Titel
Graubünden
(Bünden, rätorom. ils Grischuns, ital. le Grigioni),
Kanton
[* 3] der
Schweiz,
[* 4] den Südosten derselben umfassend, grenzt östlich an
Tirol,
[* 5] südlich an die
Lombardei, westlich an Tessin
und Uri,
nördlich
an Glarus,
St.
Gallen,
Liechtenstein
[* 6] und
Vorarlberg und hat ein
Areal von 7185 qkm (130,5 QM.), ist somit
der größte
Kanton. Graubünden
ist ein Gebirgsland im strengsten
Sinn des
Wortes, ohne
Ebenen, mit schmalen Thalflächen und dem ausgeprägten
Charakter der Massenerhebung (s.
Graubündner Alpen).
Die
Höhen bewegen sich auf einer
Skala von 4052 m
(Piz
Bernina) bis 503 m (Mayenfeld-Fläsch), selbst bis 269 m
(unterhalb
Roveredo), den beiden tiefsten Thalausgängen. Die höchste ständige
Wohnung hat der Bernhardinpaß (2063 m), dessen
mittlere Jahrestemperatur +0,7° C. beträgt. Die
Thäler, soweit sie zum Rheingebiet gehören, bilden hauptsächlich das
Gebiet des
Vorderrheins (Bündner Oberland) und des
Hinterrheins (s. d.); unterhalb des Zusammenflusses beider
Rheine, dem
Churer
Rheinthal und der sogen. »Herrschaft«
(der bis 1798 von Graubünden
beherrschten Thalstufe von Mayenfeld-Malans-Jenins-Fläsch) zu, öffnen sich nur noch
Schanvic und
Prätigau.
Die Flüsse [* 7] dieser beiden Thäler sind die Plessur und die Lanquart. Das Pogebiet ist durch vier Thäler repräsentiert: Misox und Calanca, Bergell und Puschlav (die Ram, der Bach des Münsterthals, geht der Etsch und damit ebenfalls dem Adriatischen Meer zu), das Donaugebiet durch das vom Inn durchflossene Engadin und dessen Nebenthäler. Die Pozuflüsse heißen Moesa und Calancasca, Maira und Poschiavino. Die Hauptpforte der Nordseite bildet das Thal [* 8] des Rheins, durch welches die Eisenbahn, eine Strecke der »Vereinigten [* 9] Schweizerbahnen«, bis nach Chur [* 10] eindringt; die übrigen Zugänge sind, die durch Befestigungen geschützte Luciensteig (714 m) ausgenommen, bloße Gebirgspfade, wie das Schweizerthor (2170 m) und andre den Rätikon vom Montavon her überschreitende Pässe, der Kunkels 1351 m), der Segnas (2626 m), der Panixer Paß (2410 m) und der Kreuzlipaß (2350 m), die sämtlich nach den drei nördlichen Nachbarkantonen führen.
Die Hauptpforte nach Uri, auf der Westseite, bildet die fahrbare Oberalp (2052 m), während nach S., Tessin und Italien [* 11] zu, verschiedene fahrbare und unfahrbare Übergänge benutzt werden: Lukmanier (s. d.), La Greina (2360 m), nicht chaussiert, der Bernhardin (s. Bernardino) und Splügen (s. d.), Maloja (s. d.) und Bernina (s. d.), von Bergpfaden der wilde Muretto (2557 m) und das Wormser Joch (2512 m). Die natürliche Pforte nach O. bildet der Inn, dessen finstere Ausgangsschlucht bei Finstermünz auf dem Umweg über Nauders umgangen wird; eine kleine Straße führt über den Ofenpaß (2155 m) in das Münsterthal und damit in das Etschgebiet.
Der Verkehr zwischen den einzelnen Thälern des Landes selbst benutzt eine Menge einsamerer Bergpfade; die Strela (2377 m), die Scaletta (2619 m), der Septimer (2311 m) u. a. dienen auch der Touristenwelt, während Lenzer Heide und Julier die fahrbare Verbindung mit Oberengadin, Laret und Flüela diejenige mit Davos und Unterengadin vermitteln. Wie in neuerer Zeit außerordentliche Anstrengungen machte, um den Verheerungen seiner Flüsse und Wildbäche Einhalt zu thun, so hat es auch in Straßenbauten Erstaunliches geleistet.
Die ältern Paßrouten des Splügen und Bernhardin, denen sich Julier und Maloja anschlossen, standen wesentlich im Dienste [* 12] des internationalen Transits; dagegen war es die Aufgabe einer Reihe jüngerer Bauten, die einzelnen Thäler unter sich in fahrbare Verbindung zu bringen. Zu diesem Zweck wurden vier Paßstraßen (Bernina, Albula, Flüela, Ofenpaß) und vier Thalstraßen (Unterengadin, Puschlav, Landwasser und Schyn) erbaut, letztere durch Schluchten, welche bisher unfahrbar gewesen waren.
Vgl. Planta, Die Bündner Alpenstraßen (St. Gallen 1868), und J. J. ^[Johann Jakob] Egli, Die neuen Schweizer Alpenstraßen (»Gäa« 1876, S. 277 ff.).
