Titel
Griechische
Litteratur.
Wie bei fast allen Völkern, so war auch bei dem griechischen
Poesie der
erste Flügelschlag des aufstrebenden
Geistes. Die frühsten Erzeugnisse waren ohne
Zweifel kurze
Lieder: Klagelieder, Brautgesänge,
Reinigungs- und Weihelieder, auch Orakelsprüche und Heilvorschriften,
Rätsel und Zauberlieder, Spruchlieder, vor allen aber
Lieder zum
Preis der
Götter. Mancherlei
Spuren weisen darauf hin, daß eine Art mystischer Hymnendichtung besonders von
den
Priestern des in alter Zeit durch Nordgriechenland
weitverbreiteten sangesreichen Thrakervolkes geübt wurde. Wie auf
diese später
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aus dem eigentlichen Griechenland [* 3] verschwundenen Thraker der Kultus der Musen [* 4] zurückgeht, so gehörten ihnen nach der Tradition auch die ältesten von den Griechen genannten Sänger, wie Orpheus, [* 5] Eumolpos, Musäos und Thamyris, an. Namentlich scheinen einzelne priesterliche Sängergeschlechter Träger [* 6] und Fortbildner dieser Hymnenpoesie gewesen zu sein, die sie bei gewissen erblichen gottesdienstlichen Funktionen übten. Ein solches waren in Attika die Eumolpiden, so genannt nach ihrem Ahn, dem erwähnten Eumolpos, wie schon der Name (»der Schönsingende«) zeigt, einer Personifikation der Gesangskunst.
Mitgliedern dieses uralten Geschlechts kam noch in historischer Zeit bei den Eleusinischen Mysterien außer andern Funktionen
das Anstimmen der liturgischen Gesänge zu. Indem sich sodann die Vorstellungen von dem Wesen und Walten
der Götter immer mehr zu symbolischen Mythen von ihrer Geburt, ihren Thaten und Leiden
[* 7] entwickelten, gestalteten sich die Hymnen
allmählich zu epischen Kultusgesängen, aus denen das eigentliche Epos, die frühste und höchste Blüte
[* 8] der griechischen
Poesie, hervorging.
I. Klassische Periode (ea. 950-300 v. Chr.).
Im Lauf der Zeit von dem Zusammenhang mit der Religion befreit, nahm nämlich der epische Gesang eine selbständige Entwickelung, indem er sich nicht mehr auf die Göttermythen beschränkte, sondern auch die Heldenthaten der Vorzeit und der näherliegenden Vergangenheit verherrlichte. Sänger, die bei öffentlichen Festen auftraten oder bei den Mahlen der Fürsten die Gäste durch ihre Lieder von den »Ruhmesthaten der Männer« unterhielten, gab es jedenfalls schon im eigentlichen Griechenland; seine eigentliche Ausbildung aber erhielt der epische Gesang durch die ionischen Griechen in Kleinasien, wo eine sich sicherlich durch Jahrhunderte erstreckende Übung wahrscheinlich in allmählichem Fortschritt von kürzern Liedern zu längern epischen Erzählungen eine in Sängerfamilien von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzte Technik des epischen Stils in Sprache [* 9] und Metrik und des Gesanges (denn gesungen wurden diese Poesien) schuf.
Hier gelangte auch die epische Poesie um 900 v. Chr. zu ihrem nie wieder erreichten Höhepunkt, wie ihn die beiden großen Epen »Ilias« und »Odyssee« bezeichnen, welche den Namen des Homeros tragen. Sollte dieser auch, wie man behauptet und zu beweisen gesucht hat, der Verfasser des einen oder gar der beiden Gedichte in der überlieferten Gestalt nicht sein, so muß er dennoch ein alle seine Vorgänger verdunkelndes Verdienst um die Vollendung der epischen Kunst gehabt haben, da ihm sonst die einstimmige Überlieferung des Altertums nicht die schönsten Blüten derselben beigelegt haben würde.
Jedenfalls war er es, dessen Genie es zuerst gelang, wirkliche, planmäßig angelegte und kunstvoll durchgeführte Epen zu schaffen. Durch fahrende Sänger (Rhapsoden) fanden die Homerischen Gesänge schnell im Mutterland und überall, wo Griechen wohnten, Verbreitung und Aufnahme. Sie wurden dem Hellenen zu einem wahren Volksbuch; sie waren die unversiegbare Quelle, [* 10] aus der er fort und fort Bildung und Erhebung schöpfte (s. Homeros). In den ionischen Sängerschulen, besonders der der sogen. Homeriden auf Chios, lebte das epische Dichten noch lange fort.
