Indische
Philosophie. Die Philosophie hat sich in Indien im engsten Anschluß an die Religion und ohne nachweisbare Beeinflussung von außen entwickelt. Ihre Anfänge lassen sich bis in das Zeitalter der vedischen Hymnendichtung znrückverfolgen, wo bereits die Fragen nach dem Wesen der Gottheit, nach dem Ursprung der Welt, nach dem Seienden und Nichtseienden u. dgl. aufgeworfen werden. Auch die Brahmanas beschäftigten sich gelegentlich mit Betrachtungen dieser Art; einen wirklich philos.
Charakter jedoch tragen erst einzelne Teile der Upanischaden, in denen ein spiritueller Pantheismus und bereits die vollständige Weseneinheit der Einzelseele (ātman) mit dem Brahman, der Weltseele, dem Grunde alles Seins, gelehrt wird. Aus diesen Anfängen entwickelten sich allmählich die sechs brahmanischen Systeme, darçana, d. h. Anschauungsweisen genannt, wie wir annehmen dürfen, noch in vorchristl. Zeit. Die Darstellung dieser Systeme in Lehrbüchern aber fand jedenfalls nicht vor dem 4. Jahrh. n. Chr. statt und hat sich sicher über einen längern Zeitraum verteilt. Wahrscheinlich sind die sechs Systeme in folgender Reihenfolge aufgetreten: Mīmāṁsā (dem Mythus nach begründet von Dschaimini), Vedānta (von Vjāsa oder Bādarājaṇa), Sāṁkhya (Samthja, von Kapila), Yoga (Joga, von Patandschali), Vaiçeshika (Kaṇāda), Nyāya (Njaja, von Gotama oder Akschapāda).
Diese Systeme gelten für orthodox (āstika) aus dem äußerlichen Grunde, weil sie die Autorität des Veda und die brahmanische Ordnung anerkennen; in der That aber zeichnen sie sich durch eine Freiheit und Kühnheit der Gedanken aus, die seltsam mit der religiösen Überlieferung kontrastiert; ein Beweis dafür, daß man in Indien alles lehren durfte, ohne seine sociale Stellung zu gefährden, solange man nur die Prärogative der Brahmanen und die Heiligkeit des Veda nicht direkt in Frage stellte.
Alle sechs Systeme gehen von derselben Voraussetzung aus und haben ein gemeinsames Endziel. Sie sehen die Seelenwanderung als etwas Gegebenes an und wollen die Mittel zur Befreiung der Seele aus dem qualvollen Kreislauf [* 2] der Existenzen (saṁsāra) lehren, der anfangslos ist und ewig währt, wofern nicht die Erlösung (mukti) durch die Philosophie erreicht wird. Ein System, das dieses Ziel nicht in Aussicht gestellt hätte, würde in Indien völlig unbeachtet geblieben sein. In der Art und Weise, wie die Erlösung gewonnen werden soll, und in der Auffassung des Zustandes der befreiten Seele weichen die Systeme wesentlich voneinander ab.
Schon frühzeitig hat es brahmanische Philosophen gegeben, denen keins der sechs Systeme genügte und die deshalb die von den verschiedenen Schulen vorgetragenen Lehren [* 3] auf besondere Weise kombinierten. Bemerkenswert ist in dieser eklektischen Richtung eine jüngere Upanischad, die Çvetāçvatara-Upanishad (von Max Müller in den «Sacred Books of the East», Bd. 15, Oxford [* 4] 1884, übersetzt), und in höherm Grade das in das Mahābhārata einverleibte philos. Lehrgedicht Bhagavad-Gītā (s. d.), welches die Vedānta-, Sāṁkhja- und Jogalehre zu vereinigen sucht.
Diesen sog. orthodoxen Systemen stehen die heterodoxen (nāstika) der Buddhisten, Dschaina und Tschārvāka gegenüber. (Die wichtigsten Werke über I. P., sowie die einzelnen Ausgaben der philos. Werke s. Indische Litteratur, S. 566 fg.)