Die Zahl der Einwohner beträgt nur (1880) 94,991, also 13 auf 1 qkm.
Von den vier schweizerischen
Nationalitäten weist Graubünden
drei auf. Das deutsche
Element, jetzt 43,664
Köpfe stark, ist ins Rheinthal
eingedrungen und hat das romanische zurückgedrängt; ein langsamer, aber stiller
Kampf wird seine Herrschaft mehr und mehr
befestigen.
Noch bewohnen die Rätoromanen (37,794) den größten Teil des Oberlandes, verschiedene Gegenden im Hinterrheingebiet
sowie das
Engadin und Münsterthal, im Gebiet beider
Rheine jedoch vielfach mit
Deutschen gemischt.
Die italienische Nationalität (12,976) hat hauptsächlich die vier Thäler des Pogebiets inne. 1880 waren neben 53,168 Protestanten 41,711 Katholiken und 38 Israeliten. Im Bündnerland begegnet man der sonst seltenen Erscheinung protestantischer Romanen: die Rätoromanen im Engadin (Tarasp ausgenommen), in Schams und Ferrera und die Italiener des Bergell gehören fast ausschließlich der reformierten Konfession an, ebenso die Mehrzahl der Rätoromanen des Münsterthals (Münster [* 13] ausgenommen) sowie endlich mehr als ein Viertel der Italiener des Puschlav.
Sonst überwiegen die Reformierten noch bei der deutschen Bevölkerung, [* 14] während in den meisten romanischen Ortschaften das katholische Bekenntnis vorherrscht. Die graubündnerischen Katholiken stehen unter dem Bistum Chur. hat noch ein Mannskloster (in Disentis) und 3 Frauenklöster (Kazis, Poschiavo und Münster), zusammen mit einem Immobiliarvermögen von 1 Mill. Frank. So verschieden nun auch die Bevölkerung all der zahlreichen Thäler ist, so läßt sich doch folgendes von ihr sagen: Der Bündner ist durchschnittlich von ausgeprägter Physiognomie, dunkelhaarig, intelligent, gutartig, zäh, gewandt, nicht besonders thätig, leichte Erwerbsart bevorzugend, genügsam und sparsam, mit Hartnäckigkeit alter Gewohnheit und heimischer Sitte ergeben.
Mit der Härte des Klimas, den Verheerungen der Gewässer und dem Mangel kultivierbaren Bodens steht er in einem schweren, ewigen Kampf. Der staatliche Zusammenhang ist locker und die Selbstherrlichkeit der Gemeinden und Thäler nur wenig beschränkt. Darum dringen auch die nötigen und von der Regierung angestrebten Verbesserungen im Schul-, Justiz- und Verwaltungswesen nur langsam durch. Doch wird im Schulwesen nach Maßgabe der finanziellen und geographischen Schwierigkeiten Anerkennenswertes geleistet, soweit dies die Primärschule und die auf höhere Studien vorbereitende Mittelschule betrifft. Es bestehen eine paritätische Kantonschule und ein Priesterseminar in Chur sowie verschiedene Privatinstitute. Dagegen fehlen noch die Sekundärschulen. Bei Chur bestehen zwei (private) Rettungsanstalten für beide Geschlechter (in Foral seit 1836 und in Plankis seit 1845), in Realta eine staatliche Zwangsarbeitsanstalt (seit 1856). Die Kantonsbibliothek in Chur zählt 18,000 Bände.
Die Erwerbsquellen bestehen wesentlich in Rohproduktion. Die Bündner, voraus die Engadiner, ¶
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wandern nach fremden Städten, hauptsächlich als Zuckerbäcker, Cafetiers oder Handelsleute (s. Engadin). Der Ertrag des Landbaues reicht nicht aus. Der Kanton besitzt nur 2588,4 qkm an Äckern, Wiesen und Weiden, 1260 qkm Wald und 3,2 qkm Weinland; der Rest (46,4 Proz.) ist unproduktive Fläche. Außer den gewöhnlichen Kornfrüchten und Kartoffeln erzeugen einige Thäler auch Mais, Buchweizen und Hirse; [* 16] Tabak [* 17] baut man im Puschlav. Der Weinbau ist auf Untermisox und das Churer Rheinthal beschränkt; in jenem sieht man die Rebe schon auf italienische Art gezogen, erhält aber nicht so guten Wein wie in der »Herrschaft«.
Hier, in den Weinbergen von Malans, wächst ein trefflicher Weißwein; sonst sind die Bündner Weine meist
rot. Große Mannigfaltigkeit herrscht an Obst, von den Kastanien Bergells und den verschiedenen Südfrüchten des Misox bis zu
den hoch ansteigenden Kirschen und den gletschernahen Zirbelnüssen. Bedeutende Holzausfuhr findet nach Glarus
und Zürich
[* 18] statt, denn Graubünden
ist
nebst Unterwalden und etwa noch Wallis
der einzige Kanton, dessen Wälder nachhaltig mehr ertragen, als er bedarf.
