Titel
Höhere
Lehranstalten.
Die Zahl der höhern Lehranstalten
in
Deutschland
[* 2] hat, wie der
Vergleich nachstehender Übersicht
(S. 421) mit der entsprechenden vom Jahre 1886 in
Band
[* 3] 8 dieses Werkes beweist, sich abermals vermehrt. Die Gesamtvermehrung
im
Deutschen
Reiche von 946 zu 983 beträgt 3,9 Proz. Die
Latein und
Griechisch treibenden Anstalten haben
sich von 446 (399 Gymnasien, 47 Progymnasien) auf 480 (423 Gymnasien, 57 Progymnasien) vermehrt oder um 7,6
Proz. Die
Latein treibenden Realanstalten sind von 243 (136 Realgymnasien, 107 Realprogymnasien) auf 238 (132 Realgymnasien, 106 Realprogymnasien)
gesunken, d. h. um 2,5 Proz.
Die lateinlosen Realanstalten sind von 170 (16
Oberrealschulen, 67
Realschulen, 87 höhere
Bürgerschulen) auf 177 (15
Oberrealschulen, 61
Realschulen, 101 höhere
Bürgerschulen) gestiegen oder um 4,1 Proz. Die
Vermehrung in
Preußen
[* 4] allein von 549 auf 570 höhere Lehranstalten
kommt der Gesamtvermehrung
mit 3,8 Proz. fast gleich. Sie verteilt sich aber
auf die drei
Gruppen ganz anders, die eigentlichen Gymnasialanstalten
(Latein und
Griechisch) erhoben sich von 292 (258 Gymnasien, 34 Progymnasien)
auf 312 (268 Gymnasien und 44 Progymnasien) oder um 6,9 Proz.; die
Latein treibenden Realanstalten stiegen von 173 (90
¶
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Übersicht der höhern Lehranstalten
im Deutschen Reich (Mai 1890).
Staaten | I Neunjähriger Lehrgang | II Siebenjähriger Lehrgang | III Sechsjähriger Lehrgang | IV Auf besondere Bedingungen | Zusammen | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Gymnasien a | Realgymnasien b | Oberrealschulen c | Progymnasien a | Realschulen b | Realprogymnasien | öffentliche Höhere Bürgerschulen | höhereAndre Anstalten |
Privatschulen c | |||
Ostpreußen | 16 | 5 | - | 2 | - | 2 | 1 | 2 | - | - | 28 |
Westpreußen | 13 | 4 | - | 4 | - | 4 | 1 | 1 | 1 | - | 28 |
Brandenburg | 38 | 15 | 2 | 4 | 1 | 10 | 3 | 1 | 3 | - | 77 |
Pommern | 19 | 4 | - | 2 | - | 3 | - | 2 | - | - | 30 |
Posen | 15 | 4 | - | 2 | - | - | - | 1 | 1 | - | 23 |
Schlesien | 37 | 9 | 2 | 2 | - | 3 | 5 | 2 | 4 | - | 64 |
Sachsen | 28 | 6 | 2 | 2 | 1 | 8 | 1 | - | - | - | 48 |
Schleswig-Holstein | 12 | 3 | 1 | 1 | 2 | 10 | - | 2 | - | - | 31 |
Hannover | 24 | 12 | - | 4 | - | 12 | 2 | 1 | 1 | - | 56 |
Westfalen | 21 | 11 | - | 2 | 1 | 5 | 2 | 2 | 1 | - | 45 |
Hessen-Nassau | 13 | 4 | 1 | 4 | 8 | 15 | 1 | 1 | 4 | - | 51 |
Rheinprovinz | 31 | 13 | 2 | 15 | 5 | 12 | 5 | 2 | 1 | 1 | 87 |
Hohenzollern | 1 | - | - | - | - | - | 1 | - | - | - | 2 |
Preußen: | 268 | 90 | 10 | 44 | 18 | 84 | 22 | 17 | 16 | 1 | 570 |
Bayern | 36 | 5 | - | - | - | - | 33 | 7 | 5 | - | 86 |
Sachsen | 17 | 10 | - | - | - | - | 21 | 5 | 7 | 1 | 61 |
Württemberg | 15 | 2 | 3 | 4 | 10 | 4 | - | 1 | 2 | - | 41 |
Baden | 14 | 2 | - | 2 | 5 | 2 | 9 | - | 2 | - | 36 |
Hessen | 7 | 4 | - | 2 | 13 | - | 2 | - | 2 | - | 30 |
Mecklenburg-Schwerin | 7 | 6 | - | - | 1 | 2 | 2 | - | - | - | 18 |
Sachsen, Großherzogt. | 3 | 2 | - | - | - | - | 2 | - | 2 | - | 9 |
Mecklenburg-Strelitz | 3 | - | - | - | 1 | - | 1 | - | - | - | 5 |
Oldenburg | 5 | - | 1 | - | 1 | 1 | - | 1 | - | - | 9 |
Braunschweig | 6 | 1 | 1 | - | - | 1 | 1 | 1 | 2 | - | 13 |
