Hausindustrie
,
s. Fabriken.
Hausindustrie - Hausma
Hausindustrie
2 Seiten, 1'195 Wörter, 9'563 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Hausindustrie,
s. Fabriken.
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Hausindustrie
ist diejenige gewerbliche Betriebsform, welche mit der Arbeit in eignen Räumen auf den Absatz der Massenproduktion
durch Vermittelung der Großhändler für den Vertrieb im großen gerichtet ist. Da die hausindust
rielle Betriebsform einen
Gegenstand darstellt, der sozusagen im Flusse der Zeiten steht, so umfaßt selbst der engere Begriff derselben
als historischer Begriff eine Reihe von Entwickelungsstufen. Ursprünglich bildete der Hausarbeiter eine wirtschaftliche Einheit,
deren Produktion und Konsumtion unter einem Dache sich vollzogen.
Als dann die häusliche Gewerbthätigkeit über den Bedarf der eignen Familie hinausging, suchte der Hausarbeiter zunächst
selbständig Absatz außerhalb der letztern und trat schließlich unter Zuhilfenahme fremder Vermittler
mit der Massenherstellung gleichartiger Erzeugnisse in den Austausch des Weltmarktes ein. Sobald der Hausindust
rielle selbständig
auf dem Markte erschien, wurde aus ihm ein Kleingewerbtreibender, dessen Entwickelung zum Fabrikanten nur eine Frage der Zeit
und der Glücksfälle war. Lediglich als Unterschiede der Gewerbearten, nicht aber der Betriebsformen
selbst sind die verschiedenen Gruppen zu betrachten, in welchen einerseits die Besonderheit des Arbeitsortes, anderseits die
Besonderheit der Arbeitsart sowie die Eigenart des Absatzes, die Beschaffung des Rohstoffes und der Werkzeuge
[* 2] oder die Vereinigung
mehrerer dieser Bedingungen hervortritt.
Eine zuverlässige und anfechtungslose Statistik über die Hausindustrie
konnte bis jetzt nicht gewonnen werden,
da anläßlich der bezüglichen Erhebungen die Angaben der Hausindust
riellen selbst und die der Arbeitgeber beträchtliche
Abweichungen voneinander zeigten. Nach der Reichsstatistik kommen auf 1000 Einw. im Reich ungefähr 10,5 Hausindust
rielle.
Die Gesamtzahl aller Hausarbeiter im Deutschen Reiche beziffert sich auf etwa 500,000. Durchschnittlich
arbeiten in der Hausindustrie
43,9 Proz. weibliche Personen.
Ausflußgeschwindigkeit
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Ausfluß.
Diese Ziffer steigert sich in Gewerbezweigen, welche gleichsam einen Ausfluß
[* 3] weiblicher Handarbeit darstellen, z. B. in der
Häkelei und Stickerei, Näherei, Putzmacherei, Plätterei und Wäscherei, in der Spitzenindustrie, Konfektion, bei den Seidenfilanden,
Verfertigung von Krawatten und Handschuhen etc., bis zu 90 Proz., während
anderseits bei der Verarbeitung von Eisen,
[* 4] Blech, Holz,
[* 5] Leder etc. fast ausschließlich Männer beschäftigt sind. Die Kinderarbeit
hat in der Hausindustrie
nach vorhandenen Monographien eine sehr große Ausbreitung gewonnen; offenbar unrichtig sind in dieser Hinsicht
die Angaben der offiziellen Berufsstatistik, welche einen Prozentsatz von
1,3 ergeben.
Die Entstehung der Hausindustrie
ist teils auf das Territorium, die Unfruchtbarkeit des Bodens und im Zusammenhang
hiermit auf den geringen Ertrag der Landwirtschaft, Reichtum an Wasserläufen, Vorhandensein entsprechenden Rohmaterials, Mangel
an guten Verkehrswegen etc. sowie auf soziale Ursachen zurückzuführen. Neben diesen Ursachen allgemeiner Natur waren besondere
Umstände, wie das vorübergehende Bedürfnis einer aufstrebenden Industrie, die Ergänzung geschlossener
Unternehmungen durch dezentralisierten Betrieb, von Einfluß auf die Entstehung der Hausindustrie
Begrifflich
kann dieselbe nur gedacht werden, indem eine Hausarbeit in ihrem Umfang und ihrem Charakter zur Industrie sich entwickelt, oder
umgekehrt, indem eine Industrie nachträglich bestimmte Teilarbeiten aus dem Betrieb heraus in die Hausarbeit verlegt.