Nadelwald, darunter auch die Arve, herrscht vor. Nur im Prätigau ist die Buche häufig; selbst der Bergahorn kommt spärlich vor. Im Verhältnis zur Volkszahl hält kein andrer Kanton so viele Rinder [* 19] (80,000), die schönsten im Prätigau, Schanvic und am Heinzenberg, die meinen im Oberland. Die Oberländer Kühe sind auffallend klein (so auch die Schafe [* 20] und Schweine), [* 21] haben aber ein zartes Fleisch und sind deswegen in Glarus, Uri und Welschland sehr gesucht. Der Bündner Viehzüchter ist auf Milchwirtschaft und auf Viehverkauf bedacht.
Erstere läßt qualitativ zu wünschen übrig (guten Käse bereitet man nur in Tavetsch, im Albulathal
und Engadin) und deckt nicht einmal den eignen Bedarf. Pferde
[* 22] hält man besonders im Oberland und Prätigau; Schweine werden (20,000
Stück) auch auf den Alpen
[* 23] gesömmert. Sehr zahlreich sind die Schafe (80,000 Stück) und Ziegen (50,000 Stück), jene mit spärlicher
und rauher Wolle. Eine Anzahl von Alpen ist als Sommerweide an Italiener verpachtet; diese kommen meist aus der Provinz Bergamo
und übersommern mit etwa 40,000 Bergamasker Schafen auf den höchsten Alpen. Graubünden
betreibt, namentlich in Untermisox, auch etwas
Seidenzucht und besitzt unter allen Kantonen die meisten Mineralquellen: im Oberengadin St. Moriz, im Unterengadin
Schuls-Tarasp, im Prätigau Fideris und Serneus, im Misox San Bernardino, im Lugnez Peiden, am Hinterrhein Rothenbrunnen, Solis,
Tiefenkasten und Alveneu, im Puschlav Le
[* 24] Prese, bei Chur Passug u. a. Auch mehrere Luftkurorte, zum Teil großen Stils und neuern
Datums, wie Oberengadin und Davos, dann Seewis, Churwalden etc., sind vorhanden.
Von Mineralien [* 25] finden sich, namentlich im Gebiet des Hinterrheins, Eisen, [* 26] Silber, Blei, [* 27] Zink und Kupfer; [* 28] aber der Bergbau [* 29] liegt danieder. Die schlechte Bewirtschaftung, bedingt durch Unkenntnis und Schwindelei der Unternehmer, hat den Graubündner Bergbau zu Grunde gerichtet. Thonschiefer findet sich am Calanda, schöner Marmor bei Splügen und Ferrera, Gips [* 30] bei Klosters, Serpentin oberhalb von Klosters und im Oberhalbstein. Torf ist in den hohen Bergthälern ziemlich häufig.
Von industriellen Unternehmungen ist nur wenig vorhanden, nennenswert ist nur die Baumwollspinnerei. Der einheimische Handel
ist Holz- und Viehhandel: Das Speditionsgeschäft Churs, des cisalpinischen Knotenpunktes der Graubündner Pässe, hat seit Eröffnung
der Alpenbahnen verloren und noch keine Aussicht auf Ersatz. Chur ist
Sitz des die Grenzen
[* 31] der Kantone St.
Gallen und Graubünden
umfassenden dritten eidgenössischen Zollgebiets sowie des zehnten eidgenössischen Postkreises.
Die Entstehung des graubündnerischen Freistaats, der im Lauf der Zeit eine größere Zahl selbständiger Thäler zu den drei
Bünden und diese wieder zu Einem republikanischen Gemeinwesen vereinigte, brachte es mit sich, daß
die Autonomie der Gemeinden und Thäler nur geringe Beschränkung erlitt. Nach langen Anstrengungen ist die zeitgemäße Umschmelzung
der Kantonalverfassung erreicht Graubünden
bildet einen demokratischen Freistaat und als solcher ein Glied der
[* 32] schweizerischen
Eidgenossenschaft.
Der Volksabstimmung unterliegen alle Verfassungsänderungen, die Staatsverträge, Konkordate, gewisse Kategorien von Gesetzen, die Aufstellung neuer Behörden, Ausgaben, einmalige oder wiederkehrende, in bestimmtem Betrag etc. Die Initiative ist einer Zahl von 5000 Unterschriften eingeräumt. Das legislatorische Organ des Volkes bildet der Große Rat, welcher auf zweijährige Amtsdauer nach der Kopfzahl der Kreisbevölkerung gewählt wird. Er bildet zugleich in Verwaltungs- und Landespolizeiangelegenheiten die oberste Behörde, führt die Oberaufsicht über Handhabung der Verfassung etc., wählt die kantonalen Verwaltungsbehörden, die Abgeordneten zum eidgenössischen Ständerat etc., übt das Begnadigungsrecht, versammelt sich ordentlicherweise jährlich einmal und erstattet nach jeder Versammlung den Gemeinden Bericht über seine Verhandlungen.
Die Exekutive übt der Kleine Rat aus drei Mitgliedern, welche auf zwei Jahre vom Großen Rat gewählt werden und ihre Stelle nicht länger als zwei zusammenhängende Amtsperioden bekleiden können; das Präsidium wird alljährlich von derselben Behörde bezeichnet. Zur Vorberatung der dem Großen Rat vorzulegenden Geschäfte und zu andern wichtigen Verhandlungen erweitert sich der Kleine Rat durch neun vom Großen Rat gewählte Mitglieder zur Standeskommission.