Sachsen-Meiningen | 2 | 2 | - | - | - | - | 1 | - | - | - | 5 |
Sachsen-Altenburg | 2 | - | - | - | - | 1 | - | - | 1 | - | 4 |
Sachsen-Koburg-Gotha | 2 | 1 | - | 1 | - | 2 | 1 | - | - | - | 7 |
Anhalt | 4 | 2 | - | - | - | 1 | - | - | - | - | 7 |
Schwarzb.-Sondersh. | 2 | - | - | - | 2 | - | - | - | - | - | 4 |
Schwarzb.-Rudolstadt | 1 | - | - | - | - | 2 | - | - | 1 | - | 4 |
Waldeck | 1 | - | - | - | - | 1 | - | - | - | - | 2 |
Reuß ältere Linie | 1 | - | - | - | - | 1 | - | - | - | - | 2 |
Reuß jüngere Linie | 2 | 1 | - | - | - | - | - | - | 1 | - | 4 |
Schaumburg-Lippe | 1 | - | - | - | - | 1 | - | - | - | - | 2 |
Lippe | 2 | - | - | - | - | 1 | - | - | - | - | 3 |
Lübeck | 1 | 1 | - | - | - | - | 1 | - | 1 | - | 4 |
Bremen | 2 | 2 | - | - | 2 | 1 | - | - | 1 | - | 8 |
Hamburg | 2 | 1 | - | - | - | 1 | 1 | - | 10 | - | 15 |
Elsaß-Lothringen | 17 | - | - | 4 | 8 | - | 4 | 1 | - | - | 34 |
Zusammen: | 423 | 132 | 15 | 57 | 61 | 106 | 101 | 33 | 53 | 2 | 983 |
Realgymnasien,
83 Realprogymnasien) auf 174 (90 Realgymnasien, 84 Realprogymnasien), hielten sich also auf
wesentlich gleicher Höhe. Die lateinlosen Realanstalten dagegen sanken von 52 (13 Oberrealschulen, 17 Realschulen, 22 höhere
Bürgerschulen) auf 50 (10 Oberrealschulen, 18 Realschulen, 22 höhere
Bürgerschulen), zeigen also eine Verminderung um 3,9
Proz. Wenn der preußische Minister v. Goßler in seiner großen Landtagsrede vom unter den Hauptpunkten
seines Programms für das höhere
Unterrichtswesen aufstellte: »Bevorzugung von lateinlosen
Schulen mit kürzerer Unterrichtsdauer, namentlich zu ungunsten der lateintreibenden, insbesondere Gymnasien, höhern
Anstalten«, so muß man angesichts der obigen Zahlen erkennen, daß die Entwickelung gerade nach der Seite hin stattgefunden
hat, die man schon jetzt als einseitig überwiegend an- sieht.
Zweifellos liegt darin der Beweis, daß der Ruf nach Reformen auf diesem Gebiet nicht ganz unberechtigt ist. Aber das heißt nicht, daß nun alle Anklagen gegen den bestehenden Zustand und gegen die einzelnen Schulformen berechtigt sind. Mit diesen Zahlen besteht ganz wohl die vom Minister v. Goßler wiederholt vertretene Ansicht, daß es nicht sowohl auf eine grundsätzliche Umgestaltung der einzelnen Anstalten als darauf ankomme, die Berechtigung der einzelnen Schulanstalten hinsichtlich des Heerdienstes in geeigneterer Weise zu verteilen und namentlich das Recht auf den Einjährig-Freiwilligendienst von dem Bestehen entweder der besonders dafür eingerichteten Prüfung vor der eigens bestellten Kommission oder der Abgangsprüfung an einer berechtigten, mindestens sechsstufigen höhern Lehranstalt (höhern Bürgerschule etc.) abhängen zu lassen.
Daß dies in Aussicht genommen, teilte der Minister v. Goßler im preußischen Abgeordnetenhaus andeutend mit und
verhieß gleichzeitig, daß eine größere Versammlung von Sachverständigen verschiedener Partei- und Lebensstellung zur gründlichen
Besprechung dieser Frage vor der endgültigen Entscheidung des Staatsministeriums berufen und gehört werden
sollte. Kurz zuvor hatte die schwebende Frage der praktischen Ausbildung der Lehrer an höhern Schulen ihren Abschluß
(s. Seminare für das höhere
Lehramt) gefunden, ohne daß dadurch die öffentliche Meinung von der Schulreform abgelenkt
wäre.
