Titel
Havarie
(Havarei,
Haverei, franz.
Avarie, engl. Average, ital., span.
und portug. Avaría), im allgemeinen Bezeichnung für
Schäden und Unkosten, welche während einer Seereise
Schiff
[* 2] und
Ladung
treffen. Sind solche lediglich durch einen Unfall verursacht, so spricht man von partikulärer oder besonderer Havarie
(avarie
particulière, particular average), welche von dem dadurch betroffenen
Eigentümer des
Schiffs oder der
Ladung zu tragen ist (deutsches
Handelsgesetzbuch, Art. 703). Handelt es sich dagegen um
Schäden und
Kosten, welche auf der
Seefahrt im allgemeinen
Interesse erwachsen, so spricht man von gemeinschaftlicher Havarie
(avarie commune), bei welch letzterer
wiederum zwischen kleiner und großer Havarie
unterschieden wird.
Als kleine oder ordinäre Havarie
(avarie ordinaire, petty average) bezeichnet man nämlich die
Unkosten, welche durch die Seereisen an und für sich verursacht werden, wie
Lotsen-,
Hafen-, Leuchtfeuergeld, Schlepplohn,
Quarantänegelder, Auseisungskosten u. dgl. Das
allgemeine deutsche
Handelsgesetzbuch behandelt aber derartige Unkosten nicht als Havarie
, bestimmt vielmehr (Art. 622), daß sie
von dem Verfrachter allein zu tragen sind. Die eigentliche Havarie
, welche (und zwar abgesehen
von dem größern oder kleinern Betrag des
Schadens) große oder extraordinäre Havarie
(avarie grosse, general average) genannt
wird, setzt dagegen einen Verlust voraus, der durch das gemeinsame
Interesse geboten war und ebendarum auch von den
Interessenten
gemeinschaftlich zu tragen ist.
Dieses Rechtsinstitut verdankt einem in das römische Recht übergegangenen Gesetz der Insel Rhodos über den sogen. Seewurf (lex Rhodia de jactu) seine Entstehung. Hiernach sollten für den Fall, daß in gemeinsamer Seenot zur Erleichterung des Schiffs Waren über Bord geworfen worden, alle, welche bei der Rettung des Schiffs mit interessiert (omnes, quorum interfuit jacturam fieri), den Schaden tragen helfen, ein Grundsatz, welcher dann in der Praxis des Seehandelsrechts auch auf andre Schäden und Kosten gleicher Art übertragen wurde.
Nach dem allgemeinen deutschen
Handelsgesetzbuch insbesondere sind die Voraussetzungen der großen Havarie
folgende (Art. 702):
1) Eine wirkliche
Seegefahr, welche
Schiff und
Ladung gemeinsam bedrohte, gleichviel ob durch Verschulden
eines Dritten oder eines Beteiligten, oder durch bloßen
Zufall herbeigeführt; nur daß der Schuldige im erstern
Fall noch
außerdem für den
Schaden haftet, auch, wenn er ein Beteiligter ist, für den speziell von ihm erlittenen
Schaden keine Vergütung
beanspruchen kann (Art. 704). 2) Ein Verlust, welcher dem
Schiff oder der
Ladung absichtlich durch den
Schiffer oder auf dessen Geheiß zum
Zweck der Rettung zugefügt wurde. Das
Handelsgesetzbuch zählt in dieser Beziehung (Art.
708) folgende
Hauptfälle (jedoch nur beispielsweise) auf: das Überbordwerfen von
Waren, Schiffsteilen oder Schiffsgerätschaften;
das
Kappen von
Masten, Wegschneiden von
Tauen oder
Segeln, das
Schlippen und
Kappen von
Ankern, Ankertauen oder
Ankerketten; das Überladen der
Ladung zur Erleichterung des
Schiffs auf Leichterfahrzeuge; die absichtliche
Strandung; das
Einlaufen in einen
Nothafen; die
Verteidigung gegen Feinde oder Seeräuber, die dabei vorgekommenen
Beschädigungen des
Schiffs
oder der
Ladung, die dabei verbrauchte
Munition, die
Heilungs- und Begräbniskosten der Verwundeten und
Gefallenen von der
Schiffsmannschaft; die Loskaufung des
Schiffs sowie die
Kosten, welche durch Beschaffung der zur
Deckung der
großen Havarie
während der
Reise erforderlichen
Gelder erwachsen.