Die Rechtspflege geschieht durch Vermittler, Kreisgerichte, Bezirksgerichte und das Kantonsgericht. Letzteres hat neun Mitglieder, die nach dreijähriger Amtsdauer immer wieder wählbar sind. Für den Schuldenbetrieb besteht in jedem Kreis [* 33] ein Gantgericht. Das kantonale Stimmrecht sowie die Wählbarkeit beginnen nach dem zurückgelegten 20. Lebensjahr. Die Verfassung garantiert die Gewissens-, Glaubens- und Kultusfreiheit sowie eine Reihe anderer Grundrechte.
Die politische Einteilung des Kantons unterscheidet 14. Bezirke, deren jeder in (1-5) Kreise
[* 34] zerfällt. Die Einteilung folgt keineswegs
dem in Graubünden
so maßgebenden hydrographischen Netz, sondern zerreißt sowohl ein und dasselbe Thal, z. B. Prätigau,
Avers-Ferrera, Engadin, als sie verschiedene Thäler zusammenwirft, so Davos mit Oberlanquart, Bergell mit Oberengadin. Die Staatsrechnung
für 1884 ergibt an Ausgaben 1,624,909 Frank, denen nur 1,070,971 Fr. Einnahme gegenüberstehen, das Defizit beträgt demnach
553,938 Fr.; letzteres eine Folge der großen Anstrengungen, welche das Land namentlich im Straßen- und Wuhr-(Wasserwehr-) Wesen
macht, bei aller Sparsamkeit seit 1860 alljährlich wiederkehrend. Die Hauptposten der Einnahmen bilden: 358,841 Frank Zölle
und Regale, 97,719 Kapitalzinsen, in einzelnen Verwaltungszweigen 200,000-274,000 Fr.;
diejenigen der Ausgaben: 501,813 Straßen- und Bauwesen, Erziehung 214,132, Militär 187,434 Fr. Ende Dezember 1884 betrugen die Aktiva 10,080,181 Fr., die Passiva 8,987,345 Fr., das reine Vermögen also 1,092,836 Fr. ¶
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Geschichte.
Zur Zeit der römischen Herrschaft bildete Graubünden
einen Teil der Provinz Raetia prima (s. Rätien), wohin mehrere wichtige Alpenstraßen
über den Julier, Septimer und Splügen führten. Von der Völkerwanderung wurde es nicht stark berührt, weshalb sich in seinen
Thälern die rätoromanische Bevölkerung und Sprache
[* 36] erhalten haben. 536 wurde das durch die Bayern
[* 37] und
Alemannen stark beschränkte Rätien von den Ostgoten an die Franken abgetreten. Anfänglich bildete es ein Ganzes unter einem
Präses oder Herzog, welche Würde von 600 bis 784 in dem Geschlecht der Viktoriden erblich war, die oft zugleich das Bistum
zu Chur, wo seit 451 Bischöfe erwähnt werden, innehatten.
Unter Karl d. Gr. zerfiel Rätien in mehrere Gaue, von denen Churrätien, im ganzen das heutige Graubünden
und Vorarlberg, der wichtigste
war. Durch Burkhart, den Grafen von Churrätien, der sich 917 zum Herzog von Alemannien aufschwang, wurde es mit Alemannien
vereinigt. Durch Teilung der Grafschaften und Immunitäten zerfiel Churrätien allmählich in eine Menge
von weltlichen und geistlichen Herrschaften; die größte war die des Bischofs von Chur, welche im 14. Jahrh. die Stadt Chur,
das Domleschg, Oberhalbstein, Engadin, Münsterthal, Puschlav, Bergell u. a. umfaßte.
Zugleich wurde aber auch der Grund zur demokratischen Entwickelung des Landes gelegt durch die Freiheiten der Stadt Chur und der »Gerichte«, d. h. der bäuerlichen Gemeinden, welche mancherlei Rechte, namentlich die niedere Gerichtsbarkeit, erwarben. Als Bischof Peter im Begriff stand, die weltliche Verwaltung des Bistums an Österreich [* 38] zu übertragen, vereinigten sich 1367 das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die dem Gotteshaus zugehörigen »Thäler« zum Schutz der Selbständigkeit des Bistums. So entstand der Bund des »gemeinen Gotteshauses« oder der Gotteshausbund, der bald regelmäßige Tagsatzungen abhielt und bei allen wichtigern Regierungshandlungen im Gebiet des Bischofs mitwirkte. Im J. 1395 schlossen der Abt von Disentis und die Freiherren von Sax und Räzüns nebst ihren Gemeinden ein Bündnis zur Aufrechthaltung des Landfriedens, dem bald auch die im Hinterrheinthal begüterten Grafen von Werdenberg beitraten. 1424 wurde dieser obere oder »graue« Bund unter dem Ahorn zu Truns neu beschworen.