Verschärft ward die Un- geduld, mit der man den weitern Schritten des Ministers entgegen sah, besonders durch die Kunde, daß Kaiser Wilhelm II. selbst an dieser Frage lebhaften Anteil nähme. Schon im J. 1889 hatte der hohe Herr wiederholt bei Erwiderung von Ansprachen und ähnlichen Anlässen Gelegenheit genommen, die Wichtigkeit der Geschichte, namentlich der vaterländischen, für die Bildung der Jugend zu betonen und vor der einseitigen Pflege abstrakter Gelehrsamkeit in den Bildungsanstalten zu warnen; so besonders bei Empfang der Vertreter der Universität Göttingen [* 6] in Hannover [* 7] im September 1889. Schon vor der Rede des Ministers war erschienen die nachfolgende
Allerhöchste Kabinettsorder
an den Generalinspekteur des Militärerziehungs- und Bildungswesens.
Ich erachte es für notwendig, daß das Kadettenkorps auf der Grundlage, welche Se. Majestät der Kaiser und König Wilhelm I., Mein in Gott ruhender Herr Großvater, in nie rastender Fürsorge für die Wohlfahrt der Armee durch Einführung des Lehrplans der Realgymnasien ihm gegeben, nach folgenden Gesichtspunkten noch eine weitere Ausgestaltung und Vertiefung seiner Lehraufgabe erfahren soll: ¶
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1) Zweck und Ziel aller, namentlich aber der militärischen Erziehung, ist die auf gleichmäßigem Zusammenwirken der körperlichen, wissenschaftlichen und religiös-sittlichen Schulung und Zucht beruhende Bildung des Charakters. Keine Seite der Erziehung darf auf Kosten der andern bevorzugt werden. Der wissenschaftliche Lehrplan des Kadettenkorps stellt aber nach Meinen Wahrnehmungen gegenwärtig zu weitgehende Anforderungen an eine große Zahl von Zöglingen.
Die Lehraufgabe muß durch Ausscheidung jeder entbehrlichen Einzelheit, insbesondere durch gründliche Sichtung des Memorierstoffes durchweg vereinfacht werden, so daß auch minder beanlagte Schüler bei entsprechendem Fleiße dem Unterricht ohne Überanstrengung folgen und den gesamten Lehrgang in der vorgeschriebenen Zeit zurücklegen können. Was der Unterricht hierdurch an Ausdehnung [* 9] verliert, wird er an Gründlichkeit gewinnen. Nach diesem Gesichtspunkt werden die Lehrer in allen Fächern und auf allen Stufen ihre Methode fortan einzurichten haben.
2) Bei aller Vereinfachung muß der Unterricht hierdurch indessen noch mehr dahin nutzbar gemacht werden, daß die Kadetten nicht allein die für den militärischen Beruf unmittelbar erforderlichen Vorkenntnisse und Fertigkeiten gewinnen, sondern auch ein geistiges Rüstzeug erhalten, welches sie befähigt, selber dereinst in der Armee, der großen Schule der Nation, sittlich erziehend und belehrend zu wirken oder, falls sie später in einen andern als den militärischen Beruf übertreten, auch dort ihren Platz ausfüllen.
Im Religionsunterricht ist die ethische Seite desselben hervorzuheben und das Hauptgewicht darauf zu legen, daß die Zöglinge in Gottesfurcht und Glaubensfreudigkeit zur Strenge gegen sich, zur Duldsamkeit gegen andre erzogen und in der Überzeugung befestigt werden, daß die Bethätigung der Treue und Hingabe an Herrscher und Vaterland gleichwie die Erfüllung aller Pflichten auf göttlichen Geboten beruht.
Der Geschichtsunterricht muß mehr als bisher das Verständnis für die Gegenwart und insbesondere für die Stellung unsers Vaterlandes in derselben vorbereiten. Demzufolge wird die deutsche Geschichte, insbesondere die der neuern und neuesten Zeit, stärker zu betonen, die alte Geschichte und die des Mittelalters aber vornehmlich in dem Sinne zu lehren sein, daß der Schüler durch Beispiele auch aus jenen Epochen für Heldentum und historische Größe empfänglich gemacht wird sowie eine Anschauung von den Wurzeln und der Entwickelung unsrer Kultur gewinnt.
Die Erdkunde, [* 10] die politische wie die physikalische, hat, auf der untersten Stufe von der Heimat ausgehend, zunächst den geschichtlichen unterricht auf den verschiedenen Lehrstufen zu ergänzen und zu unterstützen. Das weitere Ziel des geographischen Unterrichts ist, daß der Schüler mit seinem Vaterland und dessen Eigenart aufs innigste vertraut wird, aber auch das Ausland verstehen und würdigen lernt.
