Indische
Litteratur.
Die I. L. tritt uns in ihrem ältesten
Denkmal, dem Ṛgvēda (gewöhnlich
Rigveda genannt), bereits als ein völlig abgeschlossenes und national scharf ausgeprägtes Ganzes entgegen.
Über die Zeit
des Ṛgvēda läßt sich Bestimmtes nicht sagen. Er muß jahrhundertelang vor
Buddha, also mindestens um 1000
v. Chr., schon
Autorität gewesen sein, da die spekulative
Lehre
[* 2]
Buddhas die
Philosophie der
Brāhmaṇa voraussetzt, die
ihrerseits die Veden zur Grundlage haben. Auf
Grund astron. Angaben hat
Bal
¶
mehr
Gangadhar Tilak (A summary of the principal facts and arguments in the Orion, or researches into the antiquity of the Vedas, Poona 1892) wahrscheinlich gemacht, daß die Zeit von 4000 bis 2500 die der Entstehung der meisten Lieder des Ṛgvēda gewesen ist. Man ersieht aus dem Ṛgvēda, daß das ind. Volk, das damals vorzugsweise im westl. Indien, vor allem im Pandschab, saß, bereits auf einer sehr hohen Stufe der Kultur angelangt war. Es stand unter einer Anzahl von Königen, die offenbar eine kostspielige Hofhaltung in befestigten Städten hatten.
Den Fürsten und Reichen schmeichelten die Dichter, die dafür reichlich belohnt wurden, untereinander in heftiger Konkurrenz lebten und in öffentlichem Wettstreit sich den Rang abzulaufen suchten. Gold, [* 4] Kühe und Rosse werden leidenschaftlich verlangt; man frönte dem Würfelspiel, dem Trunke und dem Wettrennen; das Hetärentum war stark entwickelt und geschlechtliche Vergehen häufig. Der Ṛgvēda setzt bereits eine reich entwickelte, mannigfaltige Poesie voraus: Lieder auf Götter und Könige (gāthās), auf freigebige Fürsten und reiche Männer (nārāçaṃsī, danastuti), epische Erzählungen mit eingelegter Prosa (itihāsa), Genealogien der Götter und Menschen, eine reiche Göttersage, Lieder histor.
Inhalts, Rätselfragen und Rätselsprüche u. dgl. Man ersieht aus einzelnen Brāhmaṇas und Sūtras, daß bei bestimmten festlichen Gelegenheiten der König oder ein anderer Held der Vorzeit von Lautenspielern besungen wurde, und viele dieser Lieder sind mit verhältnismäßig geringer Umänderung bis in das klassische Epos, das Mahābhārata, hinübergenommen worden und werden schon bei ihrem ersten Erscheinen als alte versus memoriales citiert. In seiner jetzigen Gestalt enthält der Ṛgvēda, vorwiegend Lieder religiösen Inhalts, die Dichtern ganz verschiedener Generationen und sehr ungleichen Talentes angehören.
Eine Sammlung von Liedern, wie sie der Ṛgvēda ist, nennt man im Sanskrit Saṃhitā (Sammlung), und es ist üblich, die älteste I. L. in drei Perioden zu teilen, in Saṃhitā-, Brāhmaṇa- und Sūtraperiode. Der ersten teilt man die vier Veden zu, den Ṛgvēda, Sāmavēda, Yajurvēda (Jadschurveda) und Atharvavēda, der zweiten die dogmatisch-spekulativen Traktate, die Brāhmaṇa, der dritten die in kurzen Sätzen abgefaßten Lehrbücher, die Sūtra. Jeder Vēda wurde in einer Anzahl von Schulen studiert, die in ihren Auffassungen oft sehr erheblich voneinander abweichen und deren Anschauungen uns die Brāhmaṇa samt den Āraṇyaka und Upanishad und die Sūtra geben.
Die ganze Einteilung ist jedoch nur ein Notbehelf, weil es an chronolog. Handhaben fehlt. Schon innerhalb der Saṃhitās bestehen große zeitliche Schwankungen. So tragen im allgemeinen die den Jadschurveden eigentümlichen Strophen (ṛcas) ein jüngeres Gepräge, die für sie angegebenen Verfasser jüngere Namen, als es im Ṛgvēda der Fall ist. Aber daneben erscheinen auch recht altertümliche Verse mit Verfassernamen, die auch dem Ṛgvēda angehören. Der Inhalt des Atharvavēda, den man für die jüngste Samhitā hält, ist uralt und erklärt die sprachliche Verschiedenheit vollkommen.
