung der Verdachtsgründe gegen bestimmte Verdächtige, die Vernehmung der letztern über ihr Thun und Lassen, insofern dasselbe mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden kann, und die Bestrebung, ein Geständnis von denselben zu erlangen, wozu geeignete Vorhalte, Konfrontationen u. s. w. dienen; nächstdem die vollständige Aufnahme aller andern Beweise, namentlich in der Richtung, um ein vorliegendes Geständnis auf dessen Glaubhaftigkeit zu prüfen.
Das ganze Verfahren in diesem Abschnitte wird summarische Untersuchung, von einigen «minder feierliche Specialinquisition» genannt. Ergiebt sich kein voller Beweis der Schuld ungeachtet starker Verdachtsgründe, so ergeht ein «von der Instanz entbindendes» Urteil (absolutio ab instantia, s. Freisprechung), welches den Angeschuldigten auf so lange befreit, als nicht neue Umstände in betreff der vorliegenden verbrecherischen That sich gegen ihn ergeben; bisweilen wird auch auf Reinigungseid erkannt.
Ist aber der Beweis der Schuld nicht bis zu hoher Wahrscheinlichkeit gebracht oder ist die Nichtschuld als Gewißheit gestellt, so erfolgt ein völlig lossprechendes Erkenntnis. Bei Geständnis oder Überführung wird bei geringern Verbrechen, auf Verlangen des Inkulpaten nach vorgängiger Verteidigung, sofort ein Straferkenntnis gefällt. Liegt dagegen ein Verbrechen vor, welches wenigstens schwere Leibesstrafen nach sich zieht, und ist der Angeschuldigte entweder geständig oder doch halber Beweis gegen ihn vorhanden, so geht das Verfahren 3) in den eigentlichen feierlichen Kriminalprozeß oder die Specialinquisition über, und es tritt in der Regel nach vorgängigem Erkenntnis das artikulierte Verhör, eine Vernehmung des Angeschuldigten, der jetzt Inquisit heißt, über die in Artikel gebrachten Hauptpunkte der Anschuldigung vor gehörig besetztem Kriminalgericht ein. Diese Specialinquisition zieht eine Ehrenschmälerung für den durch sie Betroffenen nach sich; daher vorherige Verteidigung zu ihrer Abwendung gestattet zu werden pflegt. Hierauf folgt Verteidigung und Enderkenntnis. (S. auch Strafprozeß.) -
Vgl. Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd. 1 (Lpz. 1883).