Das Deutsche [* 11] wird Mittelpunkt des gesamten Unterrichts. Der Schüler ist in jedem Lehrgegenstand zum freien Gebrauch der Muttersprache anzuleiten. In den deutschen Lehrstunden selbst gleichwie im Litteraturunterricht ist bei Auswahl der Lesestücke, Vorträge und Aufsätze neben dem klassischen Altertum, seiner Sagen- und Kulturwelt, auch den germanischen Sagen sowie den vaterländischen Stoffen und Schriftwerken ganz besondere Berücksichtigung zuzuwenden, der Schüler aber auch mit dem geistigen Leben der andern wichtigen Kulturvölker der Gegenwart durch Einführung in einzelne Meisterwerke ihrer Litteratur bekannt zu machen.
Im Unterricht der neuern Fremdsprachen ist von den ersten Stufen an die Anregung und Anleitung der Kadetten zum praktischen Gebrauch der Sprachen im Auge [* 12] zu behalten.
Inwieweit Ich für jetzt eine teilweise Änderung der Lehrpläne des Kadettenkorps geboten erachte, wird Ihnen durch das Kriegsministerium demnächst bekannt gegeben werden.
Ich habe durch Vorstehendes den zur Erziehung und Unterweisung der Kadetten berufenen Organen weitere Aufgaben zugewiesen, welche an ihre Einsicht und Thätigkeit erhöhte Anforderungen stellen; Ich halte Mich aber überzeugt, daß es ihrer bewährten Hingebung und Pflichttreue gelingen wird, die Aufgaben in Meinem Sinne und zu Meiner vollen Zufriedenheit zu lösen.
Mit Ihren Vorschlägen über die Art und Weise, wie die militärische Jugend auch auf den Kriegsschulen für die erziehlichen Aufgaben ihres Berufs vorzubereiten sind, bin Ich einverstanden.
Ich will, daß diese Meine Order zur allgemeinen Kenntnis der Armee gelangt, und habe Ich dieserhalb an das Kriegsministerium verfügt.
Berlin, Wilhelm.
Im J. 1889 hatte der bekannte Reisende und Schriftsteller Paul Güßfeldt in der »Deutschen Rundschau« (Berlin) [* 13] seine Stimme zur Frage des höhern Unterrichtswesens erhoben und durch seine gewandte Darstellung sich allgemeine Beachtung erworben, die noch erhöht ward durch die Kunde, daß der Kaiser den Vorschlägen Güßfeldts nicht fern stände. Diese schließen sich dem Lehrplan der Gymnasien insoweit an, wie er beide alte Sprachen in seiner Idealschule beibehält.
Aber er will das Formale dieser Sprache [* 14] nur so weit gelehrt wissen, wie nötig, damit die Klassiker unter dem Beistand deutscher Übersetzungen verstanden werden. Für diejenigen, welche mehr bedürfen, lasse man die Hochschulen sorgen. Das Schwergewicht der sprachlichen Bildung falle der Muttersprache und dem Französischen zu. Aber auch im Deutschen soll verständige praktische Übung die besondere grammatische Schulung entbehrlich machen, und nur das Französische bleibt übrig als eigentliches Hauptmittel der bewußten Einführung in den eigenartigen Organismus der sprachlichen Regeln und Gesetze, obzwar auch hier alle Regeln nur durch die Macht der Beispiele sich einprägen, wozu, sowohl der Lehrer die Sprache völlig praktisch beherrschen als auch die Schüler zum wirklichen Sprechen anleiten muß.
Das Englische [* 15] soll nur in seinen ersten Grundlagen und gleichsam in spem futuri getrieben werden. In der Mathematik, der er hohen Wert beilegt, kommt es Güßfeldt hauptsächlich auf strenge naturgemäße Schulung des Verstandes an; er meint aber, daß für diesen Gegenstand das herrschende Klassensystem verlassen und eigne Stufen mit Abteilungen von höchstens zwölf Schülern gebildet werden müssen. In der Naturkunde dringt er auf Pflege der Anschauung und Beobachtung, in der Geschichte auf Erwärmung des Gemüts zu einer begeisterten Vaterlandsliebe. Um aber seine Wünsche wirklich erfüllt zu sehen, hält er es für nötig, daß die Schule ihre Zöglinge nach Art der englischen Day-schools den ganzen Tag für sich in Anspruch nehme, so daß ihr in viel weiterm Umfang als bisher die Erziehung und besonders auch die Körperpflege einschließlich der täglichen Mahlzeiten zufällt (vgl. Jugendspiele). Das blendende Gemälde des geistreichen Mannes setzt sich wunderbar zusammen aus einer Anzahl vortrefflicher pädagogischer Vorschriften, die aber der Hauptsache nach längst Gemeingut der pädagogischen Theorie sind, und aus idealistischen Paradoxien, die unter den gegebenen Verhältnissen und mit den gegebenen Mitteln in Deutschland höchstens als vereinzelte Versuche ausführbar sind.
