Titel
Harnruhr
(Diabetes) bezeichnet zwei große
Gruppen von
Krankheiten des gesamten
Stoffwechsels, deren hauptsächlichstes
Merkmal in einer
Vermehrung der Harn
menge
(Polyurie) besteht. Bei der ersten, der
Zuckerharnruhr
(Diabetes mellitus), ist die
tägliche
Menge des
Harns meistens auf das
Doppelte oder
Dreifache vermehrt; zuweilen ist die
Polyurie geringer, aber
das Wesentliche dieser Form der Harnruhr
beruht auf dem
Gehalt des
Harns an gärungsfähigem
Traubenzucker, seltener an nicht gärungsfähigem
Muskelzucker
(Inosit).
Diesem Zuckergehalt entsprechend, zeigt der
Harn ein hohes
spezifisches Gewicht von 1020-1050 und darüber. Bei der zweiten
Form der Harnruhr
, dem
Diabetes insipidus (geschmacklose, d. h. nicht süß schmeckende, Harnruhr
), steigt
die Harnmenge oft auf 10-15
Lit. täglich, der
Harn ist farblos, kaum spezifisch schwerer als
Wasser, er wiegt
ca. 1005, enthält
keine abnormen
Bestandteile. In sehr seltenen
Fällen geht die erste Form der Harnruhr
in die zweite über, sonst sind es durchaus
verschiedene, nach Ursprung und
Wesen noch wenig bekannte
Prozesse.
1) Die
Zuckerharnruhr beruht auf einer
Vermehrung des schon im normalen
Blut vorhandenen
Zuckers von 0,1 Proz. auf 0,3 Proz.
und darüber, wobei der überschüssige
Zucker
[* 2] durch die
Nieren ausgeschieden wird. Nicht jede solche Zuckerausscheidung ist
eine Harnruhr
, sondern man bezeichnet leichte
Grade derselben und vorübergehende Zustände der Art, wie sie
bei
Vergiftungen mit
Curare, Kohlenoxydgas,
Amylnitrit, Orthonitrophenylpropiolsäure, Methyldelphinin,
Blausäure,
Schwefelsäure,
[* 3] Morphium, Chloralhydrat,
Quecksilber,
Alkohol oder bei
Cholera,
Milzbrand,
Scharlach etc. zuweilen vorkommen, als
Glykosurie oder
als
Meliturie.
Dennoch ist eine scharfe
Grenze nicht zu ziehen, da eine
Glykosurie bei
Neuralgien oder
Gehirnerschütterung zuweilen in wirklichen
Diabetes mellitus übergeht. Die
Krankheit betrifft vorzugsweise das höhere
Lebensalter vom 40.-60. Jahr,
kommt jedoch in besonders schwerer Form zuweilen im 10.-20. Lebensjahr vor; fast zwei Dritteile fallen auf das männliche
Geschlecht. Unter den
Ursachen gelten
Erblichkeit,
Störung der Nerventhätigkeit, heftige und dauernde
Gemütsbewegungen, Kopfverletzungen,
Erkältungskrankheiten
,
Syphilis,
Gicht als nähere oder entferntere Anlässe, ohne daß über den Zusammenhang
Klarheit bestände.
Die Dauer der Harnruhr
schwankt zwischen einigen
Monaten und vielen
Jahren, die schweren
Fälle enden nach 1-2
Jahren tödlich, die
Gefahr ist bei jugendlichen
Personen im allgemeinen weit größer als im
Alter. Der Verlauf beginnt oft unmerklich, so daß
die
Krankheit meistens erst erkannt wird, wenn einer der Folgezustände der Harnruhr
auftritt,
sei es der
Marasmus oder
Karbunkel oder Juckreiz an den
Genitalien, Sehstörungen,
Nierenentzündung,
Lungenbrand oder
Lungenschwindsucht.
Bei vielen Kranken machen sich sehr starker Durst, Heißhunger und ein eigentümlicher Apfelgeruch des Atems (Acetonämie) bemerkbar. Sobald der Zuckergehalt im Harn festgestellt ist (s. Zuckerprobe), richtet sich die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Nahrung, aus welcher Zucker und zuckerbildende Substanzen, Stärke, [* 4] Kartoffeln, Brot [* 5] soweit wie möglich entfernt werden müssen, da es wahrscheinlich ist, daß der Zucker der Nahrung die Leber unverbraucht und unzersetzt passiert und direkt ins Blut und dann in den Harn übergeht.
Durch richtige
Diät läßt sich oft ein Zuckergehalt von 7 Proz. und mehr auf 1 Proz.
oder bis auf
Spuren herabsetzen. In leichten
Fällen verschwindet der
Zucker auch wohl ganz oder kehrt erst nach
Monaten wieder,
wenn die Kranken inzwischen die strenge
Diät verlassen haben (intermittierender
Diabetes). Die Harnruhr
endet
in einer Minderzahl von
Fällen mit völliger
Heilung, meistens führt sie nach längerm Verlauf zum
Tod. Ein Teil der Kranken
erliegt einem der aufgezählten Folgezustände, namentlich der
Schwindsucht, ein andrer geht an einem Schlaganfall
(Gehirnblutung)
zu
Grunde, in den akuten
Fällen tritt der
Tod ein während eines Anfalls schwerer
Bewußtlosigkeit
(Coma
diabeticum).
