Guizot
(spr. ghiso),
François
Pierre
Guillaume, hervorragender franz. Staatsmann und Schriftsteller,
wurde
zu
Nîmes
(Gard) von protestantischen Eltern geboren.
Sein
Vater, welcher
Advokat war, starb in der Schreckenszeit unter
der
Guillotine, und der
Knabe Guizot
begleitete hierauf seine
Mutter nach Genf,
[* 2] wo er auf dem
Gymnasium eine gründliche
Bildung erhielt. 1805 begab
er sich nach
Paris,
[* 3] um die
Rechte zu studieren, übernahm 1807 eine Hauslehrerstelle im
Haus des
Herrn Stapfer
aus Bern,
[* 4] und nachdem er sich 1812 mit der 14 Jahre ältern bekannten Schriftstellerin
Pauline de
Meulan verheiratet, wurde er vom
Marquis de
Fontanes zum
Professor der Geschichte an der schönwissenschaftlichen
Fakultät zu
Paris ernannt.
Als Schriftsteller hatte er sich schon früher versucht, und zwar war er zuerst mit einer
Ausgabe von
Girards »Nouveau dictionnaire
universel des synonymes de la langue française« (1809, 2 Bde.; 8. Aufl.
1874) vor das größere
Publikum getreten, welcher bald die Werke: »De l'état des beaux-arts en
France et du
Salon de 1810« (1811),
»Vie des poètes français du siècle de Louis XIV« (1813, Bd. 1),
die »Annales de l'éducation« (1811-15, 6 Bde.) sowie die Übersetzung von Rehfues' »Spanien [* 5] im Jahr 1808« (1811, 2 Bde.) folgten. Nach der Restauration wurde er 1814 vom Minister des Innern, Abbé Montesquiou, zum Generalsekretär ernannt, saß im Zensurausschuß und half das neue strenge Preßgesetz ausarbeiten. Nach Napoleons Rückkehr von Elba begab er sich nach Gent [* 6] an den Hof [* 7] Ludwigs XVIII. und wurde nach der zweiten Restauration zum Generalsekretär der Justiz ernannt, trat zwar schon 1816, da seine Maßregeln gegen die realistischen Exzesse (weißer Schrecken) im Süden erfolglos waren, zugleich mit dem Justizminister Barbé-Marbois zurück; doch nur, um bald darauf vom König zum Requetenmeister und Staatsrat befördert zu werden, in welcher Stellung er mit Decazes, Royer-Collard und seinen andern politischen Freunden die Partei der Doktrinäre (s. d.) gründete.
Infolge seiner
Denkschrift über die damaligen Zustande der
Kammern erhielt er Anfang 1819 zugleich die
Generaldirektion der
Kommunal- und Departementalverwaltung. Gleichzeitig mit dem
Ministerium
Decazes 1820 entlassen, trat Guizot
wieder
als
Lehrer der neuern Geschichte bei der Faculté des lettres sowie bei der
Normalschule ein, doch ward letztere schon 1822 aufgehoben;
gleichzeitig verlor er auch seine
Stelle als
Zensor. Seine von 1820 bis 1822 gehaltenen Vorlesungen sind
enthalten in der
»Histoire des origines du gouvernement représentatif« (1851, 2 Bde.; 4. Aufl.
1880). Außerdem veröffentlichte er damals einige kleinere
Schriften: »Du gouvernement représentatif et de l'état actuel
de la
France« (4. Aufl. 1821);
»Des conspirations et de la justice politique« (1820);
»Les moyens de gouvernement et d'opposition dans l'état actuel de la France« (1821);
»Sur la peine de mort en matière politique« (1822).
