Improvisation
(franz.), im allgemeinen die Kunst, etwas ohne alle Vorbereitung aus dem Stegreif zu verrichten. Doch bezieht man die I. bloß auf die ästhetische Kunst und zwar erst in der neuern Zeit in ausgedehnterm Umfang. So war Reynolds der erste, welcher diesen Ausdruck auf die Malerei übertrug und darunter schnell entworfene Gemälde verstand. In der Musik ist I. die Kunst, eine Komposition ohne Vorbereitung, ohne vorausgängige schriftliche Aufzeichnung, direkt vom Instrument zu schaffen. Die meisten großen Meister der Tonkunst werden auch als Improvisatoren auf dem Klavier oder der Orgel gerühmt. Man unterscheidet I. und freie Phantasie, indem man bei ersterer ein strenges Binden an eine Form mit versteht. Bei der dramatischen Rollendarstellung begreift man unter I. entweder die unvorbereitete Ausführung einer Rolle überhaupt, oder die Ausführung derselben nach dem Hauptschema oder nach der Andeutung allgemeiner Umrisse. Am gewöhnlichsten jedoch meint man damit die Fertigkeit, einen Gedanken oder ein Gefühl des Augenblicks sofort in dichterische Form zu bringen. Man hat zweierlei Improvisatoren zu unterscheiden: solche, die aus eignem innern Drang im gegebenen Augenblick, also nur durch die Gelegenheit äußerlich angeregt, ihre Begeisterung in dichterischer Fassung zu äußern vermögen, und solche, welche die I. zu einem öffentlichen Erwerbszweig machen. Für beide ist die I. ein Geschenk der Natur; sie erfordert Reichtum der Phantasie, ein gutes Gedächtnis, Leichtigkeit der Auffassung und schnelle Ideenverknüpfung. Das Einheitliche des Schaffens und Preisgebens ist das Wesentliche der I. Es gibt wohl Dichter, welchen ein gutes Gedächtnis gestattet, bei irgend welchen Gelegenheiten sich ein Gedicht im Kopfe fertig zu machen und vorzutragen; das ist jedoch nicht improvisiert, sondern die gewöhnliche, nur raschere, der Niederschrift entbehrende poetische Produktion; der Improvisator läßt seine Dichtung vor unsern Augen und Ohren entstehen, er denkt gleich in Rhythmus und Reim, und das Publikum lebt sein Dichten mit. Für den öffentlichen Improvisator aber gilt vor allem Goethes Wort, daß der Dichter nicht »auf Stimmung warten« dürfe, sondern »die Poesie kommandieren« müsse. Es gehört ungewöhnliche Kraft, Gegenwart und Unerschrockenheit des Geistes zur öffentlichen I., deshalb ist sie selten und wird mit Recht bewundert.
Man findet Improvisatoren am häufigsten unter phantasiereichen Völkern, namentlich unter den Bewohnern südlicher Himmelsstriche, aber auch bei noch ganz ungebildeten Völkerstämmen. Bei den Römern zeichnete sich, nach Ciceros Mitteilung, der Dichter Archias durch Leistungen dieser Art aus. In der neuern Zeit ist die I. zuerst in Spanien und Italien aufgeblüht; als die ersten Improvisatoren Italiens werden Petrarca und Lorenzo de' Medici genannt. Bei dem Wiederaufblühen der Wissenschaften nahm die Zahl der Improvisatoren bedeutend zu. Sie dichteten in der Gelehrtensprache, im Latein, bis die italienische Sprache, zur Schriftsprache erhoben, auch dem Improvisator sich durch ihre Harmonie und Biegsamkeit empfahl. Italienische Fürsten, insbesondere die Höfe zu Neapel, Mailand, Ferrara, Mantua, zogen oft zahlreiche Improvisatoren an sich; so Papst Leo X., der Mediceer, unter welchem vor andern Andrea Marone (gest. 1527) und der vom Papst zum archipoeta (»Erzpoet«) ernannte Hofnarr Querno glänzten, welch letzterer für gelungene Improvisationen aus des Papstes eignem Becher Wein zu trinken bekam. Die übrigen