Kein
Organ zeigt eine ganz bestimmte, nur der Harnruhr
eigentümliche Veränderung, namentlich erweist sich die
Leber, das Hauptorgan
für die Glykogenbildung, meist ganz normal, nur in den
Nieren findet sich eine abnorme Abscheidung von
Glykogen. In manchen
Fällen kommen
Blutungen im vierten Gehirnventrikel zur
Beobachtung nahe dem Ursprung des
Nervus
Vagus, welcher
die
Herzthätigkeit regelt und auch die
Atmung und
Verdauung beeinflußt; dieser Befund ist deshalb besonders bemerkenswert,
als es
Claude
Bernard gelungen ist, bei
Tieren durch
Verletzung dieser
Stelle künstlich Harnruhr
hervorzurufen.
Was die Behandlung der Zuckerharnruhr betrifft, so sind die verschiedensten Mittel und Kurmethoden in der Hauptsache erfolglos angewendet worden. Von günstigem Einfluß (aber sehr gegen die Neigung der Kranken) ist es, wenn sich dieselben an eine vorzugsweise animalische Kost halten und möglichst wenig stärkemehl- und zuckerhaltige Nahrung zu sich nehmen. Als Ersatz des Zuckers ist das intensiv süß schmeckende Saccharin empfohlen worden. Unter den Arzneimitteln bewirken neben Opiaten die kohlensauren Alkalien eine sichere, aber geringe Verminderung der Zuckerausscheidung. Im besten Ruf steht der Gebrauch der Quellen von Karlsbad und Vichy. Bei einer mehrwöchentlichen Trinkkur in Karlsbad verschwindet der Zucker aus dem Harn, das Körpergewicht nimmt zu, Durst und Urinabscheidung vermindern sich. Freilich ist dieser Erfolg ein nur vorübergehender. Radikalmittel gibt es bis jetzt nicht.
2) Die geschmacklose Harnruhr
(Diabetes insipidus) besteht gleichfalls in überreichlicher Harnausscheidung und maßlosem
Durst,
aber der
Harn enthält weder
Zucker noch andre fremdartige
Bestandteile. Da auch diese Form der Harnruhr
nicht an die Erkrankung eines
bestimmten
Organs gebunden ist, so bestehen über ihr
Wesen nur
Vermutungen; sie kommt bei Männern öfter
vor als bei
Frauen, in früher Lebenszeit öfter als im
Alter. Durch
Haut
[* 6] und
Lungen scheiden die Kranken nur sehr wenig
Flüssigkeit
aus.
Dabei trinken sie angeblich 60-80
Schoppen in 24
Stunden. Auch das Hungergefühl ist bei der geschmacklosen Harnruhr
beträchtlich
gesteigert. Bei manchen Kranken bleiben das Allgemeinbefinden und der Zustand ihrer
Kräfte längere Zeit hindurch ungestört.
Bei andern treten frühzeitig
Verdauungsbeschwerden,
Magenschmerz,
Erbrechen, unregelmäßiger Stuhlgang,
Abmagerung und Schwächegefühl
auf. Verlauf und Dauer der
Krankheit sind verschieden.
Bald entwickelt sie sich allmählich, bald tritt sie plötzlich ein.
Häufig kommen vorübergehende Besserungen vor. Gewöhnlich dauert die
Krankheit viele Jahre an, ohne
das
Leben zu
¶
mehr
bedrohen. Nur selten scheint die Krankheit an sich, ohne daß eine Komplikation hinzutritt, durch Erschöpfung zu töten; meist
schließt sich ihr eine Lungenschwindsucht oder Lungenentzündung an, manche Kranke sterben an Krebsgeschwülsten. Ebenso muß
es aber auch als eine Ausnahme angesehen werden, wenn einmal eine vollständige und dauernde Heilung der geschmacklosen
Harnruhr
erfolgt. Unter den vielfachen, meist erfolglos angewandten Mitteln gegen die geschmacklose Harnruhr
stehen das Opium und der Baldrian
in erster Linie.
In den meisten Fällen suchen die Kranken überhaupt keine ärztliche Hilfe nach.
Vgl. Willis, Krankheiten des Harnsystems (deutsch, Eisenach [* 8] 1841);
Strauß,
[* 9] Die einfache zuckerlose Harnruhr
(Tübing. 1870);
Seegen, Der Diabetes mellitus (2. Aufl., Berl. 1875);
Frerichs, Über den Diabetes (das. 1884);
Hertzka, Die Zuckerharnruhr (Karlsb. 1884);
Cl. Bernard, Leçons de physiologie expérimentale (neue Ausg., Par. 1865);
Derselbe, Vorlesungen über den Diabetes (deutsch von Posner, Berl. 1878);
Pavy, Researches on the nature and treatment of Diabetes (2. Aufl., Lond. 1868).