Mit Vorliebe behandelten diese Dichter Sagenstoffe, die sich an Ilias und Odyssee einleitend, erweiternd und fortsetzend anschlossen, und man nennt sie daher kyklische Dichter, weil die wichtigsten ihrer Dichtungen später mit den Homerischen zu einem epischen Kyklos (Sagenkreis) vereinigt wurden. Ihre Zeit reicht vom Anfang der Olympiaden bis 570 v. Chr. (vgl. Kyklische Dichter). Der ionischen Schule gehören auch die sogen. Homerischen Hymnen an, Vorspiele (Proömien) epischen Charakters zum Preis einzelner Götter, mit denen die Rhapsoden ihre Vorträge einleiteten.
Eine neue Richtung erhielt die epische Poesie ungefähr 100 Jahre nach Homer im eigentlichen Griechenland durch Hesiodos aus dem böotischen Askra, den Schöpfer des didaktischen und des mythographisch-genealogischen Epos, welches sich zwar durchaus in den Formen der Homerischen Poesie bewegt, aber die mythische Überlieferung nicht mehr im freien Spiel der Phantasie gestaltet, sondern als Kunde der Vorzeit der Nachwelt echt und unverfälscht zu überliefern strebt.
Vermissen wir auch in den erhaltenen Dichtungen des Hesiod die heitere, lebensfrische, objektive Anschauung
der menschlichen Verhältnisse und den hohen Schwung der Homerischen Gesänge, so sind sie doch ehrwürdige und wertvolle
Zeugnisse von der beginnenden Entwickelung der griechischen
Poesie zu ihrer spätern Vielseitigkeit. Wie an Homer die Kykliker,
so schloß sich auch an ihn eine Anzahl Dichter der genealogischen Richtung an, die sogen. Hesiodische
Schule, deren Schöpfungen schon frühzeitig verschollen sind.
Bis zum Anfang des 7. Jahrh. hatte bei den Griechen die epische Dichtkunst und deren Versmaß, der Hexameter, fast ausschließliche Geltung; von dieser Zeit an beginnt die kunstmäßige Ausbildung der längst im Volk bei Götterfesten, Siegesfeiern, Hochzeiten, Leichenbegängnissen geübten Lyrik. Die erste Gattung derselben war die Elegie, deren Form das aus Hexameter und Pentameter bestehende Distichon, deren Inhalt der Ernst und der tiefere, später aber jeder nur denkbare, auch der heitere Gehalt des Lebens ist.
Während die Homerischen Dichtungen zur Kithara [* 11] gesungen wurden, ist das der Elegie eigentümliche Instrument die Flöte. Bei den ältesten Vertretern der Elegie, Kallinos von Ephesos [* 12] (um 700) und Tyrtäos aus dem attischen Aphidnä (um 680 v. Chr.), hat die Elegie eine durchaus kriegerische und politische Richtung, der auch Solon von Athen [* 13] anfangs folgte, während in seinen spätern Elegien das betrachtende Element überwog. Im Grund politisch, aber zugleich gnomisch und erotisch war die Elegiendichtung des Theognis von Megara (um 540). Als Begründer der erotischen und threnetischen Elegie gilt Mimnermos von Kolophon (um 630); die letztere brachte der vielseitige Lyriker Simonides von Keos im 5. Jahrh. zur Vollendung. Beide Gattungen, die Liebes- und die Trauerelegie, waren in der Folgezeit die vorherrschenden. - Hatte das Versmaß der Elegie sich nur wenig von dem des Epos unterschieden, so trat in der iambischen Poesie eine ganz neue metrische Form hervor.
