Handelsbilanz
(Geichgewicht ^[richtig: Gleichgewicht] des Handels), das Verhältnis zwischen der Gesamteinfuhr und Gesamtausfuhr eines Landes. Auf die Ermittelung dieses Verhältnisses Gewicht zu legen, insbesondere den Wert der Gesamteinfuhr mit dem Werte der Gesamtausfuhr zu vergleichen und nach dem Resultat dieser Vergleichung den Volkswohlstand des betreffenden Landes zu beurteilen, hat man erst seit dem Aufkommen des Merkantilsystems (s. d.) angefangen. Die Anhänger des Merkantilsystems bezeichnen ein solches Verhältnis der Wareneinfuhr zur Warenausfuhr, bei welchem diese größer ist als jene, als eine günstige oder aktive und umgekehrt ein Verhältnis, wobei die Einfuhrwerte höher sind als die Ausfuhrwerte, als eine ungünstige oder passive Handelsbilanz; nur die erstere sehen sie als vorteilhaft für den Nationalreichtum an, weil sie wähnen, daß das Mehr der Ausfuhr mit Geld bezahlt werden müsse und so die Geldmenge der Heimat vermehrt, wogegen durch die passive Handelsbilanz dem Land Geld entzogen und somit dessen Verarmung herbeigeführt werde. Ohne die prinzipiellen Irrtümer des Merkantilsystems an dieser Stelle zu kritisieren, beschränken wir uns darauf, den heutigen Standpunkt der Wissenschaft in betreff der Beurteilung der Handelsbilanz kurz zu kennzeichnen. Die alte Schule hat geglaubt, aus dem Stande der Handelsbilanz auf das letzte Ergebnis der Volkswirtschaft, auf die Zunahme oder Abnahme des Gesamtvermögens, schließen zu können. Schon die formalen Grundlagen einer solchen Schlußfolgerung sind aber ganz und gar ungenügend, denn Gegenüberstellung der Ein- u. Ausfuhrwerte kann nur nach den Aufzeichnungen der Handelsstatistik und der Zollregister erfolgen; diese sind stets lückenhaft und genügen nicht, um den richtigen Ausdruck der eigentlich maßgebenden Thatsachen zu geben. Denn erstens liegt in der unvollkommenen Art der Angaben von Menge und Wert der über die Landesgrenzen gelangenden Waren eine stete Quelle des Irrtums; zollpflichtige Waren werden oft geschmuggelt, bei zollfreien ist die Kontrolle der Angabe eine lässige, und insbesondere wird der Export in dieser Beziehung weniger aufmerksam überwacht als der Import; ebenso bringt es die Einrichtung der Zolltarife mit sich, daß nicht jene weitreichende Spezialisierung der Waren erfolgt, welche zu genauen Wertangaben nötig wäre, und das Verfahren, nach welchem die Bewertung erfolgt, sei es die Deklaration oder die Feststellung der Werte durch die Finanz- oder statistischen Behörden, führt selbst bei der sorgfältigsten Verwaltung nur zu annäherungsweise richtigen Ergebnissen. Als zweites Moment tritt hinzu, daß regelmäßig die Waren bei der Ausfuhr aus dem Land, wo sie produziert wurden, mit einem geringern Marktwert erscheinen als bei der Einfuhr in demjenigen Land, wo sie konsumiert werden; denn dort sind sie im Überfluß vorhanden, hier werden sie gesucht; dort lasten vorzugsweise nur Produktionskosten, hier überdies noch alle Transport-, Speditions-, Versicherung- und kaufmännischen Spesen auf denselben. Aus diesen beiden Erwägungen ist erklärlich, daß ein handelsstatistisch nachgewiesener Überschuß der Einfuhrwerte, also eine scheinbar »ungünstige Bilanz«, selbst