Hindubewegung
ist der zusammenfassende Name für das unter den gebildeten Indern (Hindu, Parßi, Mohammedanern u. s. w., im engern Sinne unter den Hindu allein) in neuester Zeit sich geltend machende Streben nach Fortschritt auf religiösem, socialem, wissenschaftlichem u. s. w. Gebiete sowie insbesondere nach socialer und polit. Gleichstellung mit den im brit. Ostindien [* 2] als herrschende Klasse auftretenden Engländern. An solchen Bestrebungen, namentlich in religiösen und wissenschaftlichen Dingen, hat es in Indien nie ganz gefehlt; in polit. Hinsicht dagegen erscheint diese Bewegung erst in neuester Zeit von größerm Belange.
Gemäß der philosophisch und theosophisch angelegten Natur des Inders, besonders des Hindu, sind die Bewegungen auf religiösem Gebiete die ältesten. An die theistischen Reformatoren früherer Zeiten kann hier nur ganz kurz erinnert werden: so an den bedeutenden Kabīr, der 1380-1420 wirkte und den Hindu und Mohammedanern in gleicher Weise entgegenkam, an Nānak Schāh oder Bābā Nānak (geb. 1469), den Stifter der Sikhreligion und der Sekte der Nānakpanthis, der manche Lehren [* 3] Kabīrs in das heilige Buch der Sikh herübernahm (vgl. A. Barth, Religions de l'Inde), an den toleranten Kaiser Akbar d. Gr. (1556-1605), den Stifter der ilāhī mazhab (der «göttlichen Religion») oder der sulh-e kull (des «friedlichen Zusammenlebens Aller»),
sowie an
Bābā Dschagdschuwān Dās (17. Jahrh.) und Ghāßī Dās (um 1835), die Begründer der
Satnāmi-Sekten. Von besonderer Bedeutung ist in neuerer und neuester Zeit die 1830 unter dem Einfluß europäischer
Anschauungen gestiftete monotheistische Religionsform des Brāhmasamādsch, nach bengal.
Aussprache
Brahmosomādsch (s. d.).
Durch den 1884 erfolgten
Tod des in letzterm
Artikel genannten Kēschab Chander
Sēn ist ein Haupthindernis
der allmählichen
Annäherung für die verschiedenen Parteien beseitigt, die infolge der dort erwähnten Schismen bestehen; es sind dies:
1) der mehr konservative Adi Brahmosomādsch unter Dēbēndra Nāth Tagōrs Nachfolger Rādsch Narain Bōs;
2) der ursprünglich mehr fortschrittliche «Brahmosomaj of India» des Kēschab Chander Sēn (seit 1866),
bez. die durch des letztern Initiative 1883 daraus hervorgegangene mehr mystische «Neue Offenbarung» («New Dispensation», eine Art Verschmelzung von Hinduismus, Islām und Christentum); endlich 3) (seit Mai 1878) der in Bezug auf kirchliche Leitung und Verwaltung mehr demokratische Sādhāran Brahmosomādsch. Seit 1850 sind infolge reger missionarischer ¶
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Thätigkeit in allen Teilen Indiens zahlreiche Somādschkirchen entstanden, die einer der drei genannten Richtungen angehören;
ihre Zahl beträgt jetzt über 170.
Vgl. besonders das seit 1876 von Sophia Dobson Collet herausgegebene Brahmo Year-book (London [* 5] und Edinburgh);
ferner Monier Williams' Artikel: Indian Theistic Reformers im «Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain etc.» (Neue Serie, Bd. 13, 1881);
desselben Verfassers Religious thought and life in India (Tl. 1, Lond. 1883; 2. Aufl. 1885) und W. J. ^[William Joseph] Wilkins' Modern Hinduism (ebd. 1887). -
Verwandt in socialer Hinsicht (Abschaffung des Kastenwesens und der Polygamie, Förderung der Mäßigkeit u. s. w.), aber wesentlich verschieden in religiöser Beziehung sind die Ziele der theosophischen Gesellschaften, die von der europ. Frau Blavatsky (die sieben Jahre im Himalaja zubrachte und von Rischis [Weisen] und Fakiren [Büßern] in die Geheimnisse des ind. Occultismus eingeweiht wurde) und dem buddhistischen nordamerik. Oberst Olcott in Madras, [* 6] Bombay, [* 7] Lahaur, Kalkutta [* 8] und manchen andern Städten Indiens seit etwa 15 Jahren gegründet worden sind, als Zweiggesellschaften der von Frau Blavatsky in Nordamerika [* 9] (wo Olcott ihr Schüler wurde) ins Leben gerufenen Theosophical Society, die auch in England, Frankreich und Deutschland [* 10] Anhänger zählt.