1824 wurden ihm infolge seiner Angriffe auf das Ministerium Villèle auch seine geschichtlichen Vorträge an der Faculté des lettres untersagt, und erst unter dem Ministerium Martignac (1828) konnte er sie wieder beginnen. Von nun an lag er im offenen Kampf mit den Bestrebungen der Regierung und wirkte denselben als Mitglied und endlich als Präsident der Gesellschaft »Aide-toi, et le ciel t'aidera«, die damals lediglich zum Schutz der Unabhängigkeit der Wahlen gegründet war, auf alle Weise entgegen, während er zugleich als Schriftsteller eine außerordentliche Thätigkeit entwickelte. Seine Vorträge von 1828 bis 1830 erschienen unter dem Titel: »Cours ¶
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d'histoire moderne« (1828-30, 6 Bde.),
wozu die »Histoire de la civilisation en France depuis la chute de l'empire romain jusqu'à la révolution française« (1828-30, 4 Bde.; 14. Aufl. 1886) und die als Einleitung dienende »Histoire de la civilisation en Europe« (1828; 19. Aufl., das. 1883; deutsch, Stuttg. 1844) gehören. In Verbindung mit mehreren Gelehrten besorgte er die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de France depuis la fondation de la monarchie française jusqu'au XIII. siècle« (1823 ff., 31 Bde.) und die »Collection des mémoires relatifs à l'histoire de la révolution d'Angleterre« (1823 ff., 26 Bde.),
versah viele Werke andrer, z. B. Letourneurs Übersetzung des Shakespeare (1821, 12 Bde.; neueste Ausg. 1869),
mit Einleitungen und Anmerkungen und fügte Mablys »Observations sur l'histoire de France« (1823, 3 Bde.) den »Essai
sur l'histoire de France« (1824, 12. Aufl. 1868) als vierten Band
[* 9] bei. Seine »Histoire de la révolution d'Angleterre«, 1. Abt.,
»Histoire de Charles I, 1625-49« (1828, 2 Bde.; 12. Aufl.
1881) ist die bedeutendste Produktion der sogen. pragmatischen Schule; ihr schließen sich an die unten genannten Werke über
die beiden Cromwell. 1826 übernahm Guizot
die Direktion der »Encyclopédie progressive«, welches Unternehmen jedoch
bald ins Stocken geriet; 1828 gründete er die »Revue française«, die von der Julirevolution unterbrochen
und erst 1837 auf kurze Zeit wieder aufgenommen wurde.
Im März 1829 wurde Guizot
wieder unter die außerordentlichen Staatsräte aufgenommen, und im Januar 1830 trat er für die Stadt
Lisieux (Calvados) in die Deputiertenkammer, wo er zum linken Zentrum gehörte; doch begann seine eigentliche staatsmännische
Thätigkeit erst mit der Julirevolution. Er war es, der den Protest gegen die Juliordonnanzen verfaßte
und so den ersten Anstoß zum Ausbruch der Revolution gab. Am 30. Juli ward er provisorischer Minister des öffentlichen Unterrichts,
und 11. Aug. ernannte ihn Ludwig Philipp zum Minister des Innern.
Da er jedoch die Politik Laffittes nicht billigte, nahm er schon im November 1830 mit den übrigen Doktrinären seine Entlassung. Als Casimir Périer 1831 Minister wurde, unterstützte er denselben als Führer der konstitutionellen Monarchisten. Nach Périers Tode trat er als Minister des öffentlichen Unterrichts wieder ins Kabinett. Er wirkte verdienstvoll für die Verbesserung der Unterrichtsanstalten, namentlich der Primärschulen durch das Gesetz vom und veranlaßte die Wiederherstellung der von Napoleon 1803 aufgehobenen 5. Klasse des Instituts der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften.
Mit einer kurzen Unterbrechung blieb Guizot
im Besitz des Unterrichtsministeriums bis Mit Odilon Barrot
und Thiers verbündet, intrigierte er dann so lange gegen das Ministerium Molé, bis dasselbe 1839 fiel. Doch wurde Guizot
nicht
in das neue Kabinett berufen, sondern an Sébastianis Stelle als Gesandter nach London
[* 10] geschickt, wo er aufs wohlwollendste empfangen
wurde, aber den gegen Frankreichs orientalische Politik gerichteten Vertrag der vier Großmächte vom nicht
hindern konnte. Am übernahm er nach Thiers' Rücktritt im neugeschaffenen Ministerium Soult, dem 19. und letzten
der Julidynastie, das Portefeuille des Auswärtigen, und bald war er einer der Hauptleiter und seit Soults Rücktritt im September 1847 auch
der offizielle Chef dieses Kabinetts, das bis zur Februarrevolution von 1848 am Ruder blieb und, durch sein
ganzes Verfahren in den innern wie in den äußern Angelegenheiten die persönliche Politik Ludwig Philipps repräsentierend,
nicht wenig dazu beitrug, die konstitutionelle Monarchie in Mißkredit zu bringen und den endlichen Sturz der Julidynastie
herbeizuführen.
