Helvetier
,
kelt. Volksstamm, welcher zur Zeit seiner ersten Berührung mit den
Römern den größten Teil der heutigen
Schweiz
[* 2] bewohnte, aber nach
Tacitus
(»Germania«,
[* 3] 28) früher die Gegenden zwischen dem
Schwarzwald, dem
Rhein und dem
Main innehatte.
In der Geschichte treten die Helvetier
zuerst im cimbrischen
Krieg auf, wo die helvetischen
Stämme der Toygener
und
Tiguriner mit den
Cimbern in
Gallien einbrachen und unter Divico ein römisches
Heer unter dem
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Konsul Lucius Cassius, welches die helvetischen Grenzen [* 5] bedrohte, am Lemanischen See vernichteten (107 v. Chr.); bei dem Einfall der Cimbern in Italien [* 6] 102 werden sie nicht mehr erwähnt und scheinen also damals in ihre Heimat zurückgekehrt zu sein. Bekannter wird ihre Geschichte, seit Cäsar mit ihnen zusammenstieß. Als Grenzen ihres Landes gibt Cäsar die Kette des Jura, den Lemanischen See mit dem Rhône und den Rhein an; sie bewohnten also die jetzige Schweizer Hochebene.
Das zahlreiche und durch seine Tapferkeit ausgezeichnete Volk zählte in seinem Gebiet 12 Städte und 400 offene Ortschaften und war in vier Gaue (pagi) eingeteilt, von denen der Pagus Tigurinus berühmt geworden ist, der Pagus Verbigenus aber nur genannt wird und die zwei andern nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Um 60 v. Chr. bewog der einflußreiche und mächtige Häuptling Orgetorix den gesamten Stamm zu dem Entschluß, die rauhe Heimat mit einer mildern im südlichen Gallien zu vertauschen.
Orgetorix wurde zwar, weil er nach der Alleinherrschaft strebte, ins Gefängnis geworfen, worin er bald darauf starb; gleichwohl aber wurde die Wanderung 58 in Verbindung mit den Volksstämmen der Rauriker, Latobrigen und Tulinger und einer Abteilung der Bojer angetreten. Aber Cäsar, welcher gerade damals als Prokonsul in Gallien auftrat, brach die Rhônebrücke bei Genf [* 7] ab, deckte das linke Ufer des Flusses durch Verschanzungen und verweigerte hierauf den verlangten Durchzug durch das Gebiet der Allobroger und das römische Gallien.
Vergeblich versuchten die Helvetier
den Übergang über den Rhône zu erzwingen; sie wandten sich daher westlich ins Gebiet der Sequaner,
wo ihnen Dumnorix den Durchzug zu den Äduern eröffnete. Aber an der Saône holte sie Cäsar ein und schlug
die noch allein diesseit des Flusses stehenden Tiguriner, setzte dann über und folgte den Helvetiern
14 Tage lang in geringer
Entfernung bis nach Bibracte (in der Nähe des heutigen Autun), wo sie in einer blutigen Schlacht geschlagen
und genötigt wurden, in ihre verlassene Heimat zurückzukehren; nur den Bojern wurde auf den Wunsch der Äduer gestattet, sich
in deren Gebiet anzusiedeln.
Als unter den ersten römischen Kaisern die Verhältnisse der nördlichen Provinzen geordnet wurden, ward der westliche Teil
der Schweiz, in welchem schon vorher, um 43, die Kolonien Noviodunum (Nyon) und Augusta Rauricorum (Augst bei
Basel)
[* 8] gegründet worden waren, zu Gallia Belgica, der östliche Teil zur Provinz Raetia geschlagen; später gehörte der westliche
Teil zu G. Lugdunensis. Hauptorte der Helvetier
waren Vindonissa (Windisch) und Aventicum (Avenches). Ein schweres Schicksal traf den
westlichen Teil, als 69 n. Chr. Cäcina, der Legat des Kaisers Vitellius, das Land durchzog und verwüstete:
Tausende der Einwohner wurden teils niedergemacht, teils als Sklaven verkauft;
Aventicum erkaufte durch schnelle Unterwerfung Schonung.
Daß römische Sitten und Bildung im Lande der Helvetier
bedeutenden Einfluß gewannen, beweisen die jetzt noch vorhandenen
Denkmäler. Die Einfälle germanischer Stämme brachten auch bei den Helvetiern
einen Umschwung der Dinge
hervor. Um 260 drangen ungeheure Scharen der Alemannen unter Chrocus durch das Land der Helvetier
bis nach Ravenna hinab. Dann traf
der Einfall der Franken und Alemannen in Gallien, welchen endlich Probus (280) abschlug, wahrscheinlich auch das helvetische Land.
Obgleich Constantius Chlorus (297) die Alemannen bei Vindonissa schlug, gelangte das Land doch nie wieder zu seiner frühern
Blüte;
[* 9] schon unter Constantius (354)
begannen Alemannen und Franken von neuem ihre verheerenden Einfälle in Helvetien.
Zwar vernichtete Cäsar Julianus bei Straßburg [* 10] ein alemannisches Heer (357), aber seine Entfernung aus dem Occident gab das Zeichen zu neuen Einfällen; vergeblich war es, daß Valentinian II. (seit 364) am Rhein neue Befestigungen und Kastelle anlegte. Die Lostrennung des verödeten Landes vom Reiche geschah wahrscheinlich zur Zeit des Honorius (395-423). Die Alemannen besetzten damals Helvetien bis an die Aare und noch jenseit dieses Flusses gelegene Strecken nebst dem Lande der Rauriker.
Die schwachen Reste der alten Bevölkerung [* 11] mögen teils vertilgt oder zu Leibeignen gemacht worden sein, teils sich in die südwestlichen Gegenden zurückgezogen haben. Die eindringenden Horden der Alemannen vernichteten mit den befestigten Städten und andern Denkmälern römischer Kultur auch das allmählich verbreitete Christentum, das erst wieder im 6. Jahrh. mit dem Ackerbau bei den wilden Hirten Eingang fand. 443 trat der römische Feldherr Aetius den schon zum Christentum bekehrten und zivilisierten Burgundern das verödete Gebiet der Allobroger und das wenige, was in Helvetien den Römern verblieben war, ab. Hier haben sich deshalb auch mehrere römische Denkmäler erhalten.
Später breiteten sich die Burgunder nicht allein noch weiter nach Südwesten aus, sondern drängten auch die Alemannen zurück und dehnten ihre Herrschaft allmählich bis an die Reuß [* 12] aus. Die Geschichte der Länder der verschwundenen und Rauriker geht aber um die Mitte des 5. Jahrh. in der Geschichte der Alemannen und Burgunder und dann in der Geschichte der Franken auf. Das geographische Detail des Landes als einer römischen Provinz kennen wir nur aus spärlichen Notizen der alten Autoren, dann aus den genauern Angaben der Tabula Peutingeriana und aus dem Itinerarium Antonini, endlich aus den im Land aufgefundenen Inschriften (vgl. Th. Mommsen, Inscriptiones confoederationis helveticae latinae, Zürich [* 13] 1854).