bedeutendsten italienischen Improvisatoren sind folgende: Niccolò Leoniceno von Vicenza (1428-1524), Serafino von Aquila (1466-1500); beide wurden bei weitem überflügelt von Bernardo Accolti von Arezzo, welcher Aretinos Zeitgenosse war und vor 1534 lebte. Sein ebenso talentvoller Rival war Christofero von Florenz. Gegen das Ende des 16. Jahrh. that sich vor allen Silvio Antoniani (vorzugsweise poetino genannt) hervor. Ein berühmter Improvisator der spätern Zeit war Bernardino Perfetti (geb. 1680 zu Siena, gest. 1747 in Rom), der sich zuerst in allen in Italien üblichen Formen versuchte und 1725 vom Papst Benedikt XIII. auf dem Kapitol feierlich gekrönt wurde. Auch der Dramatiker Pietro Metastasio versuchte sich nicht ohne Glück in der I. Sogar Frauen traten als Improvisatricen auf, so namentlich Corilla Olimpica (eigentlich Maddalena Morelli Fernandez), welche gleichfalls 1776 auf dem Kapitol gekrönt ward; die Dame Mazzei, die sich sogar in der Tragödie versuchte; Fortunata Sulgher-Fantastasi aus Livorno, Teresa Bandettini, Rosa Taddei, Cäcilia Micheli von Venedig, Barbara von Correggio und Giovanna de' Samti. Als Improvisatoren neuerer Zeit glänzten Ludovico Serio und Ludovico Rossi, welche beide in den blutigen Reaktionsszenen von 1799 zu Neapel umkamen (der letztere improvisierte noch kurz vor Vollstreckung des Todesurteils); ferner in unserm Jahrhundert der heitere Francesco Gianni und mit noch größerm Erfolg Tommaso Syrici aus Arezzo, welcher 1825 zu Paris die Tragödie »Missolunghi«, zu Turin »Hektar« und zu Florenz den »Tod der Maria Stuart«, also ganze Tragödien in Versen, improvisierte. Auch die Voceratricen Corsicas und Sardiniens, Frauen, welche die üblichen Totenklagen improvisieren,
mehr
gehören hierher. In Frankreich gab seit 1825 Eugène de Pradel improvisatorische Abendunterhaltungen und erntete vielen Beifall; ebenso in Holland de Clerq, der meist didaktische Gedichte vortrug, jedoch nie öffentlich auftrat. In Deutschland ist die Kunst der I. älter, als man gewöhnlich annimmt; schon die Minnesänger und Troubadoure, zum Teil selbst die Meistersänger, waren in der Kunst der I. wohl geübt. Aus neuerer Zeit sind die Dichter Burmann, ein Zeitgenosse der Karschin, und Daniel Schubart, ebenso Hoffmann von Fallersleben als Meister der poetischen Stegreifsdichtung hervorzuheben, wenn sie auch nicht als öffentliche Improvisatoren auftraten. Nicht unerwähnt dürfen wir auch unsre Alpenbevölkerung lassen, soweit sie mit dem Gesang ihrer Vierzeiler (Schnaderhüpfel etc.) die freie Dichtung aus dem Stegreif verbindet, sei es zu Liebes-, sei es zu Lust- und Streitgesängen. In dieser I. war Franz v. Kobell ein Meister. Nach dem Muster der Spanier und Italiener war der erste deutsche Improvisator O. L. B. Wolff (s. d.), der dann in M. Langenschwarz (geb. 1806) einen glücklichen Nachahmer fand. Letzterer versuchte sogar eine wissenschaftliche Theorie der I. in dem Buch »Die Arithmetik der Sprache, oder der Redner durch sich selbst« (Leipz. 1834) zu geben. Außer diesen beiden traten in Deutschland auf: K. Richter, Karoline Leonhardt-Lyser, Ed. Beermann, Eduard Volkert, dessen schönes Talent von Armut und Sorge erdrückt wurde (gest. 1865 in Schwabach), und als der jüngste bedeutende Improvisator Wilhelm Herrmann aus Braunschweig, der, wie Wolff, im lyrischen, epischen und dramatischen Fach, im Tragischen wie im Komischen Vortreffliches leistet. Von den übrigen Ländern der gebildeten Welt sind keine Improvisatoren bekannt geworden.