Gegen Güßfeldts und andrer Reformer Vorschläge wandte sich eine Erklärung von 69 Professoren und Dozenten der Universität Halle [* 16] an den preußischen Kultusminister. Sie lautete in ihrem wesentlichen Teile: »Die bevorstehenden Beratungen über ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Titel
Höhere
Lehranstalten
und deren Reform.
[Preußen.]
Am Schlusse des Jahres 1890, nach Beendigung der vielbesprochenen Berliner [* 17] Dezemberkonferenz, ward auf Befehl Kaiser Wilhelms II. ein Ausschuß von Mitgliedern jener Konferenz bestellt, um deren Beschlüssen in neuen Lehrplänen praktischen Ausdruck zu geben. Er besteht aus folgenden sieben Mitgliedern:
1) Geheimer Oberregierungsrat Hinzpeter zu Bielefeld [* 18] (Vorsitzer), 2) Geheimer Oberregierungsrat Schrader, Kurator der Universität Halle (Vertreter), 3) Oberrealschuldirektor Fiedler zu Breslau, [* 19] 4) Geheimer Sanitätsrat Graf zu Elberfeld, [* 20] Vorsitzer des deutschen Ärztevereins, Mitglied des Hauses der Abgeordneten, 5) Oberlehrer a. D. Professor Kropatschek zu Berlin, Mitglied des Reichstages und des Hauses der Abgeordneten, Mitredakteur der »Neuen Preußischen« sog. Kreuzzeitung, 6) Realgymnasialdirektor Schlee zu Altona, [* 21] 7) Abt zu Lokkum, Oberkonsistorialrat Uhlhorn zu Hannover.
Die Thätigkeit dieses Ausschusses bestand nach den Zeitungen teils in Besichtigungsreisen (Franckesche Stiftungen zu Halle,
Gymnasium und Realgymnasium zu Görlitz,
[* 22] Gymnasien und Lehrerseminare in Gießen,
[* 23] Heidelberg
[* 24] u. a.), teils
in gemeinsamer Feststellung
der neuen Lehrpläne und Lehraufgaben wie der neuen Prüfungsordnungen für die höhern Lehranstalten
Preußens.
[* 25] In beiden Thätigkeiten gingen dem Ausschuß die für das gelehrte Schulwesen bestellten schulkundigen Räte des preußischen
Kultusministeriunis zur Hand:
[* 26] die Geheimen Oberregierungsräte Stauder (katholisch), Wehrenpfennig, Höpfner und der Geheime
Regierungsrat Köpke, ohne daß über das Wie der Geschäftsverteilung etwas Näheres bekannt geworden ist.
Gegen Ende Sommers 1891 waren die neuen Ordnungen festgestellt und wurden ihrem Hauptinhalt nach den Provinzialschulkollegien und durch diese den einzelnen Lehrerkollegien (jedoch einstweilen streng vertraulich) mitgeteilt. Allgemein bekannt wurden sie erst im Januar 1892, wo gedruckt den einzelnen Anstalten zugingen und zugleich im Buchhandel erschienen die beiden Hefte:
1) »Lehrpläne und Lehraufgaben für die höhern Schulen nebst Erläuterungen und Ausführungsbestimmungen«, 2) »Ordnung der Reifeprüfungen an den höhern Schulen und Ordnung der Abschlußprüfungen nach dem sechsten Jahrgange der neunstufigen höhern Schulen nebst Erläuterungen und Ausführungsbestimmungen« (Berl. 1891). Die im ersten Hefte vorgeschriebenen Lehrpläne folgen hier zur Übersicht unter Beifügung der bisher geltenden wöchentlichen Stundenzahlen in Klammern, [* 27] wo im einzelnen die neuen Pläne abweichen, und unter Zusammenstellung der Gesamtzahlen der von 1882 wie seither geltenden Pläne.