In der Ausführung seiner systematischen Repressivpolitik bewies er sich halsstarrig, ja zuletzt geradezu verstockt. Gegen die Wünsche des Königs stets gefügig, war er unzugänglich gegen die des Volkes und forderte durch seinen Hochmut seine Gegner geradezu heraus. Obwohl selbst seine heftigsten Feinde seinen moralischen Charakter nicht anfochten und insbesondere nie der Vorwurf gegen ihn laut wurde, daß er seine einflußreiche Stellung dazu benutzt habe, sich zu bereichern, so schwieg er doch aus politischen Rücksichten zu höchst zweideutigen Spekulationen seiner Parteigenossen und wandte bei den Wahlen von 1846 selbst unwürdige Mittel an, um eine gefügige Majorität zu erlangen.
Ja, er scheute sich nicht, den Deputierten ihre Korruption vorzuwerfen und deswegen unbedingte Fügsamkeit
zu verlangen. In der auswärtigen Politik führte er durch die Intrigen bei den spanischen Heiraten die Entfremdung mit England
herbei und erregte durch die Unterstützung der Jesuiten in der Schweiz
[* 11] die Unzufriedenheit der Liberalen. Die Wahlreform lehnte
er hartnäckig ab und rief dadurch die Bewegung von 1848 hervor, die sich wegen seiner allgemeinen Unpopularität
zuerst gegen seine Person richtete. Am 16. Febr. reichte er seine Entlassung ein, die jedoch der König nicht annahm; am mußte
er aus Paris flüchten und ward von der provisorischen Regierung in Anklagestand versetzt, aber im November
d. J. vom Gerichtshof in Paris freigesprochen. Er lebte seit März 1848 zu London und erließ von hier aus im April 1849 ein
Wahlmanifest ( Guizot
et ses amis«),
worin er den Wählern in Frankreich seine Dienste, [* 12] wiewohl vergeblich, anbot. Nachdem er im November d. J. nach Paris zurückgekehrt war, wirkte er hier mit den Häuptern der monarchischen Partei gemeinsam für eine Fusion der Bourbonen und Orléans. [* 13] Der Staatsstreich vom steckte dieser seiner Thätigkeit ein Ziel und veranlaßte ihn, wieder nach England zu gehen. Später kehrte er in sein Vaterland zurück, um hier seine litterarischen Studien wieder aufzunehmen, und ward im Januar 1854 Präsident der Pariser Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften.
Zum letztenmal trat er 1870 beim Plebiszit öffentlich auf, indem er in einem Brief das bejahende Votum anriet. Auch an den
Fusionsverhandlungen 1873 hatte er einen bedeutenden, aber geheimen und erfolglosen Anteil. Seine immer starrsinnigere Orthodoxie
veranlaßte ihn, für das Papsttum aufzutreten und in der protestantischen Kirche Frankreichs eine beklagenswerte Spaltung herbeizuführen,
indem unter seinem Einfluß die Synode 1874 den Ausschluß der liberalen Protestanten beschloß. Als er mit den Bonapartisten
in einen Streit geriet, bereiteten ihm diese den Schmerz, zu veröffentlichen, daß Guizots
Sohn 1855 von Napoleon
III. ein Geschenk von 50,000 Frank angenommen habe. Guizot
verkaufte ein Bild, um der Kaiserin Eugenie die Summe zurückzuzahlen, die
nicht angenommen wurde. Guizot
starb auf seinem Landgut Val Richer bei Lisieux in der Normandie.