Viele Lieder des Ṛgvēda reichen ohne Zweifel in die Zeit hinab, wo man sich bereits mit Exegese der ältern beschäftigte, und viele Upanishads gehen bis auf unser Jahrhundert zurück. Zu derselben Zeit, wo die Hymnen des Ṛgvēda entstanden, wurde gewiß auch die weltliche Dichtung geübt, wie die wenigen erhaltenen Proben, unter ihnen das herrliche Loblied auf König Parikshit im Atharvavēda, zeigen, und stets bildeten bestimmte Fürstenhöfe das Centrum der litterar. und wissenschaftlichen Bestrebungen. Auch von andern Kshatriyas wird berichtet, daß sie den Brahmanen an Kenntnissen überlegen waren, und ebenso nahmen von frühester Zeit an Frauen an der Dichtkunst und den Disputationen teil.
Die wissenschaftliche Litteratur
der klassischen Zeit erwuchs unmittelbar aus der vedischen. Von früher
Zeit an wurde die grammatische Forschung gepflegt. Als älteste Werke der Indischen Grammatik hat man die sog. Prātiçākhya
anzusehen, Lehrbücher der Phonetik, deren zu jedem Vēda eines gehört. Das Ṛkprātiçākhya ist hg. von Regnier (3 Bde.,
Par. 1857-59) und von Max Müller mit deutscher Übersetzung (Lpz. 1869); das zum Sāmavēda gehörige Ṛktantravyākaraṇa
von Burnell (Mangalur 1879), das Vājasanēyiprātiçākhya von Albr. Weber («Ind. Studien», Bd. 4, Berl. 1858),
das Tāittirīyaprātiçākhya von Whitney (New-Haven 1871), das Atharvavēdaprātiçākhya ebenfalls von Whitney (ebd. 1862).
Die Prātiçākhya umfassen nur einen einzelnen Teil der Grammatik; noch enger ist das Gebiet der Çikshās,
deren Hauptzweck ist, die Regeln für die richtige Recitation der Veden zu geben. Es sind meist junge Werke, von denen man
schon 30 dem Namen nach kennt, eine Anzahl vollständig.
Die Etymologie behandelte Jāska im Nirukta (hg. von Roth, Gött. 1852; und in der «Bibliotheca Indica» zugleich mit den Kommentaren des Dēvarādscha und Durga, 4 Bde., Kalkutta [* 5] 1882-91), einem Kommentar zu einem Teile eines gleichnamigen ältern Werkes. Aus Jāska ersieht man, daß sich schon frühzeitig mehrere Richtungen schroff gegenüberstanden und daß es eine große Zahl grammatischer Schulen gab. Den Gipfelpunkt erreichte das grammatische Studium in dem Werke des Pāṇini, dessen Zeit allerdings noch gar nicht bestimmt ist, an das sich die Vārttika des Kātjājana oder Vararuci und der große Kommentar des Patandschali, das Mahābhāshyam oder Vyākarana-Mahābhāshyam (hg. von Kielhorn, 4 Bde., Bombay [* 6] 1880-85; Bd. 1 in 2. Aufl., ebd. 1892), sowie die später zu erwähnende Kāçikā anschließen.
Unbestimmt ist auch die Zeit des Bhaṭṭōdschidīkshita, des Verfassers der Siddhāntakāumudī (hg. zuletzt Bombay 1888) und des Varadarādscha, des Verfassers der Laghukāumudī (hg. von Ballantyne, 2. Aufl., Benares 1867 u. ö. in Indien). Einer andern Richtung als Pāṇini, der von Burnell (On the Aindra School of Sanskrit Grammarians, Mangalur 1875) Schule der Aindragrammatiker genannten, gehört an das Kātantram (hg. von Eggeling, Kalkutta 1874-78; unvollendet), ins 13. Jahrh. gehört Bōpadēvas Mugdhabōdha. Außerdem giebt es noch eine große Zahl von Grammatiken und Werken grammatischer Richtung, die sog. Dhātupāṭha, Gaṇapāṭha u. s. w.