Königreich Sachsen
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Sachsen. In Bezug auf die Topographie der Hausindustrie
hat man festgestellt, daß die letztere ihren Ursprung und Sitz zum weitaus größten
Teile an den Abhängen und auf dem Gebirge des mitteldeutschen Berglandes, insonderheit in den Bezirken des oberrheinischen
Gebirgssystems sowie im Riesengebirge, im Erz- und Fichtelgebirge, auf dem Thüringer Wald und dem Schwäbischen
und Fränkischen Jura, hat. Das Zentrum der Hausindustrie
ist das Königreich Sachsen.
[* 6] Nach O. hin ist die Leinen- und Baumwollindustrie in
den Bezirken von Bautzen,
[* 7] Liegnitz,
[* 8] Breslau,
[* 9] nach W. die Strumpfwarenfabrikation sowie die Baumwoll- und Wollindustrie von Zwickau,
[* 10] Leipzig,
[* 11] den beiden Reuß
[* 12] und Sachsen-Weimar, in und um Erfurt
[* 13] und Schaumburg-Lippe auch die Leinenindustrie
hauptsächlich vertreten.
Thüringen hat vornehmlich Spielwarenindustrie und Korbflechterei; in den Regierungsbezirken Düsseldorf
[* 14] und Aachen
[* 15] am Niederrhein
steht die Seidenbranche und die Verfertigung von eisernen Kurzwaren im Vordergrund. Holz- und Strohflechterei, Häkelei und Stickerei
sind in Lothringen und Unterelsaß, Uhrenfabrikation und Schuhmacherei im Schwarzwaldkreis; in Bremen
[* 16] Tabaksfabrikation
und in Berlin
[* 17] Bekleidungsindustrie vertreten. Im Ausland ist die Hausindustrie
in größerm Umfang anzutreffen in den holzreichen Gebirgsthälern
von Südtirol, auf dem böhmisch-mährischen Hügelland, den Beskiden und Karpathen sowie auf dem siebenbürgischen Hochland,
in Böhmen
[* 18] und auf dem Böhmerwald, in Österreich-Ungarn
[* 19] überhaupt, in der Schweiz
[* 20] (an den Abhängen der
Alpen
[* 21] und in den Thälern des Juragebirges), in Frankreich, England, Rußland etc.
Hauslab - Hautgifte
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Seite 18.420. Hinsichtlich des sozialen Charakters hat die hausindustrielle
Betriebsform neben großen Vorzügen auch augenfällige Schattenseiten,
wie: mangelhafte Konkurrenz- und Produktionsfähigkeit, Schwerfälligkeit und Indolenz gegenüber den wechselnden Anforderungen
der Zeit und der Technik, große Schwankungen der Löhne und damit zusammenhängend unsichere wirtschaftliche
Grundlage, Ausbeutung seitens der Unternehmer und Zwischenhändler (Verleger, Faktoren, Fercher), unbeschränkte Arbeitszeit
aus Mangel an gesetzlicher Kontrolle, ungenügende und ungesunde Arbeits- und Wohnungsverhältnisse, Korruption des Lehrlingswesens,
frühes Selbständigwerden und vorzeitige Heiraten, stellenweise Erschlaffung des moralischen Gefühls infolge trauriger Notstände,
Hilflosigkeit bei eintretendem Unglück u. dgl.