3) Erfolg dieser Maßregeln, also gänzliche oder doch teilweise Errettung des Schiffs und der Ladung aus der Gefahr. Der so entstandene Schade ist von allen denjenigen in verhältnismäßiger Weise zu tragen, zu deren Vorteil jenes Opfer gereichte, also auch mit ¶
mehr
von dem, dessen Gut geopfert wurde. Denn dieser erhält statt des letztern die Entschädigung, muß daher mit diesem Gewinn
zu dem Verlust mit beitragen. Nach dem Handelsgesetzbuch (Art. 725) tragen zur großen Havarie
nur die Kriegs- und Mundvorräte
des Schiffs, die Heuer, d. h. der Lohn des Schiffsvolkes, und die Effekten der Schiffsbesatzung sowie die
Reiseeffekten der Reisenden nicht mit bei. Dagegen tragen bei, d. h. kommen bei der verhältnismäßigen.
Reparation des Schadens in Anbetracht: das Schiff nach seinem Wert am Ende der Seereise mit Hinzurechnung des Havarie
schadens,
ferner die Ladung sowohl mit den bei der Löschung vorhandenen als auch mit den aufgeopferten Gütern,
endlich die Frachtgelder mit zwei Dritteln des Bruttobetrags und dem Betrag, welcher als Havarie
in Rechnung kommt
(Art. 718-724). Der Nachweis einer großen Havarie
ist von dem Schiffer durch die sogen. Verklarung (rapport [maritime], extended
protest) zu bewirken, d. h. durch einen im Bestimmungshafen oder im Nothafen auf Grund des Schiffsjournals
bei dem zuständigen Gericht eidlich zu erstattenden Bericht des Schiffers und zeugeneidliche Vernehmung der Mannschaft.
Die Berechnung des Schadens und der Ersatzbeträge heißt Dispache. Sie wird durch ständige oder für den einzelnen Fall bestellte
Dispacheure »aufgemacht«. Nach dem Bundes- (Reichs-) Gesetz vom über die Bundes- (Reichs-) Konsuln
sind letztere zur Aufnahme der Verklarung und zum Aufmachen der Dispache befugt. Wichtig sind die Bestrebungen zur Herstellung
eines gemeinsamen Havarie
rechts aller seefahrenden Nationen, welche namentlich von der Gesellschaft für Reform und Kodifikation
des Völkerrechts ausgehen.
Schon auf einem Kongreß dieses Vereins in York 1864 wurden diesbezügliche Resolutionen aufgestellt, welche
die Grundlage der 1877 zu Antwerpen
[* 4] formulierten zwölf Regeln (York and Antwerp rules) bilden. Diese Regeln, im wesentlichen
mit den Bestimmungen des deutschen Handelsgesetzbuchs übereinstimmend, werden seit 1879 namentlich vom Norddeutschen Lloyd
zur Anwendung gebracht. Auch eine Kommission des Bundesrats empfahl dieselben als die Grundlage eines allgemeinen Havarie
rechts.
Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 702-735; v. Kaltenborn, Seerecht, Bd. 2 (Berl. 1851);
Voigt, Die neuen Unternehmungen zum
Zweck der Ausgleichung der Verschiedenheiten der in den Seestaaten geltenden Havarie
grosse- und Seefrachtrechte (Jena
[* 5] 1882);
Ulrich, Große Haverei; die Gesetze und Ordnungen der wichtigsten Staaten (Berl. 1884).