Im Anschluß an die Upanishads entwickelte sich die ind. Philosophie, von der sechs Systeme als orthodox gelten (s. Indische Philosophie) und aus den Dharmasūtra die Dharmaçāstra, ursprünglich aus Prosa und Versen gemischt, dann rein in Versen geschrieben und als solche eigentlich Smṛti zu nennen. Die erste Stelle nimmt ein das Dharmaçāstra des Manu, nächst ihm das des Jadschnavalkya. Das des Nārada (die Nāradasmṛti) hat ¶
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Jolly herausgegeben (Kalkutta 1885), die Vishṇusmṛti derselbe (ebd. 1884). 28 verschiedene Werke dieser Art sind vereinigt in dem Dharmaçāstrasaṃgraha (Bombay 1883). Außerdem giebt es eine große Zahl von Werken über verschiedene Teile des Rechts.
Vgl. Jolly, Outlines of an history of the Hindu law of partition, inheritance and adoption (Kalkutta 1885);
West und Bühler, A digest of Hindu law (Bombay 1867-69; 3. Aufl. 1884).
In der Rhetorik ist das älteste Werk das Bhāratīyanāṭyaçāstra, das an den Anfang der klassischen Zeit gehören dürfte.
Eine Ausgabe in der Kāvyamālā ist fast vollendet. Andere kommen unten zur Sprache,
[* 8] ebenso wie die wichtigsten mathem.
und astron. Werke, da deren Zeit feststeht. Auch über Medizin besitzt man viele Werke, worunter das berühmteste das Āyurvēdaçāstra
des Suçruta ist, danach die Saṃhitā des Tscharaka (hg. Kalkutta 1877 u. sonst). (Vgl. Wise, Commentary on the Hindu system
of medicine, 2. Aufl., Lond. 1860.) Aus dem Gebiet der Tierarzneikunde sind uns bekannt das Açvavāidyaka
des Dschajadatta und das Açvacikitsita des Nakula, beide über Roßheilkunde (hg. in der «Bibliotheca
Indica», Kalkutta 1887). Von der Litteratur
über Musik ist noch wenig bekannt.
Vgl. Tagore, Hindu music from various authors (Kalkutta 1875);
Grosset, Contribution à l’étude de la musique hindoue (ohne Ort und Jahr).
Die älteste Form der epischen Erzählung war eine Mischung von gebundener Rede und Prosa. So kann man es noch an den buddhistischen Jātaka beobachten, und eben darauf weisen die epischen Lieder des Ṛgvēda hin. Fixiert waren nur die Verse, während der verbindende Prosatext von den Rhapsoden jedesmal frei hinzugefügt wurde. Das Gleiche gilt von den Anfängen des Dramas, das eine durchaus nationale Schöpfung der Inder ist, völlig unberührt von jedem fremden Einfluß.
Der Ṛgvēda enthält bereits eine Anzahl dramatisch gehaltener Lieder; im Epos treten die handelnden Personen ganz wie bei Homer immer selbst redend auf und Gesang, Instrumentalmusik und Tanz waren von ältester Zeit an beliebt. Zwischen die Gesänge und Tänze wurde anfänglich ein improvisierter Dialog eingeschoben, eine Stufe der Entwicklung, auf der die sog. yātras, die Volksschauspiele in Bengalen, heute noch stehen. Hier wird in Bühnenanweisungen nur der Verlauf der Handlung angegeben, die nähere Ausführung bleibt dem Schauspieler selbst überlassen.
Das gleiche Gepräge zeigen Stücke aus Nepal und teilweise das Drama Mahānāṭaka oder Hanumannaṭaka, das trotz starker Überarbeitung für die Geschichte des ind. Dramas von größter Wichtigkeit ist. Bis in die späteste Zeit hinein findet man Stücke, in denen nur ein Schauspieler auftritt und die lediglich eine Art Recitation sind. Das klassische Drama hat die Erinnerung an seinen Ursprung noch treu bewahrt. Es wechselt auch hier Prosa mit gebundener Rede ab; Frauen und Personen niedriger Herkunft sprechen Prākrit.
