Heilgymnastik
(Kinesiatrik,
Kinesitherapie), im
Gegensatz zu dem
Turnen gesunder
Personen
Leibesübungen, welche zur
Heilung
von
Krankheiten ausgeführt werden. Die Heilgymnastik
in diesem
Sinn ist eins der wirksamsten therapeutischen
Mittel
auf dem Gebiet der
Orthopädie. Sie hat es zu thun mit der Beseitigung krankhafter Zustände des Bewegungsapparats, der
Muskeln,
[* 2] Knochen
[* 3] und
Gelenke, und zwar richtet sie sich nicht sowohl gegen den ursprünglichen Krankheitsprozeß in diesen Teilen selbst
als vielmehr gegen die übeln
Folgen, welche derselbe in Gestalt von
Verkrümmungen, fehlerhafter
Haltung
etc. des
Rumpfes und einzelner
Glieder
[* 4] zurückgelassen hat.
Das
Prinzip der Heilgymnastik
ist wissenschaftlich wohl begründet. Da nämlich jede Körperstellung, die beabsichtigte
normale wie die fehlerhafte
Haltung, welche der Kranke auch gegen seinen
Willen einnimmt, aus dem Zug
meist mehrerer
Muskeln und
dem Gegenzug ihrer Antagonisten resultiert, so wird das
Resultat, d. h. die Körperhaltung, sich ändern,
wenn die
Stärke
[* 5] des
Zugs von seiten des einen und andern Muskels geändert wird. Sind einzelne
Muskeln zu schwach, um die von
ihnen geforderte Leistung auszuüben, so müssen sie gekräftigt werden, und das geschieht durch methodische, fortschreitend
gesteigerte Übung, d. h. Bethätigung der
Muskeln. Ein
Muskel, welcher arbeitet, wird auch entsprechend
ernährt, wird also um so kräftiger werden, je mehr er arbeitet, und umgekehrt wird die
Ernährung und
Kraft
[* 6] eines Muskels,
welcher sich nicht bethätigt, mit der Zeit vermindert werden. Die Art, wie wir unsre
Muskeln
¶
mehr
gebrauchen, hat aber den größten Einfluß auf die Gestalt der Knochen und der Gelenke. Durch fehlerhaften Muskelzug können die Knochen sich ganz allmählich, zumal während der Wachstumsperiode, aber auch noch später bei dem Erwachsenen, verkrümmen, die Gelenkköpfe und Gelenkgruben eine fehlerhafte Gestalt und falsche Stellung zu einander annehmen. So wie nun hier die falsche Thätigkeit der Muskeln gegen den Willen des Kranken zu Verkrümmungen der Glieder etc. führt, so wird eine absichtliche, methodisch fortgesetzte Übung der entsprechenden Muskeln auch das Gegenteil, nämlich Rückbildung der falschen Haltung zur normalen Stellung und Form, zu bewirken vermögen.
Dasselbe Ziel verfolgt die schwedische Heilgymnastik
, deren systematische Anwendung auf den Schweden
[* 8] Pehr Henrik Ling
(s. d.) zurückzuführen ist; nur legt sie einen besondern Wert auf die passiven,
d. h. durch den Arzt mit den Gliedern des Patienten methodisch ausgeführten, Bewegungen gewisser Muskelgruppen, durch welche
sie auf die Blutverteilung und überhaupt auf die Kreislaufsverhältnisse in allen Körperteilen einzuwirken
sucht, um auf diese Weise die Ernährungsvorgänge, somit auch krankhafte Prozesse, zu beeinflussen und je nach Lage des Falles
im Sinn der Heilanzeige zu regulieren.
Dieses Prinzip der schwedischen Heilgymnastik
ist ein ganz richtiges, und es kommt nur darauf an, wie man es ausführen, gegen welchen
Teil man es richten, mit welchen Bewegungen man auf denselben einwirken will. Man sieht leicht ein, daß
nur ein wissenschaftlich durchgebildeter Arzt im stande sein wird, das an sich richtige Prinzip auf jeden Einzelfall richtig
anzuwenden. Außerdem benutzt die schwedische auch noch andre Methoden; namentlich sucht sie durch methodisches Kneten (Massage,
s. Knetkur), Drücken und Klopfen der äußerlich zugänglichen Teile die Bewegungen ganzer Glieder in den
Gelenken zu ersetzen.
Vgl. Rothstein, Die Gymnastik nach dem System des schwedischen Gymnasiarchen P. Heilgymnastik
Ling (Berl. 1848-59, 5 Hefte);
Schreber, Kinesiatrik oder die gymnastische Heilmethode (Leipz. 1852);
Derselbe, Ärztliche Zimmergymnastik (19. Aufl., das. 1884);
Eulenburg, Die schwedische Heilgymnastik
(Berl. 1853);
Seeger, Diätetische und ärztliche Zimmergymnastik (Wien [* 9] 1878);
Unman, Die schwedische Heilgymnastik
(Hamb. 1880);
Averbeck, Die medizinische Gymnastik (Stuttg. 1882);
Barwinski, Die Gymnastik als Erziehungs- und Heilmittel (Weim. 1886).