Titel
Haarmenschen
,
Personen, die in abnormer Weise und an sonst haarfreien Körperstellen, namentlich über das ganze Gesicht, [* 2] mit einem langen, besondern, von dem gewöhnlichen Haar [* 3] ganz verschiedenen Seiden- oder Wollhaar bedeckt sind. Obwohl diese Abnormität, wie verschiedene ältere Nachrichten und Porträte [* 4] (z. B. im Schloß Ambras bei Innsbruck) [* 5] bezeugen, auch früher öfters beobachtet worden ist, so haben doch erst einige in der Neuzeit vorgekommene, besonders ausgezeichnete Fälle die Aufmerksamkeit der Naturforscher auf sich gelenkt.
Die Litteratur enthält bis 1879 genau 20 sicher konstatierte Fälle. Der erste wissenschaftlich untersuchte und beschriebene Fall betraf die Familie Shwé Maong am Hofe von Ava, bei der sich diese Eigentümlichkeit nun bereits durch drei Generationen fortgepflanzt hat. Bei dem Großvater, der 1829 von Crawford und Wallich beobachtet und beschrieben wurde, waren Stirn, Wangen, Augenlider, Nase, [* 6] Nasenlöcher und Kinn, mit einem Worte das ganze Antlitz mit alleiniger Ausnahme des roten Lippensaums, mit feinen silbergrauen, seidenartigen Haaren völlig bedeckt, welche an Stirn und Wangen etwa 20 cm, an Nase und Kinn etwa 10 cm lang waren.
Sowohl die äußere als innere Ohrmuschel trug ähnlich lange
Haare,
[* 7] so daß aus jedem
Ohr
[* 8] ein
Büschel derselben heraushing,
und ebenso waren andre Körperstellen, z. B. die Vorderarme, mit 10-20
cm langen
Haaren bedeckt. Ähnlich behaart war seine Tochter Maphron, welche
1855 von
Yule genau beschrieben wurde, und deren 1867 vom
Kapitän Hougston beobachtete beide
Söhne. Ganz ähnlich war ferner die
Erscheinung des vor einigen
Jahren öffentlich an vielen
Orten
Europas zur
Schau gestellten russischen Haarmenschen
Andrian Jeflichew aus dem
Gouvernement
Kostroma, dessen mit
langen, dunkelblonden
Haaren bedecktes
Antlitz lebhaft an dasjenige eines seidenhaarigen
Pudels erinnerte.
Außerdem teilte der russische Haarmensch
nebst seinem kleinen Sohn Fedor mit den indischen Haarmenschen
die Eigentümlichkeit
eines mangelhaften
Gebisses. Der Oberkiefer Jeflichews ist bis auf den linken Eckzahn völlig zahnlos, und ebenso besaß Shwé
Maong im Oberkiefer nur vier
Zähne.
[* 9] In vieler Beziehung anders und mehr den bärtigen
Frauen analog verhielt sich die mexikanische
Tänzerin
Julia Pastrana, welche in den 50er
Jahren durch
Europa
[* 10] reiste und 1860 in Rußland starb.
Bei ihr waren nämlich die Haare borstig und zogen sich wie ein struppiger Bart über Kinn, Oberlippe und Stirn, während Wangen und Nase mehr oder weniger frei hervorblickten. Sie besaß nach Purlands Untersuchung eine doppelte Zahnreihe im Ober- und Unterkiefer. Wenn man alle bekannten Formen der abnormen Behaarung (Hypertrichosis) zusammenstellt, so lassen sie sich einteilen 1) in solche, welche sich an einem in der Norm unbehaarten Körperteil finden (Heterotopie), 2) in solche, welche an einem in späterer Zeit behaarten Teil vor der normalen Zeit auftreten (Heterochronie), und 3) in solche, welche bei Frauen an Stellen sich entwickeln, welche zur selben Entwickelungsperiode beim andern Geschlecht behaart sind (Heterogenie).
Gänzlich von den obigen Fällen zu unterscheiden sind diejenigen, bei denen abnorme Hautbildungen, sogen. Muttermäler, sich über größere Körperstellen (bisweilen den ganzen Rücken) ausdehnen und stark mit, wie sie selbst, dunkel pigmentiertem Haar bedeckt erscheinen (naevi pilosi). Einen weitern Fall endlich, den man in neuerer Zeit namentlich in Griechenland [* 11] bei Militäraushebungen häufiger beobachtet hat, bildet die abnorme Behaarung des untern Endes der Wirbelsäule. Die Versuche, alle Anomalien der Behaarung, namentlich aber die Hypertrichosis der Steißgegend, auf Atavismus zu beziehen, sind vorläufig noch mit Vorsicht aufzunehmen.
Vgl. Stricker in den »Berichten der Senckenbergschen Naturforschenden Gesellschaft« (Frankf. 1876-77);
Ecker im »Globus« 1878; Bartels in der »Zeitschrift für Ethnologie« 1876 u. 1879; Ranke, Der Mensch, Bd. 1 (Leipz. 1886).