So gerechten Angriffen seine ministerielle Thätigkeit ausgesetzt gewesen ist, so bereitwillige Anerkennung haben von allen Seiten seine schriftstellerischen Leistungen gefunden. Durch die Gründung der ¶
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Comités historiques, durch Anregung zu Herausgabe wichtiger Quellensammlungen sowie durch seine eignen zahlreichen Schriften
hat er sich um Beförderung der historischen Studien in Frankreich die größten Verdienste erworben. Leiden
[* 15] auch seine Geschichtswerke
an teleologisch-pragmatischem Doktrinarismus, so ist doch die große Kunst der Komposition und Darstellung unbestritten, und
Guizot
muß, wenn nicht zu den großen Staatsmännern, doch zu den ersten Schriftstellern Frankreichs gezählt
werden. Im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten
[* 16] von Nordamerika
[* 17] bearbeitete er die Geschichte Washingtons nach dessen
hinterlassenen Papieren in »Vie, correspondance et écrits de Washington«
[* 18] (1839-40, 6 Bde.),
wofür sein Bildnis im Sitzungssaal der Repräsentantenkammer zu Washington angebracht wurde. Als schriftstellerische Produkte seiner Muße seit der Februarkatastrophe sind hervorzuheben die politischen Schriften: »De la dèmocratie en France« (1849; deutsch. Leipz. 1849);
»Histoire de Washington et de la fondation de la république des États-Unis« (3. Aufl. 1850; deutsch, Leipz. 1850);
»Pourquoi la révolution d'Angleterre a-t-elle réussi?« (1850; deutsch, Leipz. 1850);
»Monk, chute de la république et rétablissement de la monarchie en 1660« (1851, 6. Aufl. 1862; deutsch, Wien [* 19] 1852),
mit der Fortsetzung: »Études biographiques sur la révolution d'Angleterre« (1851, neue Ausg. 1862);
»Histoire de la république d'Angleterre et d'Oliver Cromwell, 1649-58« (1854, 2 Bde.; 6. Aufl. 1871),
»Histoire du protectorat de Richard Cromwell« (1856, 5. Aufl. 1869),
beides Fortsetzungen seiner Geschichte der Revolution (s. oben) und mit dieser in Bülaus »Historischer Hausbibliothek« deutsch erschienen;
»Nos espérances« (1855);
»La Belgique en 1857« (1857) und endlich die wertvollen »Mémoires pour servir à l'histoire de mon temps depuis 1814 jusqu'à 22 février 1848« (1858-67, 8 Bde.);
die philosophischen: »Études sur les beaux-arts« (1851);
»Méditations et études morales« (1852, 3. Aufl. 1882; deutsch, Leipz. 1864);
»Méditations sur l'essence de la religion chrétienne« (1864; deutsch, Leipz. 1864);
»Corneille et son temps« (1852, 6. Aufl. 1880);
»Shakespeare et son temps« (1852);
»L'amour dans le mariage« (1855, 11. Aufl. 1879);
»Méditations sur l'état actuel de la religion chrétienne« (1866);
»Méditations sur la religion chrétienne dans ses rapports avec l'état actuel des sociétés et les esprits« (1868);
»Mélanges biographiques et littéraires« (1868);
»Mélanges politiques et historiques« (1869) und »Le [* 20] duc de Broglie« (1872).
Von der »Histoire de France, racontée à mes petits enfants« (bis 1789 reichend, 1870-75, 5 Bde.) wurde der letzte Band durch seine Tochter Mad. de Witt herausgegeben, welche auch die Herausgabe der Fortsetzung bis 1848 in 2 Bänden und der »Histoire d'Angleterre racontée a mes petits enfants« (1877-78, 2 Bde.) besorgte.
Vgl. Mad. de Witt, M. Guizot
dans sa famille et avec ses amis (1880) und »Lettres de M. à sa famille et à ses
amis« (1884);
Jules Simon, Thiers, Guizot
, Rémusat (1885).
Guizots
erste Gemahlin, Elisabeth Charlotte Pauline de Meulan, geb. zu Paris, schrieb einige Romane, wie »Les
contradictions« und »La chapelle d'Ayton«, und Erzählungen für Kinder unter dem Titel: »Les enfants« (1812, oft aufgelegt).
Für das von Suard gegründete Journal »Le Publiciste« lieferte sie eine Reihe von Jahren hindurch Artikel über die verschiedenartigsten
Gegenstände und führte auch die polemische
und kritische Feder mit gewandter Hand,
[* 21] wovon die in ihren
»Éssais de littérature et de morale« (Par. 1802)
gesammelten Aufsätze aus jener Zeit Zeugnis geben.
Ihre zahlreichen Jugendschriften, welche ihr mehrere akademische Preise eintrugen, verraten weit mehr besonnene Umsicht und
Verstand als Gemüt und Phantasie. Ihr Hauptwerk sind die »Lettres de famille sur l'éducation« (Par. 1827, 2 Bde.; 5. Aufl.
1860). Auch ihrem Gatten leistete sie litterarische Beihilfe. Sie starb Ch. de Rémusat gab ausführliche biographische
Notizen von ihr als Einleitung zu ihren nachgelassenen und von Guizot
herausgegebenen »Conseils de morale« (1828, 2 Bde.). -
Guizots
zweite Gattin, Marguerite Andrée Elisa Dillon, eine Nichte seiner ersten Gattin, geb. gest.
machte sich ebenfalls durch Herausgabe von Erzählungen in Prosa und Versen und einer Jugendschrift: »Caroline« (neue Aufl.,
Par. 1840), bekannt.