Sie wurde von dem genialen Archilochos aus Paros, welcher um 700 blühte, kunstmäßig ausgebildet und von ihm besonders zu Spottgedichten verwendet. Die Alten selbst stellten diesen Dichter nach Homer am höchsten und nannten ihn den zweiten Schöpfer der hellenischen Poesie. Über Inhalt, Anlage und Durchführung seiner Gedichte wissen wir nur weniges; dagegen sind uns seine von spätern Dichtern vielfach nachgeahmten Metra erhalten. Von den Nachfolgern des Archilochos in dieser Gattung der Poesie nennen wir Simonides von Amorgos (um 660), Solon und Hipponax von Ephesos (um 540). In naher Verbindung mit der iambischen Dichtkunst steht die Tierfabel. Mit Unrecht hält man gewöhnlich den ¶
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Griechen Äsopos für den Erfinder derselben. Sie ist viel älter, tritt aber früher bloß sporadisch auf; Äsop war der erste, welcher die Gewohnheit, alle Lagen des Lebens unter irgend einem Vorgang in der Tierwelt zu begreifen, zur Virtuosität ausbildete, und dessen Name später für alle und jede sinnvolle Fabel typisch geworden ist. - Durch die Fortschritte, welche im 7. Jahrh. die Musik bei den Griechen machte, wurde auch die lyrische Poesie, welche mit der Musik in der innigsten Verbindung steht, nicht wenig gefördert.
Der eigentliche Schöpfer der klassischen Musik der Griechen und damit Begründer der melischen Lyrik ist Terpandros von Antissa auf Lesbos (um 676), der die an den Apollonfesten üblichen choralartigen Kultusgesänge, die sogen. Nomen, zuerst kunstreich gliederte und statt der bisherigen viersaitigen Kithara die siebensaitige erfand, auch selbst epische Stoffe zu Texten für seine musikalischen Kompositionen bearbeitete. Die von ihm in Sparta eingeführte hexametrische Nomenpoesie und den epischen Stoff verließ der gleichfalls in Sparta ansässige Lydier Alkman (um 660), indem er mannigfache Rhythmen zu Systemen oder Strophen verband und das spartanische Leben zugleich nach seiner religiösen und weltlichen Seite in Chorgesängen und Liedern darstellte.
Etwas später (um 625) bildete Arion von Methymna den an den Dionysosfesten üblichen Dithyrambos zur eigentümlichen Kunstform aus. Nach Alkman trennte sich die Lyrik in eine erhabene, überwiegend religiöse und eine mehr weltliche Richtung. Während jene sich unter den Doriern des Peloponnes und Siziliens als chorische Poesie langsam entwickelte, erblühte diese rasch unter den Äoliern auf Lesbos. Beide Schulen, die dorische und die äolische, unterscheiden sich voneinander nicht allein im Dialekt, sondern, wie angedeutet, auch in Inhalt und Darstellungsweise.
Während die Dichtungen der äolischen Sänger nur von einem einzelnen, meist mit Begleitung eines Saiteninstruments, aber auch der Flöte, vorgetragen wurden, waren die der dorischen bestimmt, beim Chortanz gesungen zu werden. In der erstern klangen Lust und Klage, überhaupt die persönlichen Empfindungen wider, während die dorische Chorlyrik, welche nur an öffentlichen Festen zur Geltung kam, einen Gegenstand von öffentlichem, allgemeinem Interesse erforderte. Am bedeutendsten in der äolischen Schule sind Alkäos (um 600) und die gleichzeitige Dichterin Sappho (beide aus Lesbos), ersterer ausgezeichnet durch Großartigkeit und tiefen Ernst der Gedanken, Freiheitsgefühl, sinnliche Glut der Empfindung und Kraft [* 15] der Sprache, letztere durch Innigkeit und Lebendigkeit der Empfindung und Anmut des Ausdrucks, aber auch durch Glut der Liebesleidenschaft. An die äolischen Dichter reiht sich Anakreon aus Teos (um 550), dessen Poesie, fast einzig der Liebe und dem heitern Lebensgenuß geweiht, von den Alten ganz besonders die erotische genannt wurde.