Nach dem Hinscheiden des letzten Grafen von Toggenburg knüpften auch die »Gerichte«, die er im Prätigau, Davos, Schanvic und
Churwalden besessen, eine Verbindung unter sich, um den Folgen einer Teilung des Erbes vorzubeugen, den Zehngerichtenbund
(1436). Nachdem Gotteshausbund und Grauer Bund schon 1440, Gotteshaus- und Zehngerichtenbund 1450 sich verbunden, traten 1471 der
Graue Bund und der Zehngerichtenbund in ein dauerndes Verhältnis, womit das moderne Gemeinwesen der drei Bünde in Rätien oder
Graubünden
begründet war.
Die demokratische Entwickelung desselben wurde dadurch begünstigt, daß Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrh. alle alträtischen Dynastengeschlechter ausstarben. Durch eine Reihe von Loskaufstraktaten bis ins 19. Jahrh. gingen bald nur einzelne Rechtsame, bald die Gesamthoheit der geistlichen und weltlichen Herren auf die Gerichte über. So wurde nach und nach jedes der letztern ein souveräner Kleinstaat mit eigner Verfassung und Verwaltung; zwei oder mehrere Gerichte vereinten sich zu einem Hochgericht, das mithin schon ein Bundesstaat war, und diese endlich bildeten die drei Bünde. So zerfiel der obere Bund in 8 Hochgerichte und 19 Gerichte, der Gotteshausbund in 11 Hochgerichte und 21 Gerichte, der Zehngerichtenbund in 7 Hochgerichte und 11 Gerichte.
Jeder Bund hatte seine »Tage«; an der Spitze des obern Bundes stand der alljährlich auf dem Bundestag zu Truns erwählte »Landrichter«, an der des Gotteshausbundes der Bürgermeister von Chur und an derjenigen der Zehngerichte der Ammann zu Davos. Die gemeinsamen Behörden aller drei Bünde waren der »Bundestag«, zu dem der obere 28, das Gotteshaus 22 und die Zehngerichte 15 Boten schickten, und der anfänglich zu Vazerol, seit 1524 aber abwechselnd zu Ilanz, Chur und Davos tagte, und für die laufenden Geschäfte der »Beitag«, bestehend aus den Häuptern der drei Bünde nebst drei Abgeordneten eines jeden.
Bundesbeschlüsse erlangten jedoch erst Gültigkeit, wenn die Mehrheit der Gerichte und Gemeinden sie bestätigten (Referendum).
Die Übergriffe Österreichs, welches, bereits im Besitz Vorarlbergs und gewisser Herrschaftsrechte im Unterengadin, Münsterthal,
in Räzüns sowie in den Thälern des Zehngerichtenbundes, die Bünde gänzlich von sich abhängig zu machen
suchte, bewirkten, daß der obere und der Gotteshausbund mit den sieben alten Orten der Eidgenossenschaft
(ohne Bern)
[* 39] einen ewigen Freundschaftsvertrag schlossen. Der unmittelbar darauf folgende Schwabenkrieg, in welchem die Bündner
den glorreichen Sieg an der Calven erfochten, gab dieser Verbindung die Bluttaufe; noch enger
wurde dieselbe dadurch, daß Zürich
und Glarus
auch mit den Zehngerichten und Bern
mit allen drei Bünden in das gleiche
Verhältnis traten. Doch galt Graubünden
immer als ein besonderes Staatswesen neben der Schweiz. Durch seine Beteiligung an den Mailänder
Feldzügen erwarb es 1512 die Landschaften Veltlin, Bormio und Cläven, die von den drei Bünden abwechselnd regiert wurden. Die
Reformation fand auch in Graubünden
Eingang; nach einem Religionsgespräch zu Ilanz erklärte der Bundestag den Bischof aller
weltlichen Gewalt verlustig und gewährte Glaubensfreiheit.
Weniger die religiöse Entzweiung als die Bündnisse mit dem Ausland machten Graubünden
im 16. und 17. Jahrh.
zum Schauplatz periodisch wiederkehrender grauenvoller Parteikämpfe. Das ganze Land spaltete sich in eine spanisch-österreichische
und in eine französische Faktion; so oft eine Partei siegte, proskribierte sie die Gegner durch ein »Strafgericht«. 1620 erhoben
sich die von Mailand
[* 40] aus fanatisierten Veltliner im Einverständnis mit den geächteten Häuptern der österreichischen
Partei und ermordeten die im Land anwesenden Protestanten (Veltliner Mord 20. Juli); ein entsetzlicher Bürgerkrieg entbrannte, zugleich
rückten die Österreicher in ein, die Eidgenossen, in sich gespalten, vermochten keine Hilfe zu leisten, und das Land wäre
verloren gewesen, wenn nicht eine Anzahl Patrioten, an ihrer Spitze Georg Jenatsch (s. d.), zunächst mit
Hilfe Frankreichs die Österreicher verjagt (1635) und hierauf in geschickter Weise sich der französischen Vormundschaft durch
ein Bündnis mit Spanien-Österreich entledigt hätten (1637). Die französische Revolution fand den rätischen Freistaat, wie
die Eidgenossenschaft, ohne einigende Organisation und von Parteien zerrissen. Die Unterthanen empörten
sich, und als Graubünden
zögerte, nach Bonapartes Vorschlag die drei Landschaften als gleichberechtigten vierten Bund anzunehmen, vereinigte
sie derselbe mit der Cisalpinischen Republik wobei das dort befindliche Vermögen
¶
Im Geographisches Lexikon der SCHWEIZ, 1902
Titel
Graubünden,
französisch Grisons, rätoromanisch Grisun oder Grisum, italienisch Grigioni. Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft, in der offiziellen Reihenfolge der Kantone deren fünfzehnter.