in Ländern vorkommen kann, die thatsächlich eine Nettoausfuhr haben, und man muß einen Passivsaldo stets mit jenen Einschränkungen auffassen, welche durch die eben erwähnten Umstände geboten sind. Neben diesen formalen bestehen aber sachliche Gründe von größter Tragweite, um den Fehlschluß zu erkennen, welcher etwa aus der Handelsbilanz auf die Wirtschaftszustände eines ganzen Volkes gezogen würde. Internationale Wertübertragungen werden keineswegs ausschließend durch Ein- und Ausfuhr von Waren und Edelmetallen oder Geld, sondern durch eine ganze Reihe von Vorgängen veranlaßt, die einen gewissen aktiven oder passiven Saldo der auswärtigen wirtschaftlichen Beziehungen eines Volkes zur Folge haben. Thatsächlich setzt sich die auswärtige Wirtschaftsbilanz aus folgenden Hauptposten im Credit und Debet zusammen: 1) Einnahmen einer Volkswirtschaft für exportierte und Ausgaben derselben für importierte Waren und Edelmetalle; 2) Einnahmen für Frachtverdienst, Assekuranz etc. von Inländern im Ausland (inländischen Reedern, welche beispielsweise die Schiffahrt zwischen zwei ausländischen Häfen betreiben, oder inländischen Eisenbahngesellschaften, welche einzelne Strecken auf fremdem Territorium betreiben) und anderseits Ausgaben für die Fracht der auf Ausländern gehörigen Verkehrsanstalten eingeführten Waren. 3) Einnahmen aus den auf Rechnung von Inländern im Ausland betriebenen Unternehmungen (z. B. Ertrag einer mit deutschem Kapital in Österreich eingerichteten Spinnerei als Einnahme der deutschen Volkswirtschaft) und umgekehrt Ausgaben an Zinsen und Gewinnen der von Ausländern im Inland betriebenen Geschäfte. 4) Einnahmen an Zinsen und Kapitalrückzahlungen der an das Ausland gewährten Darlehen und umgekehrt Ausgaben für Verzinsung und Amortisierung der im Ausland aufgenommenen Anlehen. 5) Einnahmen aus jenem Aufwand, welchen Ausländer im Inland als Reisende, Einwanderer etc. machen (z. B. zu gunsten der Bilanz Frankreichs jene Summen, welche die in Paris lebenden Fremden dort zurücklassen, oder zu gunsten Amerikas die Kapitalien, welche die Einwanderer mitbringen), und umgekehrt Ausgaben für den Aufwand der im Ausland lebenden Inländer, Verlust von Kapital, das die Auswanderer mitnehmen, etc. 6) Außerordentliche Einnahmen und Ausgaben aus besondern einmaligen Anlässen, wie: Empfangnahme oder Abtragung von Kriegsentschädigungen oder im Ausland gemachter Kriegsaufwand oder Subventionen und Hilfsgelder. 7) Verschiedene Einnahmen und Ausgaben aus den von einem Land ins andre kommenden oder gehenden Pensionen, Legaten, Erbschaften der im Land wohnenden Fremden u. dgl. Die sämtlichen hier angeführten Posten müßten, sofern sie Einnahmen der Volkswirtschaft während eines gewissen Zeitraums sind, in das Aktivum oder »Credit«, sofern sie Ausgaben sind, in das Passivum oder »Debet« derselben statistisch gebucht werden, damit man nach Ablauf dieses Zeitraums, z. B. eines Jahrs, beurteilen könnte, ob die Volkswirtschaft mit einem Saldo zu ihren gunsten oder ungunsten schließt. Dieser Saldo aber muß sich in den Wechselkursen (s. d.) zum Ausdruck bringen, d. h. deren günstigen oder ungünstigen Stand veranlassen, je nachdem er aktiv oder passiv ist.