Die Lehre [* 11] dieser Theosophen, deren Organ in Indien der seit Okt. 1879 in Bombay erscheinende «Theosophist» ist, bildet ein Gemisch aus der Philosophie des Buddhismus, der Mystik des Hinduismus und dem modernen amerik. Spiritismus. Durch häufige Missionsreisen suchten die beiden Begründer der theosophischen Richtung in Indien überall Anhänger zu gewinnen, wobei Oberst Olcott sich in leidenschaftlichen Ausfällen gegen das Christentum und die Bibel [* 12] gefiel, während die Brāhmos (die Anhänger des Brahmosomādsch) dem Christentum sehr sympathisch gegenüberstehen. Polit. Fragen sind von der Beratung in den theosophischen Gesellschaften ausgeschlossen. Bei Aufnahme neuer Jünger wird weder auf die bisherige Religion, noch auf Rasse oder Kaste gesehen.
In engstem Zusammenhange mit den religiösen Bestrebungen (speciell des Brahmosomādsch) stehen bei den Hindu die Reformbewegungen auf socialem Gebiete, die sich hauptsächlich auf folgende Punkte richten, unter denen die Frauenfrage in verschiedenen Formen die Hauptrolle spielt: Civilehe;
Hinaufrückung der Altersgrenze für die Eheschließung (besonders der Mädchen);
Einführung bez. Verbreitung des Unterrichts für Mädchen, besonders in eigenen Mädchenschulen;
Zulässigkeit der Wiederverheiratung von Hinduwitwen und Hebung [* 13] der unglückseligen socialen Stellung dieser Witwen. - Den Anlaß zur Einführung des Gesetzes über die fakultative Civilehe (Native Marriage Act vom bildeten die Streitigkeiten über die rechtliche Gültigkeit der von 1861 an stattgehabten Eheschließungen der Brāhmos, soweit sie nach dem neuen Brahmoritual statt nach dem von alters her gültigen Hinduritual vorgenommen worden waren.
Das der eifrigen Agitation Kēschab Chander Sēns und seiner Anhänger zu verdankende Civilehegesetz erklärt alle vor dem Registrar (Standesbeamten) abgeschlossenen Ehen (ohne Rücksicht auf spätere religiöse Ceremonien) für rechtsgültig, auch bei Angehörigen verschiedener Konfessionen [* 14] oder Kasten;
setzt das Mindestalter des Bräutigams auf 18, das der Braut auf 14 Jahre fest;
verlangt die schriftliche Zustimmung der Eltern oder Vormünder, wenn der Bräutigam oder die Braut das Alter von 21 Jahren nicht erreicht hat;
verbietet Bigamie sowie die Heirat für bestimmte Grade der Blutsverwandtschaft, und gestattet die Wiederverheiratung von Hinduwitwen.
Vorläufig werden die Segnungen dieses Gesetzes verhältnismäßig erst wenigen zu teil; denn nach der bis jetzt fast allgemein geltenden ind. Sitte muß sich ein Mädchen im Alter von 8 bis 10 J. verheiraten. Zwar ist die Eheschließung in diesem Falle, wenn der Mann am Leben bleibt, gewissermaßen nur als gerichtliche oder notarielle Verlobung in unserm Sinne aufzufassen, und die thatsächliche Vollziehung der Ehe wird etwa bis zum 12. oder 14. Lebensjahre der Frau verschoben; aber die Jungverheiratete gilt beim Tode ihres Mannes, ob dieser nun vor oder nach dem thatsächlichen Vollzuge der Ehe erfolgt, in jedem Falle als Witwe und darf sich, nach orthodoxer Auffassung, nicht wieder verheiraten. Gelingt es, die Altersgrenze für Mädchen allgemein bis auf das 14. Jahr hinaufzurücken und die Ehevollziehung bis zum 15. oder 16. Jahre zu verschieben, so ist damit ein bedeutender Fortschritt zur körperlichen Kräftigung und geistigen Hebung der Hindurasse erreicht. - Die Thatsache, daß die meisten jungen Inder der wohlhabendem Klassen in Privat- oder Staatsschulen Englisch lernen und so mit der abendländ.