A. Lehrplan der Gymnasien.
Deutsch und Geschichtserzählungen
Geschichte
Rechnen und Mathematik
Physik, Elemente d. Chemie u. Mineralogie
Schreiben
Zusammen:
Bemerkungen:
a) Zu diesen Stunden treten ferner als allgemein verbindlich hinzu je 3 Stunden Turnen von VI bis 1A und je 2 Stunden Singen in VI und V. Da dieselben als eigentliche Arbeitsstunden nicht zu erachten sind, so blieben sie oben außer Betracht. Befreiungen vom Turnen finden nur auf Grund ärztlicher Zeugnisse und in der Regel nur auf ein halbes Jahr statt. Die für das Singen beanlagten Schüler sind, Einzelbefreiungen auf Grund ärztlicher Zeugnisse wie in VI und V vorbehalten, auch von IV bis 1A zur Teilnahme an dem Chorsingen verpflichtet.
b) Zur Fortsetzung des Zeichnens in je 2 Stunden sind an allen Gymnasien, bez. Progymnasien bis zur obersten Klasse Veranstaltungen getroffen; ebenso wird zur Erlernung des Englischen oder des Hebräischen in je 2 Stunden von IIA bis IA Gelegenheit gegeben. Die Meldung zu diesem Unterricht verpflichtet zur Teilnahme auf mindestens ein halbes Jahr.
c) Deutsch und Lateinisch sollen in jeder der 3 untern Klassen thunlichst demselben Lehrer anvertraut werden. ¶
forlaufend
452 v. Lehrplan der Realgymnasien. l VI IV j IIIL ^^ III^ IIL 11^ ^^ Ii; 1^ Zusammen 1882 Vor 1882 Religion Deutschn. Gesch:ä)tscrzählungcn lateinisch Französisch Englisch ... Geschichte j Eldlunde l Rechnen und Mathematik .. . Naturbeschreibung Physik. .. .. .' Chemie und Mineralogie .. . Schreiben Zeichnen Zusammen: Bemerkungen:
2) Zu diesen Stunden treten ferner als allgemein verbindlich hinzu je 3 Stunden Turnen von VI bis 1^ und je 2 Stunden Singen in VI und V. Im übrigen Turnen und Singen wie zn ^.^. Gymnasium. d) Wegen Deutsch und Lateinisch vgl. ^.. Gymnasium. Durch Vereinigung der naturwissenschaftlichen Fächer [* 29] in einer Hand soll ermöglicht werden, jedem einzelnen dieser Fächer zeitweise die Stunden beider zuzuwenden. 3 2 2 2 2 2 2 2 2 19 19 20 4 (3) 3 3 3 3 3 3 3 3 28 27 29 8 8 (7) 7(7) 4 (6) 4 (6) 3 (5) 3(5) 3 (5) 3 (5) 43 54 44 - (5) 5 5 (4) 5 (4) 4 4 4 4 31 34 34 3 (4) 3 (4) 3 3 3 3 18 20 20 2 (3) 2 (3) 22 22 22 21 3 3 3 28 30 30 4 (5) 4 4 (5) 5 5 5 5 5 5 42 44 47 2 2 2 2 2 2 12 12 l" 3 3 3 3 12 12 _ 2 2 2 6 k 2 2 __ 4 4 7 -(2. 2 2 2 2 2 2 2 2 16 18 20 25 25 29 30 30 30 30 30 30 259 280 285 VI IV IIIL ! III^ l IIL Ilä Iv Religion Deutsch u. Geschichtserzählungen Französisch Englisch Erdkunde Rechnen und Mathematik . Naturbeschreibung. .. .. . Physik. ...' Chemie und Mineralogie . Schreiben Freihandzeichnen .. .. .. . Zusammen: 2 2 2 2 2 2 19 19 5(4) 4 4 3 3 3 4(3) 4(3) 4(3) 34 39 6(8" 6(8) 6(8) 6 6 5 4(5) 4(5) 4(5) 47 56 ! 5 4(5) 4 4 4 4 25 25 2(3) 2 22 22 22 21 3 3 3 28 30 5 5(6) 6 6 5(6) 5 5 b 5 47 43 2 2 2 2 2 2(3) 12 13 _ 2(0) 2l4) 3(4) 3 3 13 14 _ -. 2(0) 3 3 3 11 3 2 2 2 6 6 - (2) 2 2 2 2 2(3) 2(3) 2(4) 2(4) 16 24 25 25 28 30 :0 30 30 30 30 258 276 1^ ! Zusammen 1882 Bemerkungen: a) Zu diesen Stunden treten ferner als allgemein verbindlich hinzu je 3 Stunden Turnen von VI bis 1^ und je 2 Stunden Singen in VI und V. Im übrigen Turnen und Singen wie zu ^^ Gymnasium.