Man sieht, wie verwickelt jene Veranlassungen sind, welche thatsächlich die Aktivität oder Passivität der Wirtschaftsbilanz bestimmen, und wie einseitig die merkantilistische Theorie von der Handelsbilanz war, welche nur einen einzigen, nämlich nur den ersten, der vielfachen oben angeführten Posten berücksichtigte. Um diese Erscheinungen auch in der wissenschaftlichen Terminologie präziser zu bezeichnen, unterscheidet man heute zwischen a) Warenbilanz (Handelsbilanz im engern Sinn), unter welcher die statistische Gegenüberstellung des Wertes der importierten und exportierten Waren während eines gewissen Zeitraums verstanden wird; b) Zahlungsbilanz (auch
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»Effektenbilanz«), unter welcher man die Gegenüberstellung und das Endergebnis der übrigen internationalen Wertübertragungen aus den oben angeführten Titeln versteht, und endlich c) Wirtschaftsbilanz (Handelsbilanz im weitern Sinn), welche die Gesamtheit aller internationalen Wertübertragungen umfaßt. Die praktische Richtigkeit dieser Unterscheidung ergibt sich aus der Beobachtung der Wirtschaftsbilanz jedes Staats. In Europa haben alle Staaten zusammengenommen stets eine passive Warenbilanz, und dennoch ist Europa der reichste Erdteil, weil es aus den übrigen Titeln eine aktive Zahlungsbilanz hat. Die größte Passivität zeigt und zwar in steigender Höhe Großbritannien seit dem Jahr 1854 (seitdem die real values des Handels neu bestimmt wurden); die Warenbilanz dieses Staats ist im letzten Jahrzehnt durchschnittlich alle Jahre um 114 Mill. Pfd. Sterl. passiv; nach der Theorie der Merkantilisten müßte Großbritannien also schon längst ganz verarmt sein; es hat dagegen einen noch viel höhern Aktivsaldo in der Zahlungsbilanz und zwar aus dem großen überseeischen Reedereigeschäft, dessen Ertrag Giffen auf beiläufig 60 Mill. Pfd. Sterl. jährlich veranschlagt; aus den vielen im Ausland (besonders in Indien) mit britischem Kapital betriebenen industriellen und kommerziellen Unternehmungen, aus den Zinsen und Amortisationen des an die Kolonien, an die europäischen Kontinentalstaaten, nach Süd- und Mittelamerika, Ostindien etc. in der Form von Staatsanlehen, Eisenbahn- und andern Prioritäten besonders im Lauf der letzten 30 Jahre verliehenen Kapitalien, deren Ertrag Giffen auf mindestens 75 Mill. Pfd. Sterl. jährlich schätzt; endlich aus verschiedenen Titeln, worunter insbesondere die von Ostindien zu zahlenden Pensionen der nach zurückgelegter Dienstzeit in England lebenden Zivil- und Militärbeamten des India Government gehören. Die Wechselkurse stehen daher trotz der passiven Handelsbilanz zumeist aus London günstig, und es hat stets die Wahl, die Aktivsaldi seiner Zahlungsbilanz sich durch Waren oder: wenn der Geldstand es erfordert, durch Edelmetallsendungen oder endlich durch neue Kredite, welche es in der That fortwährend dem Ausland gewährt, berichtigen zu lassen. Ähnliche Verhältnisse findet man in der Wirtschaftsbilanz von Frankreich, Holland, Belgien, der Schweiz. Das Deutsche Reich hat in den Jahren 1872-79 eine passive Warenbilanz gehabt, und der Passivsaldo betrug in dieser Zeit jährlich 920 Mill. Mk.; die Höhe desselben beruhte aber zumeist auf einer anerkannt mangelhaften Bewertung der Ausfuhr, teilweise erklärte er sich durch die Folgen der Milliardenzahlung, welche auf die Wareneinfuhr stimulierend wirkte und die Zahlungsbilanz besonders aktiv gestaltete. Seit dem Jahr 1880 ist eine genauere statistische Nachweisung der Exporte eingerichtet worden, und die Warenbilanz ist seither aktiv; der Aktivsaldo betrug im fünfjährigen Durchschnitt von 1880-84: 49 Mill. Mk.; die Ausgleichung durch die Zahlungsbilanz war eine solche, daß in der letztern Epoche die Wechselkurse auf Berlin nicht günstiger standen als in der erstern. Österreich-Ungarn hat seit dem Jahr 1876 eine aktive Warenbilanz (im zehnjährigen Durchschnitt je 88,8 Mill. Guld.), und dennoch steht die Devise Wien so schlecht, und die Verschuldung im Ausland nimmt so zu, daß die Wirtschaftsbilanz im ganzen als durchaus unbefriedigend bezeichnet werden muß, und ebenso finden wir bei Rußland trotz oder vielmehr wegen seiner starken Verschuldung im Ausland in vielen Jahren hohe Exportüberschüsse. Auch viele außereuropäische Staaten, welche dadurch charakterisiert sind, daß ihre Kultivation vorzugsweise durch europäisches Kapital erfolgt, haben eine aktive Warenbilanz, und diese bedeutet für dieselben entweder, daß sie sich noch immer verschulden, oder daß sie mit den Überschüssen ihrer Ausfuhr frühere Kapitalanlagen des Auslandes verzinsen und tilgen. So haben die Vereinigten Staaten in den letzten 20 Jahren (1865-85) nur in 7 Jahren eine passive, dagegen in 13 Jahren eine aktive Handelsbilanz gehabt; in der Zeit nach dem Sezessionskrieg bedeutete die passive eine wirkliche Abnahme des Volksvermögens und Zunahme der Verschuldung; die seit 1874 stets sehr hohen Aktivsaldi (bis zu 269 Mill. Doll. im J. 1879) beruhten dagegen auf großer Erweiterung der produktiven Thätigkeit und rascher Tilgung der im Ausland placierten Staatsschuld. Ein Gleiches gilt von der konstant mit hohen Aktivsaldi schließenden Warenbilanz von Britisch-Ostindien, welches diese Überschüsse zur Abtragung seiner auf jährlich 20-22 Mill. Pfd. Sterl. geschätzten Zins- und Amortisationsquoten und anderer Zahlungsverpflichtungen verwendet.
