Hysterie
(griech., v. hystera, »Gebärmutter«, [* 3] Mutterweh),
eine
Seelenstörung, die, äußerst wechselvoll in ihren
Erscheinungen,
dadurch charakterisiert ist, daß eine krankhafte
Erregbarkeit vom »himmelhoch Jauchzen zum
Tode betrübt« durch geringe äußere
Anlässe hervorgerufen wird, und daß die verschiedensten
Stimmungen in raschem, unmotiviertem
Wechsel
einander ablösen. Die
Krankheit hat sehr viel Dunkles; am wahrscheinlichsten ist die
Annahme, daß der eine nicht näher zu
bezeichnende Ernährungsstörung des gesamten
Nervensystems, der zentralen wie der peripherischen Teile desselben, zu
Grunde
liege. Da die Hysterie
im strengern
Sinne nur beim weiblichen
Geschlecht und zwar vorzugsweise von der Zeit der
Pubertätsentwickelung an bis zum Erlöschen der Geschlechtsfunktionen beobachtet wird, und da in vielen
Fällen
Krankheiten
der
Geschlechtsorgane die Hysterie
begleiten, so hat sich die
Ansicht gebildet, daß die eine von den
Nerven
[* 4] der
Geschlechtsorgane
ausgehende
Störung des gesamten
Nervensystems sei.
Bei vielen
Fällen von Hysterie
trifft diese
Ansicht allerdings vollkommen zu. Dagegen wäre es verfehlt, wenn
man in allen
Fällen, wo keine nachweisbaren Erkrankungen, namentlich chronische
Entzündungen, der weiblichen Beckenorgane
vorliegen, die Hysterie
von widernatürlicher Aufregung und Befriedigung des
Geschlechtstriebs herleiten wollte. Das häufige Vorkommen
der Hysterie
bei kinderlosen
Frauen, jungen
Witwen und alten
Jungfern, zumal in den höhern Gesellschaftskreisen,
ist weit mehr von psychischen als von körperlichen Einflüssen herzuleiten.
Ähnliches gilt von dem häufigen
Fall, daß
Frauen hysterisch werden, welche an impotente
Männer verheiratet sind. Überhaupt
beruht die Hysterie
oft auf dem dunkeln
Gefühl und dem niederschlagenden
Bewußtsein eines verfehlten
Lebens,
wie es z. B. eintritt, wenn die
Ehe nicht den gemütlichen Anforderungen entspricht, zu welchen die
Frau berechtigt ist. Das
häufige Vorkommen der Hysterie
bei
Blutarmut und
Bleichsucht, ohne daß die bisher aufgezählten ursachlichen
Momente vorhanden sind,
ist ein
Beweis dafür, daß die Hysterie
auf abnorme
Ernährung des ganzen
Nervensystems zurückzuführen ist.
Es besteht bei den einzelnen Individuen eine sehr verschiedene
Disposition zur Hysterie;
ja, es scheint sogar, als
ob eine, sei es
angeborne, sei es erworbene,
Anlage zur Hysterie
bei der Entstehung dieser
Krankheit ebensosehr in die Wagschale fiele als die bisher
erwähnten ursachlichen Einflüsse.
Vor dem 12.-15. Jahr zeigen sich nur selten deutliche
Spuren der auch im
Alter wird die
Krankheit selten
beobachtet; wohl aber dauert die auch nach dem Erlöschen der Geschlechtsfunktionen in mäßigerm
Grad fort. Nicht selten
ist die
Anlage zur Hysterie
ganz unverkennbar eine angeborne, und vom allergrößten Einfluß auf dieselbe ist die Lebensweise
und die
Erziehung. Dadurch, daß man die
Kinder zum Fleiß und zur Selbstbeherrschung anleitet, daß man heranwachsende Mädchen
nicht den ganzen
Tag über stricken und nähen und ähnliche
Arbeiten verrichten läßt, bei denen sie ihren
Gedanken und Träumereien
ungestört nachhängen können, daß man sie ferner vor schlechter
Lektüre bewahrt,
durch welche sie
mit überspannten
Ideen vertraut gemacht werden: dadurch wird man sie am besten
vor der
Gefahr schützen, später hysterisch
zu werden.
Das Symptomenbild der Hysterie
ist dem größten
Wechsel unterworfen. Die häufigsten
Erscheinungen der Hysterie
, welche fast nie fehlen,
sind Sensibilitätsstörungen. Unter ihnen tritt namentlich die allgemein gesteigerte
Empfindlichkeit
hervor, welche
Laien gewöhnlich als
Nervenschwäche bezeichnen. Zuweilen äußert sich diese als ganz ungewöhnliche
Schärfe
der
Sinne, namentlich des
Geruchs und des
Geschmacks, welche auf
Menschen von niederer Bildungsstufe leicht den
Eindruck des Wunderbaren
macht und deshalb vielfach zu Betrügereien benutzt wird.