Außerdem wird als wahlfreies Fach das Linearzeichnen von III ^ bis I ^^ in je 2 Stunden gelehrt. d) Deutsch und Französisch sollen in jeder der 3 untern Klassen thunlichst einem und demselben Lehrer übertragen werden. Durch Vereinigung der naturwissenschaftlichen Fächer in einer Hand soll ermöglicht werden, jedem einzelnen dieser Fächer zeitweise die ganze Stundenzahl auch der andern zuzuwenden. v. Lehrplan der Realschulen (höhern Bürgerschulen). Ganz wie der Lehrplan der Oberrealschulen von unter entsprechender Minderung der Mathematik^ VI bis II N einschließlich oder (nach Ermessen der der Naturkunde oder des Französischen; jedoch inner-Aufsichtsbehörde) mit Verstärkung [* 30] des Deutschen i halb der Gesamtzahl der Stunden. Etwa so: ! VI ^^ ! IV !" III ! II I I ! Zusammen !, 1882 ! Nach Tab'll.' c Religion Deutsch u Geschichtserzählungen Französisch ^ Englisch Geschichte ji Erdkunde /! Rechnen und Mathematik. .. > Naturbeschreibung. .. . Naturlchrc .. / .. .. . Schreiben Freihandzeichnen .. .. . Zusammen: ! 6 (4) 6 (8) 2(3) 4 2 2 (3) (2) 2 2 2 2 2 5 (4) 5 (4) 5 (3) 4 (3) 3 6 (8) 6 (») 5 (6) 4 (5) 4(5) - ' 5 4 4 2 (3) 22 22 21 (4) 2 2 4 (5) 5 5 5 5 2 (3) 2 (3) 2 (3) 2 3 5 2 (3) 2 2 2 2 2 ^2 13 28 31 13 13 21 40 13 19 22 2810 2913 6 10 812 13 22 13 19 32 12 6 10 25 25 29 160 179 ! 108 28 > 30 j 29 Bemerkungen: 5« Zu diesen Stunden treten ferner als allgemein verbindlich hinzu je 3 Stunden Turnen in VI bis I und je 2E:unde:i Singer in VI und V. Im übrigen Turnen und Singen wie zu ^.^. Gymnasium, Außerdem wird als wahlfreies Fach dad Linearzeichncu von III bis I in je 2 Stunden gelehrt. t) ^luch hier Deutsch und Französisch in jeder der 3 Unterklassen, sowie der gesamte naturkundliche Unterricht thn'.llichst in die Hand je eines Lehrers zu Icgcn.
Zusatz zu Höhere Lehranstalten
bis I). H) Der biß auf weiteres zugelassene gymnasiale Unterbau bis JIU einschließlich
mit nicht allgemein verbindlichem Griechisch und dessen Ersatz durch Englisch und daran anschließend der
Oberbau des Gymnasiums oder der Obcrrcalschule bedarf eines besondern Lehrplans nicht, vielmehr gilt dafür, abgesehen von der
bezeichneten Änderung bezüglich des Griechischen und Englischen, dei Üehrplan des Gymnasiums oder vcn 11^ an neben dem des
Gymnasiums der der Oberrealschule. Zur E.nführung diese: Form ist die Genehmigung der Aufsichtsbehörde
erforderlich.
¶
forlaufend
453
, 2) Für die Verbindung van Realgymnasium und laceinloser Realschule kann bis aus weiteres der Lehrftlan des Realgymnasiums und der Realschule nach dem sogen. Altonaer System zugelassen werden unter der Bedingung, daß die Zahl der Wochenstundeil der einzelnen Klassen die der Realschule, bez. des Realgymnasiums nicht übersteigt, daß demgemäß die Stundenzahlen fur einzelne Fächer entsprechend herabgeseht werden, und daß das Turnen die vorgesehene Vermehrung erfährt.
Wegen d.s Zeichnens in der Realschule gilt dasselbe wie zu v. Zur Einführung dieser Form ist die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erforderlich. Schon aus diesen Tabellen geht hervor, daß die neuen Lehrpläne in den meisten Lehrfächern dem Bisherigen entsprechen oder nahe bleiben. Nur der Unterricht im Lateinischen (Gymnasien und Real' gymnasien) und im Französischen (Realgymnasien! und Oberreal-, bez. Realschulen) ist erheblich ver- z kürzt. Dies hat, geschichtlich angesehen, für die verschiedenen Anstalten auch sehr verschiedene Bedeutung.
Die Oberrealschulen und Realschulen, diese seit 1882 höhere
Bürgerschulen genannt, sind! überhaupt in der
gegenwärtigen Gestalt erst 1882 in die Reihe der als solche anerkannten höhern Lehranstalten
eingetreten. Die Verkürzung
des Französischen um 9 Wochenstunden trifft hier die drei Unterklassen mit je 2 und die drei Oberklassen (der Oberrealschule)
mit je 1 Stunde. In den Realgymnasien ist das Lateinische, dessen wöchentliche Stunden-Zahl 1882 um 10 erhöht
war, wieder auf den alten Stand zurückgeführt, das Französische nur unerheblich eingeschränkt.