Aus allgemeinen Erwägungen und aus den angestellten Beobachtungen geht demnach hervor, daß sich weder die Warenbilanz allein noch die Zahlungsbilanz als absoluter Maßstab für die Beurteilung der volkswirtschaftlichen Zustände eines Landes eignet, sondern daß eine sehr vorsichtige Kritik vorausgehen muß, um aus der Handelsstatistik und dem Stande der Wechselkurse einen Schluß auf die wirklichen, tiefer liegenden Ursachen dieser Erscheinungen zu ziehen. Vielmehr muß man die wichtigen Schlußfolgerungen in folgender Weise beschränken: 1) Aktive Warenbilanz bedeutet einen Überschuß von Produktionswerten des betreffenden Landes und kann ebenso durch großen Umfang der Erzeugung exportfähiger Güter wie durch geringe Konsumtionskraft der Bevölkerung verursacht, demnach entweder ein günstiges oder ein ungünstiges Symptom sein. 2) Passive Warenbilanz bedeutet entweder Mangel an Gütern zur Bedürfnisbefriedigung eines Volkes oder große Kaufkraft und breit angelegten Wohlstand desselben, ist also ohne Berücksichtigung dieser letzten Ursachen auch kein sicheres Symptom. 3) Die Warenbilanz wird durch die Zahlungsbilanz ergänzt. 4) Aktive Zahlungsbilanzen entstehen durch die verschiedensten Titel von Forderungen und können entweder durch Waren- oder Edelmetallimporte oder weitere Kreditierungen saldiert werden, bestimmen daher nicht in einem feststehenden Grade den Stand der Wechselkurse, sondern heben denselben nur im letztern Fall. 5) Passive Zahlungsbilanzen entstehen durch die aus verschiedenen Titeln stammenden Verschuldungen und können durch Waren- und Edelmetallexport oder durch weitere Kreditnahme beglichen werden; nur im letztern Fall drücken sie den Stand der Wechselkurse herab; in den beiden übrigen Fällen haben sie keinen Einfluß darauf. 6) Die gesamte Wirtschaftsbilanz: Handelsbilanz im weitern, modernern Sinn, als das Endergebnis der Waren- und Zahlungsbilanz läßt sich im Durchschnitt längerer Zeiträume aus dem günstigen oder ungünstigen Stande der Wechselkurse beurteilen. Vgl. G. J. Göschen, Theory of foreign exchanges (Lond. 1861, 12. Aufl. 1886; deutsch von Stöpel, Frankf. a. M. 1875, und von Herz, Wien 1876); Ad. Fellmeth, Zur Lehre von der internationalen Zahlungsbilanz (Heidelb. 1877); Ad. Soetbeer, Bemerkungen über die Handelsbilanz Deutschlands, in Hirths »Annalen des Deutschen Reichs« 1875; R. Giffen, The use of import and export statistics, im »Journ. Stat. Soc.« (Lond. 1882).
Im Das Lexikon des Zeitungslesers, 1951
Handelsbilanz.
Verhältnis zwischen Einfuhr und Ausfuhr in einem Lande. Überwiegt die Einfuhr, dann ist die H. passiv; umgekehrt ist sie aktiv.