Sehr einfach war die Technik des ind. Dramas. Das Schauspielhaus wurde aus Lehm und Holz
[* 9] errichtet, Säulen
[* 10] und bemalte
Wände machten die ganze Dekoration aus; alles übrige drückte der Schauspieler durch bestimmte Bewegungen des Körpers, Stellungen
der Hände und durch Gegenstände aus, die er in die Hand
[* 11] nahm. Der Phantasie des Zuschauers blieb das meiste überlassen. Leider
sind ältere Dramen gar nicht erhalten und auch von der großen Masse
der übrigen Litteratur
, abgesehen
von der erwähnten, der in Pali geschriebenen Litteratur
der Buddhisten und der in Prākrit geschriebenen Litteratur der
Dschains, sind bis zum 6. Jahrh. n. Chr. Einzelwerke
fast gar nicht erhalten. Der Hauptgrund liegt jedenfalls darin, daß alles was an Sage und Märchen, an epischer Erzählung
und Götterlegende in Indien umlief, in das große Nationalepos, das Mahābhārata und Purāṇa, aufgenommen
und dort überarbeitet wurde. Das zweite Nationalepos, das Rāmāyaṇa, ist ein Kunstgedicht und gehört schon an den Anfang
der klassischen Zeit selbst.
Diese klassische Zeit pflegte man erst mit dem 6. Jahrh. n. Chr. beginnen zu lassen und Max Müller («Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung», übersetzt von C. Cappeller, Lpz. 1884, S. 245 fg.) wollte ein litterar. Interregnum annehmen, das vom 1. Jahrh. v. Chr. bis wenigstens zum 3. Jahrh. n. Chr. gedauert habe. Die indoskytischen Könige, die seit dem 1. Jahrh. v. Chr. erobernd in Indien vordrangen, aber nur einen kleinen Teil, vorwiegend den Westen, dauernd beherrschten, haben jedoch nicht störend in die Entwicklung eingegriffen, vielmehr sich ihrerseits dem Einflusse der ind. Kultur nicht entziehen können.
Das beweist namentlich Kanishka, der mächtigste dieser Fürsten, der sich 78 n. Chr.
zum Könige krönen ließ und von diesem Jahre seine Ära datierte, die noch heute in Indien eine der beiden
Hauptären ist, nach denen man rechnet. Er war ein großer Gönner des Buddhismus und die ind. Tradition versetzt glaubwürdig
an seinen Hof den
[* 12] Açvaghosha, den Dichter des Buddhacarita oder Buddhacaritakāvya, eines Kunstgedichtes, das nicht vollständig
erhalten und von dem nepalesischen Pandit Amṛtānanda 1830 ergänzt worden ist (hg. von Cowell in den
«Anecdota Oxoniensia», Oxford
[* 13] 1893). Dieses Gedicht ist 420 n. Chr. bereits
ins Chinesische übersetzt worden (ins Englische
[* 14] übertragen von S. Beal, «Sacred Books of the East», Bd.
19, Oxford 1883), im 7. oder 8. Jahrh. ins Tibetanische, und trägt bereits völlig den Charakter
der spätern Kunstgedichte, der sog. mahākāvya (s.
S. 568 a.). Açvaghosha ist bis jetzt der älteste bekannte Dichter, der in der Art
der klassischen Zeit dichtete und dieser «Ennius der klassischen Zeit der Sanskrit-Poesie»
beweist, daß diese Litteratur
viel älter ist als man bisher annahm.
Das Gleiche ergiebt sich aus den Inschriften. Man ersieht aus ihnen, daß schon im 2. Jahrh. n. Chr. die Poesie eifrig gepflegt wurde und die Inschriften der Könige und Satrapen der mächtigen Guptadynastie (hg. von Fleet, «Corpus inscriptionum indicarum», Bd. 3, Kalkutta 1888) beweisen, daß im 4. Jahrh. n. Chr. die Poesie unter genau denselben Bedingungen blühte wie in der vedischen Zeit. Auch damals suchten die Dichter die Nähe der Fürsten, schmeichelten ihnen in übertriebener Weise und erlangten an den Höfen Ehre und Gewinn. Die Guptainschriften unterscheiden sich in Sprache und Form durchaus nicht von den Dichtungen des 6. Jahrh., das den Höhepunkt der klassischen Zeit darstellt. (Vgl. Bühler, Die ind. Inschriften und das Alter der ind. Kunstpoesie, Wien [* 15] 1890, in den «Sitzungsberichten» der Wiener Akademie, Bd. 72.)
Ein Versuch, die I. L. chronologisch anzuordnen, muß sich anlehnen an die Geschichte der ind. Könige. Unter ihnen ragt hervor Vikramāditja von ¶