Nach Anakreon wird die äolische Dichtungsweise durch die dorische Chorpoesie zurückgedrängt; nur ein einzelner Zweig derselben,
die bei Gastmählern während des Trinkens gesungenen Skolien, erhielt sich noch lange in Übung. Ihre höhere Kunstgestaltung
erhielt die dorische Chorpoesie, welche sich über ganz Griechenland verbreitete und die größte Mannigfaltigkeit
des Inhalts zeigt (wir finden in ihr Siegeslieder, Hymnen, Päane, Dithyramben, Prozessionslieder, mimische Tanzlieder, Tischlieder,
Trauer- und Lobgesänge u. a.), durch Stesichoros aus Himera (um 580), der die dreiteilige Ordnung
in Strophe, Gegenstrophe und
Epode zuerst einführte, und Ibykos aus Rhegion (um 540), ihre Vollendung durch Simonides aus Keos (um 556-468),
dessen Schwestersohn Bakchylides (um 460) und vor allen Pindaros aus Theben (von 522-442). Letzterer bildet ebenso wie Homer und
sein jüngerer Zeitgenosse Sophokles einen Glanz- und Wendepunkt in der Entwickelung des griechischen
Volkes. Wie in Homer die
epische und in Sophokles die dramatische, so kommt in ihm die lyrische Poesie zu ihrer höchsten Entfaltung.
In der letzten Zeit dieser Periode (Mitte des 6. Jahrh.) finden wir bei den Griechen die ersten Anfänge der Prosa. Sie schließen sich zunächst an die philosophischen Bestrebungen der Ionier an. Der erste Grieche, von dem uns Fragmente in Prosa erhalten sind, ist Pherekydes von Syros (um 560). Seine Prosa schloß sich noch eng an die Poesie an und unterschied sich von dieser nur durch den Mangel des Versmaßes. An ihn reihen sich die übrigen ionischen Philosophen: Anaximandros, mit welchem die eigentliche philosophische Schriftstellerei beginnt, Anaximenes, Heraklit von Ephesos, Anaxagoras aus Klazomenä.
Mehrere dieser Philosophen wandten sich nach Athen und trugen dazu bei, dort die großartigen Erscheinungen in der Litteratur
,
welche die folgende Periode aufweist, vorzubereiten. Außer den ionischen Philosophen blühten in dieser Periode in Unteritalien
die beiden Schulen der Eleaten und des Pythagoras. Es ist unzweifelhaft, daß auch die Untersuchungen dieser
Männer, besonders der Pythagoreer (denn die Eleaten bedienten sich meist noch der gebundenen Rede), auf die Ausbildung der
Prosa bedeutenden Einfluß gehabt haben. Zu einer Geschichtschreibung kam es in Griechenland erst ziemlich spät.
Den Übergang dazu bilden die sogen. Logographen, welche in einer sich erst allmählich dem Ton der wirklichen Prosa nähernden Sprache ihren meist der Stamm- und Lokalsage entnommenen Stoff ohne kritische Sichtung und Anordnung nach einem höhern Gesichtspunkt darstellten. Ihre Blütezeit fällt von 550 bis zu den Perserkriegen; ihre bedeutendsten Vertreter sind Hekatäos von Milet und Hellanikos von Lesbos. Als der eigentliche Vater der Geschichtschreibung bei den Griechen gilt unbestritten Herodotos von Halikarnassos (um 485-424). Er zuerst verarbeitete einen auf ausgedehnten Reisen und durch langjährige Forschung gesammelten historischen und geographischen Stoff zu einem einheitlichen Ganzen, dessen Grundthema der Kampf der Hellenen gegen die Perser ist.
Sein Werk, welches in der griechischen
Prosa dieselbe Stelle einnimmt wie die Ilias und Odyssee in der Poesie,
zeichnet sich durch schlichte, gemütvolle Erzählung, durch Grundlegung einer sittlich-religiösen Idee (der waltenden Nemesis)
und durch unparteiische Wahrheitsliebe aus. Hatten bis jetzt die einzelnen Stämme des griechischen
Volkes ziemlich gleichmäßig
an der Förderung der Litteratur
sich beteiligt, so tritt jetzt Ein Staat durch einen wunderbaren Reichtum
an Talenten in den Vordergrund und gewinnt das Ansehen einer Hauptstadt Griechenlands in Kunst und Wissenschaft: Athen, und zwar
ist es jetzt die Blüte aller Poesie, das Drama, welches in den Vordergrund tritt. Die dramatische Poesie ist aus den Dionysosfesten
entstanden, bei denen die Festchöre um den Opferaltar die Leiden und Freuden des Gottes in Liedern und
mimischem Tanz darstellten. Von der Darstellung der Leiden stammt die tragische Gattung, der sich das Satyrdrama anschloß, in
welchem der
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