Lage, Grenzen, Gestalt und Grösse.
Der Kanton Graubünden nimmt den SO. der Schweiz ein und liegt ganz innerhalb dem Alpengebiet. Er grenzt an vier andere Kantone und an drei fremde Staaten: St. Gallen, Glarus und Uri im N. und NW., an Tessin im W., Italien im S. und SO., Oesterreich im O. und NO. und Liechtenstein auf einer kurzen Strecke im N. Der Kanton St. Gallen berührt Graubünden vom Rhein bei Sargans bis zum Saurenstock (44 km), der Kanton Glarus von da bis zum Piz Catscharauls w. vom Tödi (41 km), der Kanton Uri dann bis zum Piz Alv (44 km) und der Kanton Tessin weiter bis zur Cima di Cugn am Joriopass (102 km); die italienische Grenze reicht von der Cima di Cugn bis zur Dreisprachenspitze am Stilfserjoch (272 km), die österreichische von da bis zum Naafkopf in der Falknisgruppe (169 km) und endlich die liechtensteinische wieder bis zum Rhein (12 km). Die Gesamtlänge der Grenze beträgt 684 km, wovon 66% auf das Ausland und 34% auf die Nachbarkantone kommen.
Zum weitaus grössten Teil verlaufen diese Grenzen über Gebirgskämme. An einigen Stellen folgen sie auch gut markierten Thalrinnen, so am Rhein von etwas unterhalb Landquart bis in die Nähe von Sargans (9 km), in Samnaun vom Gribellakopf längs dem Malfrag- und Schergenbach (etwa 12 km), dann längs dem Inn von Alt Finstermünz bis Martinsbruck (etwa 6 km), im Gebiet des Bergell von der Bocchetta della Teggiola bis zum Pizzo Gallegione längs dem Val Carnagina und Val Lovero (etwa 8 km). Dabei werden das Rheinthal, das Innthal und das Bergell gequert, wie dies auch im Münsterthal unterhalb Münster und an den Ausgängen des Puschlav und des Misox der Fall ist.
Mit dem Münsterthal, Puschlav, Bergell und Misox reicht Graubünden beträchtlich auf die südliche Abdachung der Alpen hinüber. Unbedeutender sind die Uebergriffe über die nächstliegenden Wasserscheiden im obern Fimberthal, an der Luziensteig und am Kunkelspass. Umgekehrt gehören das Val Livigno, das Val di Lei und das Val Cadlimo (am Oberlauf des Mittelrhein) nicht zu Graubünden, obwohl sie sich dahin entwässern. Abgesehen von diesen kleinen Unregelmässigkeiten sind die bündnerischen Grenzen gute Naturgrenzen, die das Land zu einem einheitlich geschlossenen Ganzen zusammen halten. Es ist wesentlich das Stamm- und Mutterhaus des Rhein und des Inn, die, nachdem sie hier erstarkt sind, weithin durch die Lande ziehen. So einheitlich freilich wie etwa das Wallis, das mit nur ganz geringen Ausnahmen einem einzigen Stromgebiet angehört, ist Graubünden nicht.
Können wir uns jenes unter dem Bilde eines einfachen Hauses vorstellen, so erscheint dieses vielmehr als ein Doppelhaus mit verschiedenen kleinen Anbauten. Der Umriss Graubündens ist dementsprechend ein sehr vielgestaltiger und namentlich im S. und SO. durch die halbinselartigen Vorsprünge des Misox, Puschlav und Münsterthals und die Einbuchtungen des S. Giacomothals und des Livigno-Violagebietes reich gegliedert. Die äussersten Punkte sind der Plauncaulta am Oberalppass im W., die Cima di Cugn (2237 m), resp. der Gardinello (2317 m) am Joriopass (46° 10' n. Br.) und Campocologno (46° 14' n. Br.) bei Tirano im S., der Piz Chavalatsch (Münsterthal) und Finstermünz im O., die Mündung des Fläscher Mühlbachs in den Rhein (etwa 47° 3' n. Br.) und einige Punkte des westlichen Rätikon (47° 4' n. Br.) im N. Die Länge der westöstlich verlaufenden Linie Plauncaulta-Piz Chavalatsch beträgt 142 km. Einige senkrecht darauf stehende Linien geben uns die sehr wechselnde Breite des Kantons an. Am grössten ist sie mit etwa 85 km zwischen dem Rätikon und den s. Bergellerbergen, dann mit 80 km zwischen Hausstock-Vorab und Gardinello; zwischen Ringelspitz und Splügenpass sind es noch 45 km, zwischen Piz Buin und Piz Diavel nur etwa 25 km und im Tavetsch noch weniger. Im Mittel beträgt die Breite - zu einer Länge von rund 140 km - etwas über 50 km, der Flächeninhalt 7185 oder rund 7200 km2. Graubünden ist damit der grösste Kanton der Schweiz, noch um 300 km2 grösser als der Kanton Bern und gerade 30 mal so gross wie der Kanton Zug. ¶
Bodengestalt des Kantons Graubünden
Lf. 71.