Wesentlich ist der Ausfall in den alten Sprachen für die Gymnasien, wo das Lateinische etwa 20, das Griechische etwa 10 Proz. der bisherigen Stunden verliert. Diese Thatsache ist um so gewichtiger, da beide Sprachen bereits 1882 verloren haben, so daß gegen den bis dahin geltenden Lehrplan von 1856 jetzt das Lateinische um etwa 29 Proz., das Griechische mn etwa 15 Proz. der einstmaligen Stunden zurücksteht. Es erhellt, daß diese Anstalten und sie allein in dein betroffen sind, was bisher für sie als wesentlich und eigentümlich galt. Es muß dem gegenüber aber beachtet werden/daß der leitende Gesichtspunkt für den lateinischen Unterricht nach den neuen Lehrplänen ein wesentlich andrer geworden ist. Im Lehrplan von 1882 standen Bewußtsein seiner besondern Aufgabe, den vaterländischen Sinn und den nationalen Gedanken zu pflegen, sich eng mit dem Geschichtsunterricht zusammenschließen.
Nach Verhältnis bedeutend ist endlich ancy und vor allem die Vermehrung der Turnstunden von 2 auf 3 in der Woche. Das Neue in den Lehrplänen von 1892 beschränkt sich jedoch nicht auf das, wovon die Ziffern zeugen. Darüber hinaus ist noch ein Dreifaches hervorzuheben: der Nachdruck, den die Lehrpläns durchweg auf die erziehliche Aufgabe der höhern Schulen legen, die Gesichtspunkte für die Bemessung der Hausaufgaben, die Gliederung der höhern Schulen in Unter- und Oberbau durch die Abschlußprüfung nach dem 6. Schuljahr. In Bezug auf die erziehliche Aufgabe der Schulen genüge die Allführung einer Stelle aus den Erläuterungen: Soll die Schule auch nach dieser (der erziehlichen) Seite ihre Aufgabe lösen, so hat sie auf äußere Zucht und Ordnung zu halten, Gehorsam, Fleiß, Wahrhaftigkeit und lautere Gesinnung zu pflegen und aus allen, besonders den ethischen Unterrichtsstoffen fruchtbare Keime für die Charakterbildung und tüchtiges Streben zu entwickeln.
Indem so der jugendliche Geist mit idealem, sittlichem Gedankeninhalt erfüllt und sein Interesse dafür nachhaltig angeregt wird, erfährt zugleich der Wille eine bestimmte Richtung nach diesem Ziele Die dem Lehrer damit gestellte Aufgabe ist eine ebenso schwierige wie lohnende und muß immer von neuem zu lösen versucht werden. Daß dabei ein liebevolles Eingehen auf die Eigenart des Schülers notwendig ist, erscheint selbstverständlich. Erste Voraussetzung für eine auch nur annähernde Lösung der Aufgabe, zumal unter den heutigen Verhältnissen und in den meist überfüllten Klassen ist eine ernste und gewissenhafte Vorbereitung des Lehrers auch auf seinen Erzieherberuf.
Wie der angehende Schulmann jetzt zu einein methodischen Unterricht angeleitet wird, so wird er auch für seine erziehliche Aufgabe durch Benutzung aller auf der Universität und in der praktischen Vorbereitungszeit gebotenen Hilfsmittel sowie durch eigne Beobachtung und Übung sich mehr und mehr selbst befähigen müssen. Daß sein Beispiel in erster Linie von entscheidendem Ginfluß auf seinen Erfolg ist, hat er sich stets gegenwärtig zu halten. Eine weitere Voraussetzung ist, daß das gesamte Lehrerkollegium einmütig nach demselben Ziele hinstrebt und so dem Geiste der Schule eine bestimmte Richtung gibt.
Nicht minder hängt die Erreichung dieses Zieles von der Stärkung des Einflusses und der gesamten Wirksamkeit des Klassenlehrers gegenüber dem Fachlehrer besonders auf den mittlern und untern Klassen ab. Die jetzt vielfach vorkommende Zersplitterung des Unterrichts auf diesen Stufen unter zu viele Lehrer ist ein Hindernis für jede nachhaltige erziehliche Einwirkung, ebenso der oft von Stufe zu Stufe eintretende Wechsel des Klassenlehrers.^ Für die Hausaufgaben sind in einem eignen Anhange folgende Gesichtspunkte aufgestellt und aufz die einzelnen Stufen und Fächer des Unterrichts angewandt:
1) Alle Hausarbeiten dienen lediglich entweder der Anleitung zu Ordnung und Saubsri keit (Reinschriften) oder der Aneignung des ¶