Kultur mehr oder weniger vertraut werden, ja großenteils eine ganz europäische, event, akademische Erziehung erhalten, führt notwendig zu der Folge und wird in Zukunft immer mehr dahin drängen, daß ein gebildeter junger Inder ein ungebildetes Mädchen nicht zur Frau nehmen wird; die Eltern werden mithin mehr und mehr gezwungen werden, ihre Töchter unterrichten zu lassen. Zwar sträuben sich die orthodoxen Hindu (nicht die Mohammedaner) mit aller Macht gegen den von ihnen verabscheuten Mädchenunterricht, von dem sie glauben, daß er die Unsittlichkeit fördere; jedoch wird die Notwendigkeit und der Nutzen dieses Unterrichts, der zum Teil durch Privatlehrerinnen in den Sanānas oder Frauenabteilungen der Häuser, teils in öffentlichen Schulen gegeben wird, von den vernünftiger Denkenden in wachsendem Maße erkannt. - Die körperlichen und seelischen Leiden, [* 15] die der Frau beim Tode ihres Gatten harren, sind zahllos, grausam, zum Teil unsäglich; die Hinduwitwe gilt als niedrigste Dienstmagd im Hause ihrer Schwiegereltern, darf keinerlei Schmuck oder gute Kleider tragen, erhält nur die schlechtesten Speisen und muß an vielen Tagen des Jahres 24 Stunden hindurch vollständig fasten, wobei ihr nicht einmal ein Tropfen Wasser gegeben werden darf; dazu kommt, als Krone des Ganzen, die verächtliche Behandlung seitens aller Hausangehörigen außer ihren Kindern.
Eine Besserung der fragwürdigen Stellung und des elenden Loses dieser oft noch im Kindesalter stehenden Witwen würde sich, besonders unter dem Schutze des Native Marriage Act, dann ergeben, wenn es gelänge, die in Bezug aus sie bestehenden Vorurteile zu brechen, so daß ihnen die nur bei den Hindu aus den allerniedrigsten Kasten erlaubte Wiederverheiratung nicht zur Schande angerechnet würde, und daß ihre Angehörigen ihnen gestatteten, sich verschiedenen Berufszweigen (z. B. dem der Lehrerinnen) zu widmen. Bis heute jedoch gilt eine Hinduwitwe fast allgemein ¶
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als eine überflüssige Person, die sich von Rechts wegen mit der Leiche ihres Gatten hätte verbrennen sollen (s. Satī). Nur den Brāhmos oder andern toleranten Sekten der Zukunft und dem stetig wachsenden Einflusse der engl. Kultur kann es gelingen, in diesen trostlosen Verhältnissen nach und nach Wandel zu schaffen. Verschiedene Vereine (so die von Kēschab Chander Sēn 1870 in Kalkutta gegründete Reform Association, seit 1889 in Sikandarābād die Social Reform Association u. s. w.) und jährliche Konferenzen befassen sich mit diesen und andern socialen Fragen; die 1890 in Bombay tagende Socialkonferenz z. B. behandelte hauptsächlich die Frage der Witwenehen, für deren Zulässigkeit sie mit aller Macht eintrat. Schon jetzt zeigt sich ein Erfolg dieser Bestrebungen dadurch, daß sich besondere Vereine zur Förderung der Witwenehen gebildet haben (z. B. die Widow Marriage Aiding Society in Lahaur). - Von einer socialen Arbeiterfrage in Indien kann man, bei der eigenartigen Natur des Kastenwesens, nur in Bezug auf die ländlichen Arbeiter bez. Kleinbauern und -Pächter (Ra'ījat, engl. verderbt ryot) reden, deren Lage in Bezug auf rechtliche Stellung und Steuerzahlung in den verschiedenen Präsidentschaften u. s. w. verschieden, aber fast überall (infolge teils dieser besondern Grundbesitz- und Steuerverhältnisse, teils des Kastenwesens, hauptsächlich aber wegen ihrer, abgesehen vom Landbau, grenzenlosen Unwissenheit) überaus gedrückt und elend ist, entweder dem Samīndār bez. Ta'alluqadār (dem Grundherrn) oder dem Mahādschan (dem dörflichen Geldverleiher) gegenüber.
Seit die staatliche Herrschaft Englands an Stelle derjenigen der Ostindischen Compagnie trat (1858), ist, hauptsächlich durch die Initiative der Regierung bez. durch Gesetze, die Lage der ländlichen Arbeiter um vieles besser geworden, aber vieles bleibt noch zu thun übrig. Es sei hier nur an das nicht beneidenswerte Los der Arbeiter in den Indigopflanzungen erinnert, deren Behandlung der 1829 geborene «Shakespeare Bengalens», Dīnā Bāndhu Mitra, [* 17] in seinem Schauspiele «Nīl-darpan» (d. h. Indigospiegel) 1873 derart geißelte, daß er dadurch zur Besserung des Schicksals jener Unglücklichen wesentlich beigetragen hat.