GEOGRAPHISCHES LEXIKON DER SCHWEIZ
Verlag von Gebr. Attinger, Neuenburg.
^[Karte: 7° 20’ O; 46° 30’ N; 1:500000]
PHYSIKALISCHE KARTE
DES
KANTONS GRAUBÜNDEN
Erklärungen:
▐ Unter 600 Metern | ▒ von 1200-2500 Metern |
▓ von 600-1200 Metern | ░ über 2500 Metern |
___ Eisenbahnen | == Poststrasse |
- - Kleinbahnen | -= Andere Strassen |
V. Attinger sc.
BODENGESTALT DES KANTONS GRAUBÜNDEN ¶
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Bodengestalt.
Graubünden ist ein typisches Gebirgs- und Hochland. Zwei Charakterzüge fallen bei Betrachtung desselben sofort in die Augen: 1. das wirre Netz von Gebirgsketten jeder Richtung, Gestalt und Höhe, 2. die gewaltige allgemeine Massenerhebung. Die letztere zeigt sich weniger in den Gipfelhöhen als in der hohen Lage der Thalsohlen. An Gipfelhöhe werden die Bündner Alpen innerhalb der Schweiz von den Berner und Walliser Alpen erheblich übertroffen. Aber nirgends sonst liegen die Thalsohlen so hoch wie in Graubünden. Am meisten zeigt sich dies im Engadin und seinen Nachbarthälern.
Das erstere steigt von 1000 m bei Martinsbruck bis 1800 m auf der Seestufe des Ober Engadin. Die mittlere Höhe der Thalsohle beträgt im Unter Engadin etwa 1300 m, im Ober Engadin (oberhalb der Puntauta) etwa 1700 m und für das ganze Thal 1500 m. Die ganze oberste Thalstufe vom St. Moritzersee bis Maloja, dann Pontresina, Livigno, Scarl und Samnaun liegen 1800 m hoch. Rascher und tiefer senken sich die s. Nachbarthäler des Engadins. Doch behalten auch sie noch eine sehr beträchtliche mittlere Höhe.
Das Bergell fällt innerhalb der Schweiz von 1800 bis 700 m, das Puschlav von 2300 bis 500 und das Münsterthal von 2150 bis 1200 m. Die mittleren Höhen der Thalsohlen ohne Einrechnung der Hintergehänge betragen für das Bergell und Puschlav je 1100-1200 m, für das Münsterthal 1500 m. Daran schliessen sich als Thäler der südlichen Abdachung noch das Misoxer- und Calancathal. Hier erreicht Graubünden unterhalb Roveredo mit 258 m seinen tiefsten Punkt. Aber das oberste Dorf des Misox, San Bernardino, liegt doch wieder über 1600 m hoch, und die mittlere Höhe der Thalsohle kommt noch nahe an 1000 m und im Calancathal auf etwa 1300 m. Auch die Thäler des Rheingebietes erreichen bei der Annäherung an das Engadin bedeutende Höhen. Davos und Rheinwald steigen als bewohnte Thäler etwa bis 1600 m, das Oberhalbstein und obere Albulathal bis 1800 m und Avers gar bis über 2100 m.
Kein anderer Teil der Schweiz weist solche Höhen der Thalsohlen und der bewohnten Orte auf. Vor allem findet das Engadin nicht seines gleichen. Das Rhonethal z. B. steigt von 460 m bei Martigny bis 1370 m bei Oberwald (oberstes Dorf) oder bis 1750 m beim Gletsch, aber die Strecken über 1000 oder gar über 1500 m sind nur ganz kurz, und die mittlere Sohlenhöhe des ganzen Thals beträgt darum nur etwa 800 m. Darin stimmt es annähernd mit dem bündnerischen Rheinthal überein, da letzteres von 560 m bei Chur bis 1650 m bei Tschamut steigt und eine mittlere Sohlenhöhe von etwa 950 m aufweist.
Auch in den Seitenthälern der Rhone giebt es nur wenige ständig bewohnte Orte über 1200 m Höhe, und die Thalstrecken über diesem Niveau sind sehr kurz. Noch weniger können sich in dieser Hinsicht die nördlichen Alpen mit Graubünden messen. Das Linththal erreicht 1000 m erst etwa bei der Pantenbrücke, das Sernfthal erst hinter Elm, das Reussthal erst kurz vor Göschenen. Im Berner Oberland liegen Guttannen, Grindelwald, Lenk und Saanen nur wenig über 1000 m, und über 1200 m finden wir da nur Gadmen (1202 m), Lauenen (1260 m), Abläntschen (1305 m), Adelboden (1356 m) und einige kleine, hoch über den Thalsohlen gelegene Terrassenorte wie Mürren (1636 m) und Gimmelwald (1386 m). Die 1000 m Kurve schneidet in den Nordalpen fjordartig tief in alle Thäler hinein, während sie in Graubünden nur im Vorder- und Hinterrheinthal, im untern Albulathal und im Prätigau tiefer ins Land eindringt, aber schon vor sämtlichen Seitenthälern des Vorderrhein, dann vor dem Rheinwalder-, Averser-, Oberhalbsteiner-, Bergüner- und Davoserthal Halt macht und namentlich das Engadin und auch das Münsterthal gar nicht berührt, auch ins Puschlav, Bergell und Misox nur wenig eindringt.