m. Dem gegenüber sind als Vorzüge der hausindustriellen
Betriebsform zu nennen:
individuelle Selbständigkeit und Freiheit, Zusammenhang der Familie und bessere Erziehung durch die sittigende Kraft
[* 22] der letztern,
Gesundheitspflege durch die
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ausgleichende Abwechselung zwischen Hauswirtschaft und Ackerwirtschaft, Widerstandsfähigkeit gegen schwere Krisen des Handels
wegen großer Elastizität, Möglichkeit des Verdienstes sämtlicher Familienmitglieder, ohne daß das natürliche Maß der
Kräfte überschritten zu werden braucht. In vielen Fällen bildet auch das Gefühl der Selbständigkeit und das Eigentumsgefühl
einen Damm gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie und gegen die zu starke Zentralisation der Kapitalien,
weil die Hausindustrie
einen breiten Mittelstand mit guten sozialen Kräften in sich schließt, der die Grenzen
[* 24] der Klassenordnungen verwischt.
Trotzdem sind in den letzten Jahren viele Bezirke mit hausindustrieller
Bevölkerung
[* 25] der sozialdemokratischen Agitation zum Opfer
gefallen. Es hat dies seinen Grund einerseits in der allgemeinen Anreizung durch das parlamentarische
Verfassungsleben und die dadurch bewirkte Unabhängigkeit der politischen Gesinnung sowie in der nur durch äußere Mittel
erschwerten Aufreizung durch berufsmäßige Agitatoren, anderseits in der Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen Grundlagen,
dem Verschwinden patriarchaler Erwerbsformen überhaupt, dem lockern Verhältnis zwischen Hersteller und Vertreiber der Waren
und in einem gewissen Pessimismus gegenüber dem siegreichen Fortschreiten des maschinellen Großbetriebs.
Maß
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Maßstab. Da die hausindustrielle
Betriebsform infolge der rasch aufeinander folgenden Einführung neuer, verbesserter Produktionsmethoden
und der ungeahnt schnellen Überflügelung der volkswirtschaftlichen Organisationstechnik durch die moderne Maschinentechnik
in mancher Hinsicht den allgemeinen Bedingungen der modernen Fabrikationsart nicht mehr entspricht, so ist
ihre Existenz erschüttert und in vielen Zweigen der Bestand derselben sogar gänzlich in Frage gestellt. In größerm Maßstab
[* 26] ist die Hausindustrie gegenwärtig nur noch vorhanden für einen Teil der Eisenindustrie, der Textilindustrie, Spielwarenindustrie,
Samt- und Seidenindustrie, der Weißstickerei, Strohflechterei, Holzschnitzerei, Marmorschleiferei, Goldwarenindustrie, Glaswarenindustrie,
Blumenindustrie etc. Im allgemeinen darf die Behauptung aufgestellt werden,
daß, wo die Maschine
[* 27] billiger, besser und mehr produziert, die Handarbeit zu gunsten des zentralisierten Fabrikbetriebs aufhören
muß.
Nur auf kunstgewerblichem Gebiet und hinsichtlich der Erzeugung von Luxus- und Modeartikeln, die, für das individuelle Bedürfnis bestimmt, einem raschen Verbrauch unterliegen und eine individuelle Behandlung erfordern, wird sich die hausindustrielle Betriebsform auch für die Folge noch behaupten. Etwanige Reformen zu gunsten der Hausindustrie müssen in dem Bewußtsein erfolgen, daß die Hausindustrie nur eine historische Form der Produktion ist, welche ihre Zeit zum größten Teile erfüllt hat, indem sie den Übergang zum zentralisierten Fabrikbetrieb vorbereitete. Soweit sich solche Maßnahmen auf das Individium beziehen, ist es Pflicht der Gerechtigkeit, wie solche in der Bestimmung unsrer Staatsordnung liegt, den Übergang der brotlos gewordenen Heimarbeiter zu andern Erwerbsquellen nach Möglichkeit zu erleichtern.
Vgl. Schmoller, Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jahrhundert (Halle [* 28] 1870);
»Schriften des Vereins für Sozialpolitik: Die deutsche Hausindustrie«, Bd. 39 ff.; Daselbst: Stieda, Litteratur, heutige Zustande und Entstehung der deutschen Hausindustrie, Bd. 1; Ziegler, Die sozialpolitischen Aufgaben auf dem Gebiete der Hausindustrie (Berl. 1890).