Die jetzigen politischen Bestrebungen, die sich vor allem in der Schöpfung des indischen Nationalkongresses krystallisiert haben, stammen erst aus allerneuester Zeit, aus dem Anfang der siebziger Jahre (von dem Aufstande von 1857 und seinen Gründen ist hier ganz abzusehen). Die hierbei den Hindu, Mohammedanern, Sikh, Pārßī u. s. w. (soweit sie sich überhaupt beteiligen) gemeinsamen Ziele sind vor allem: Zahlreichere Zulassung der Eingeborenen auch zu den höhern und wichtigern Stellen im Verwaltungs- und Justizdienste (diese Zulassung findet schon jetzt in solchem Maßstabe statt, daß die Engländer sich darüber zu beschweren beginnen), überhaupt vollständige sociale und polit.
Gleichstellung mit den Engländern; dann Schaffung eines nationalen ind. Parlaments, als dessen Vorläufer, wenigstens von den betreffenden Indern, der National Congress angesehen wird. Seit 1885 tagt dieser Kongreß jährlich einmal je drei bis vier Tage in einer der Haupt- bez. größern Städte Indiens, wobei aus allen Teilen des Landes etwa 1000 Delegierte zusammenkommen und gelegentlich auch engl. Parlamentarier sich beteiligen; die Zahl der Abgeordneten soll übrigens allmählich verringert werden.
Gegenstände der Beratung sind u. a.: Vermehrung der Mitglieder des Council (d. h. des dem Gouverneur zur Seite stehenden Rates für Gesetzgebung und Verwaltung) in den verschiedenen Präsidentschaften u. s. w. und zwar durch Eingeborene, sowie Verstärkung [* 18] des Einflusses der Mitglieder der verschiedenen Councils auf die Festsetzung des Budgets, Regelung der ind. Anleihen, Zölle und Steuern, Regelung bez. Trennung des richterlichen und des Verwaltungsdienstes, Einführung bez. Vermehrung von Schwurgerichten, Verbesserung des Polizeiwesens, Förderung des öffentlichen Unterrichtswesens, Militaria in Bezug auf rein ind. Regimenter, Silberwährungsfrage, Einführung von Gewerbeenqueten u. s. w. Die Ziele dieses Nationalkongresses suchen, zum Teil wenigstens, auch die in England lebenden Inder durch ihre National Indian Association in London zu fördern.
Obwohl man in engl. Kreisen behauptet, daß die Kongreßpartei sich meist aus Mißvergnügten und Fanatikern zusammensetze, und obwohl thatsächlich die Hindu der höhern Kasten sowie die besser situierten Mohammedaner sich dieser Bewegung großenteils nicht, oder noch nicht anschließen, so steht doch die brit. Regierung dem ind. Nationalkongreß insofern nicht ganz ablehnend gegenüber, als diese nur beratende Körperschaft ihr in den verschiedensten Fragen schätzbares Material an die Hand [* 19] giebt und sie über die Stimmung in den weitesten Kreisen der Eingeborenen unterrichtet.
Möglicher-(aber wohl kaum wahrscheinlicher-)weise wird sich in absehbarer Zukunft aus dem Nationalkongreß ein allgemeines ind. Parlament für die unter unmittelbarer brit. Herrschaft stehenden Landesteile entwickeln; weiter werden die Bestrebungen auch der «nationalsten», mindestens der besonnenen ind. Politiker nicht gehen. Ein ind. Gesamtstaat kann ohne eine unparteiische fremdländische Herrschaft nicht bestehen, da das Hindutum und der Mohammedanismus sich zu schroff gegenüberstehen.
Würde die engl. Regierung in Indien heute beseitigt, ohne daß eine andere fremde Macht an ihre Stelle träte, so wäre es nur eine Frage der allernächsten Zeit, daß Hindu und Mohammedaner im ganzen Lande übereinander herfallen würden, so wie sie dies im kleinen überall bei jedem Anlaß schon jetzt thun. Die vielfachen Gegensätze zwischen den Hindu und den Mohammedanern kommen auch auf den Nationalkongressen bei allen wichtigen Fragen zur Geltung. - Auch andere, radikale bez. fanatische polit. Bestrebungen werden in neuester Zeit bei einer Partei sichtbar, die es auf die vollständige Verdrängung der Europäer abgesehen hat und zu diesem Behufe selbst vor der Schürung des religiösen Fanatismus bei den breiten Volksmassen nicht zurückschrickt. Doch sind über die Organisation dieser zum Teil durch vorgeblich rein religiöse Vereine wirkenden Partei nur wenig sichere Nachrichten bekannt.