Häufiger gibt sie sich durch das Unbehagen zu erkennen, welches schon durch schwache Reizungen der Sinnesnerven bei ihnen hervorgebracht wird. Manche Hysterische dulden keine Blume im Zimmer, weil sie ihnen zu stark riecht; sie können das Tageslicht nicht ertragen und schließen daher die Läden der Fenster; sie verlangen, daß man sich nur leise flüsternd mit ihnen unterhalte, denn lautes Sprechen ist ihnen unerträglich, etc. Zu dieser übergroßen Empfindlichkeit gesellen sich oft sogen. Idiosynkrasien.
Gewisse
Reize nämlich, welche
Gesunden im höchsten
Grad widerwärtig sind, verursachen durch ihre
Qualität den
Hysterischen
ein
Gefühl von Behagen, und umgekehrt werden
Hysterische durch solche
Eindrücke schwer verletzt, welche
Gesunden angenehm sind.
Hysterische lieben z. B. den
Geruch verbrannter
Federn, nehmen
Asa foetida ohne Widerstreben zu sich, finden
aber den
Geruch des
Veilchens unausstehlich.
Ferner kommen bei der Hysterie
im Bereich der sensibeln
Nerven auch Zustände wirklich
krankhafter Erregung vor.
Hierher gehören die verschiedenen Neuralgien, der Gesichtsschmerz, die Migräne, die Ischias etc.; dann der heftige Schmerz, welcher an einer kleinen Stelle des Kopfes, gewöhnlich neben dem Scheitel, bei vielen Hysterischen vorkommt und unter dem Namen Clavus hystericus (der Nagel) bekannt ist; ferner der fast nie fehlende Rückenschmerz und endlich ein höchst eigentümliches Gelenkleiden (Arthropathia hysterica), welches in einer oft enormen Schmerzhaftigkeit des befallenen Gelenks besteht und wegen seiner Hartnäckigkeit leicht mit einer schweren Gelenkentzündung verwechselt werden kann.
Auch an den Sinnesnerven kommen krankhafte Erregungszustände vor: die Kranken klagen über einen bestimmten Geruch, einen bestimmten Geschmack, der sie nie verläßt, etc. Merkwürdigerweise kommt neben diesen Erscheinungen auch Anästhesie, also abgestumpfte Empfindlichkeit, an größern und kleinern Körperstellen vor. Indessen ist es sehr schwer, die Abstumpfung der Empfindlichkeit zu konstatieren, da viele Hysterische sich darauf kaprizieren, keine Schmerzempfindungen zu äußern, wenn man sie an bestimmten Stellen kneipt, brennt oder sticht.
Wichtige und häufige
Symptome der Hysterie
sind weiterhin gewisse krankhafte Schmerzempfindungen in den innern
Organen. Die
Hysterischen
haben von dem jeweiligen Zustand ihrer
Eingeweide
[* 5] die mannigfachsten und wunderbarsten
Empfindungen.
Fast
alle
Hysterischen klagen über
Herzklopfen, viele über lästiges
Pulsieren ihrer
Schlagadern, obschon
Herzschlag und
Puls sich
normal verhalten. Ebenso ist es mit dem Atmungsbedürfnis. Die Kranken klagen über heftige
Beklemmung, obschon nicht die
geringste
Störung auf der
Brust nachweisbar ist.
Fast alle
Hysterischen klagen, auch wenn ihre
Verdauung
ganz gut von statten geht, über
Druck und Völle in
¶
mehr
der Magengegend, über Magen- und Kolikschmerzen und geben die abenteuerlichsten Schilderungen ihrer Empfindungen im Bauch.
[* 7] Dagegen
sind abnorme Empfindungen der Geschlechtsteile seltener bei der als man erwarten möchte. Nicht minder zahlreich und mannigfach
sind die Motilitätsstörungen bei der Hysterie.
Am häufigsten stellen sie sich als hysterische Krämpfe dar. Das
Bewußtsein ist während dieser Krämpfe niemals aufgehoben, doch erinnern sich die Kranken nur summarisch und nicht der einzelnen
Vorgänge während des Anfalles.
