Heldensage,
der Inbegriff der Sagen aus der Heldenzeit eines Volkes, besonders insofern sie den Inhalt einer nationalen epischen Poesie bilden (s. Sage). Der Ursprung der Heldensage ist bei allen arischen Völkern ein doppelter: aus dem Mythus und aus der Volksgeschichte, und wird eingeleitet durch die Entstehung der Heroengestalten des Volkes. Während man einerseits auf eine Hauptgottheit (wie Zeus, Odin) allmählich die Macht und Wesenheit andrer Götter übertrug, so daß sie gleichsam die Einheit aller ihrer Kräfte bildeten, sanken andre Gestalten des Mythus in die Welt der Sterblichen herab. Von vielen durch Hypostase (s. d.) von den Göttern losgelösten Figuren, von vielen vor andern Göttern zurückgetretenen Gottheiten, von vielen göttlichen Wesen, deren Kultus durch historische Ereignisse außer Übung kam, vergaß man, daß sie Gottheiten seien; sie wurden nur noch als gewaltige und vorzugsweise mächtige Sterbliche, als Helden von göttlicher Abstammung (Heroen) aufgefaßt, deren Leben man in die Anfänge der Volksgeschichte versetzte, und ihre von der Sage berichteten Thaten schrieb man nun nicht mehr ihrer innern göttlichen Natur, sondern äußerer Hilfe und äußern Mitteln zu, welche ihnen die Götter an die Hand gegeben. Solche zu Heroen umgeschaffene mythische Personen sind z. B. bei den Griechen Achilleus, Perseus, Herakles, Helena, Danae etc., bei den Deutschen Siegfried, Dietrich, Hagen, Brunhilde etc. Mit der Zeit nun lieben diese Heroen eine Verbindung mit geschichtlichen Erinnerungen einzugehen; der Mythus wird lokalisiert, und Göttliches und Menschliches fließen in ein Bild zusammen. Sagen von der Göttin Berchta z. B. lehnten sich an Karl d. Gr. und das Haus der Karolinger an, und von Kaiser Heinrich III. erzählte man bald nach seinem Tod eine Begebenheit, welche ursprünglich dem Gewittergott zukam. Wachsen auf diese Weise größere und lebendige Mythen mit Erinnerungen aus dem glänzenden Heldenalter, welches dem Eintritt hoch organisierter Völker in das helle Licht der Geschichte gewöhnlich vorauszugehen pflegt, zusammen, so entsteht eben die Heldensage, deren sich der Volksgesang bemächtigt, um aus ihr seine ewigen Schöpfungen zu formen. Homers Dichtungen, das Mahâbhârata der Inder, unser Nibelungenlied etc. verdanken wir diesem Bildungsprozeß (Mannhardt). Daß die deutsche Heldensage bereits im frühern Mittelalter dichterische Gestaltung gewonnen, dafür liegen mehrfach Zeugnisse vor; im 12. und 13. Jahrh. tritt sie in vollständig erhaltenen Dichtungen auf und zwar zunächst in den beiden großen Epopöen: »Nibelungenlied« und »Gudrun«, sodann in zahlreichen kleinern Heldengedichten, die jenen gewöhnlich unter dem Gesamttitel: »Heldenbuch« (s. d.) gegenübergestellt werden. Der Lokalität nach scheidet man die Gesamtheit der deutschen Heldensagen in verschiedene (gewöhnlich sechs) Sagenkreise, die jedoch in einzelnen Dichtungen ineinander spielen und Verbindungen eingehen. Es sind dies: 1) der niederrheinische oder fränkische Sagenkreis, von Siegfried (s. d.), aus welchem jedoch nur das »Lied vom hürnen Siegfried« in einer späten Bearbeitung übriggeblieben; 2) die ostgotische Sage, deren Held Dietrich von Bern (s. d.) ist, und welcher die Gedichte: »Dietrich und seine Gesellen«, »König Laurin«, »Der Rosengarten«, »Dietrichs Flucht«, »Alpharts Tod«, »Die Rabenschlacht« u. a. angehören; 3) der burgundische Sagenkreis, von Gunther (s. d.), welcher als Hauptdichtung das »Nibelungenlied« umfaßt; 4) der hunnische, von König Etzel (s. d.) und den Helden Rüdiger, Iring, Irnfried etc.; 5) der langobardische, welcher die Sagen von König Rother, Ortnit, Hugdietrich, Wolfdietrich und Saben begreift, und 6) der nordisch-sächsische Sagenkreis, von Hettel, Herwig und Gudrun. Weiteres s. Deutsche Litteratur (S. 733 f.). Vgl. W. Grimm, Die deutsche Heldensage (2. Aufl., Berl. 1868); Grässe, Die großen Sagenkreise des Mittelalters (Dresd. 1842); Raßmann, Die deutsche Heldensage (Hannov. 1857, 2 Bde.); W. Müller, Mythologie der deutschen Heldensage (Heilbr. 1886); Mörner, Die deutschen und französischen Heldengedichte des Mittelalters als Quelle für die Kulturgeschichte (Leipz. 1886).