Die Krämpfe erscheinen bald nur als vereinzelte Zuckungen, namentlich der Arme, bald erstrecken sie sich fast über den ganzen
Körper und bieten ganz das Bild der epileptischen Krämpfe dar. Auch starrkrampfähnliche Zustände kommen
bei Hysterie
vor, und Lach-, Wein- und Gähnkrämpfe sind dabei etwas ganz Gewöhnliches. Ferner gehören hierher der hysterische
Husten und die krampfhafte Zusammenziehung des Schlundes, welche bei den Kranken die Empfindung erweckt, als steige eine Kugel
von der Magengrube gegen die Kehle hinauf (globus hystericus). Neben den Krämpfen kommen hysterische Lähmungen
vor. Bald betreffen sie nur einen Arm, ein Bein, bald auch eine ganze Körperhälfte. Die hysterischen Lähmungen gehen oft schnell
vorüber, wechseln ihren Sitz etc. Sie sind offenbar zentralen Ursprungs; die gelähmten Muskeln
[* 8] reagieren prompt auf den
Reiz des elektrischen Stroms. - Derartige Krämpfe und Lähmungen nennt man, auch wenn sie bei jungen Männern
vorkommen, hysterische.
Auffallend ist an Hysterischen die ungleiche Blutverteilung im Körper: die meisten Kranken haben beständig kalte Hände und
Füße, über das Antlitz aber ergießt sich oft eine brennende, schnell vorübergehende Röte. Bei der Hysterie
kommt ferner eine
periodische Steigerung der Harnabsonderung vor, der Harn ist dann dünn und blaß. Die letztern Erscheinungen
sind Beweis dafür, daß auch die Gefäßnerven bei der Hysterie mit alteriert sind. Die eigentlichen Seelenstörungen sind ausgezeichnet
durch die lebhafte Empfindung, die durch kleine Anlässe sich zu exzentrischen Äußerungen der Freude oder des Schmerzes steigert,
und vor allem durch die Oberflächlichkeit aller Eindrücke, durch den raschen Wechsel der Stimmungen, der
Gelüste, der Einbildungen. Es besteht ein Drang, sich wichtig und interessant zu machen, von körperlichen Leiden
[* 9] übertriebene
Schilderungen zu entwerfen, Ärzte und Umgebung zu täuschen (Verschlucken von Nadeln,
[* 10] Stigmatisieren, Selbstverletzungen).
Ferner leidet die Treue bei Wiedergabe erlebter oder gehörter Ereignisse, wobei die erregbare Phantasie
und nicht selten Zwangsvorstellungen mitwirken, so daß die Kranken als Lügner erscheinen.
In schweren Fällen artet die Hysterie zu wirklicher Geisteskrankheit aus, die dann entweder ähnlich der Epilepsie mit Krämpfen oder vorwiegend mit religiösen Delirien, Visionen etc. verläuft, wie sie in Klöstern epidemisch beobachtet werden. Selten entstehen unheilbare Zustände von Verrücktheit (Hysteromanie, Hysteromelancholie). Verlauf und Dauer der Hysterie sind an keine bestimmte Regel gebunden, die Krankheit kann Jahrzehnte hindurch in wechselnder Stärke [* 11] bestehen; in den klimakterischen Jahren aber pflegt sie nachzulassen.
Die Hysterie ist heilbar, aber viele Fälle trotzen jeder Behandlung und werden kaum vorübergehend gebessert. Daß die Anlage zur Hysterie durch eine vernünftige Erziehung und Lebensweise fern gehalten werden kann, wurde bereits oben erwähnt. Ist die Krankheit aber ausgebrochen, so wird zunächst den etwanigen Veranlassungen der Hysterie nachzuforschen und auf Beseitigung derselben zu denken sein. Demnach werden Störungen an den Geschlechtsorganen örtlich zu behandeln, Blutarmut und Bleichsucht durch Eisen- und Chinapräparate zu bekämpfen, psychische Affekte schädlicher Art zu verhüten sein etc. In vielen Fällen ist eine durchgreifende Änderung der ganzen Lebensweise und der Ernährung gegen die Hysterie von Erfolg, und zwar eignen sich hierzu die Kaltwasserkuren, die Seebäder, die Brunnenkuren in Marienbad, Kissingen [* 12] u. dgl. Eine wichtige Rolle bei der Behandlung der Hysterie spielen die sogen. Nervina, Mittel, von welchen wir vermuten, daß sie auf die Ernährung und den Stoffwechsel, speziell des Nervensystems, einen Einfluß ausüben.
Die berühmtesten Nervenmittel dieser Art sind das Castoreum, der Baldrian (als Thee, Tinktur etc.), die Asa foetida. Das Bromkalium in großen Dosen, Bromäthyl-Einatmungen, Hyoscyamin und das Morphium sind bei Erregungszuständen im Klimakterium oft von vorzüglicher Wirkung. Von der allergrößten Bedeutung ist jedoch die psychische Behandlung der über welche sich keine allgemeinen Regeln aufstellen lassen. Über die Behandlung hysterischer Lähmungen vgl. Metalloskopie. Die Lähmungen werden auch durch innerliche Darreichung von Strychnin, die Krämpfe durch Krotonchloral gebessert.