Da nun in Graubünden schon die absoluten Gipfelhöhen sehr mässige sind, so sind es noch mehr die relativen. Von Pontresina sind es nur etwa 2200 m auf den Piz Bernina, von Süs nur 2000 m auf den Piz Linard, von Bergün nur etwas über 1900 m auf den Piz d'Aela, ebenso von Mühlen auf den Piz d'Err und den Piz Platta und von Madulein nur 1700 m auf den Piz Kesch. Im Berner Oberland und im Wallis dagegen findet man sehr oft relative Höhen von 3000 und noch mehr Metern. Mönch und Jungfrau z. B. erheben sich 3300-3400 m über Lauterbrunnen, Dom und Weisshorn je etwa 3100 m über Randa, auch der Tödi noch fast 3000 m über Linthal. Es bleiben also die grössten relativen Gipfelhöhen in Graubünden um volle 1000 m und mehr hinter denjenigen im Berner Oberland und im Wallis zurück.
Eine weitere Folge ist, dass die Bündner Gebirge im allgemeinen sich weniger steil und schroff emportürmen, als es in den N.- und W.-Alpen der Fall ist. Zwar fehlt es nicht an kühnen und schlanken Gestalten, aber man findet doch viel mehr breite, relativ sanft ansteigende Abhänge, die weit hinauf mit Wäldern und Weiden bekleidet sind und ihr Pflanzenleben nur ganz allmählich und mehr aus klimatischen als aus orographischen Gründen verlieren. Freilich sind diese sanftern Böschungen und weichern Formen nicht nur durch die mässigen relativen Höhen, sondern wesentlich auch durch die Art und Lagerung der Gesteine bedingt, da in weiten Gebieten Graubündens schieferige Felsarten mit mässig steiler Aufrichtung vorherrschen.
Die grössere Massenerhebung u. die geringere Gipfelhöhe bewirken ferner ein höheres Hinaufrücken der Schneegrenze und damit eine geringere Ausdehnung der Firnfelder und Gletscher. Letztere nehmen in Graubünden 360 km2 oder nur 5% des gesamten Bodens ein, während es im Berner Oberland 288 km2 oder 10% und im Wallis 970 km2 oder 19% des Bodens sind. Und wie die Schneegrenzen, so rücken in Bünden auch alle Vegetationsgrenzen, insbesondere die Grenzen der für die Bewohnbarkeit und Nutzbarkeit des Landes so wichtigen Wälder und Weiden höher hinauf als in den meisten andern Alpengegenden.
Das alles ist für die Physiognomie des Landes von grösster Wichtigkeit. Infolge der geringern absoluten und relativen Höhen und der geringern Gletscherentwicklung bieten die Bündner Gebirge im ganzen einen weniger imposanten Anblick als die Berner- und Walliseralpen. Nur die Berninagruppe kann sich an Formschönheit und Firnglanz mit jenen messen, obwohl auch die übrigen Bündnergruppen eine Menge herrlicher Gebirgsansichten bieten. Wo aber das Majestätische, oft fast Schreckhafte mehr zurücktritt, da wird es ersetzt durch ungemein freundliche und liebliche Bilder, wie sie z. B. das Prätigau, Domleschg und Heinzenberg, der Piz Mundaun und ein grosser Teil des Bündneroberlandes (Gebiet des Vorderrhein), Davos und der grösste Teil des Engadin, namentlich dessen linke Seite mit ihren breiten sonnigen Gehängen, mit ihren hoch hinauf gehenden Wäldern und Weiden und mit den überall zerstreuten Hütten, Weilern und Dörfern gewähren. Ein Vorzug ist es ferner, dass die hochgelegenen Thäler mit ihren gastlichen Ortschaften und die vielen trefflichen Thal- und Bergstrassen das Gebirge in allen seinen Hauptteilen leicht zugänglich machen und auch die Ersteigung der höchsten Bergspitzen wesentlich erleichtern.
In dem Gewirr von Bergketten und Gruppen ist es nicht leicht, sich zu orientieren. Von verschiedenen Autoren sind darum auch die Bündner Alpen sehr verschieden eingeteilt worden. Eine Haupteinteilungslinie der Alpen überhaupt geht durch den Kanton Graubünden, indem August Böhm seine Grenzlinie zwischen West- u. Ostalpen vom Bodensee durch das Rheinthal und über den Splügen zum Comersee zieht. Graubünden hat also Anteil an den West- u. Ostalpen. Zu jenen gehören die Adulagruppe und die Tödikette, die durch das Thal des Vorderrhein von einander getrennt sind.
Die Adulagruppe geht w. bis an das Tessin- und Bleniothal. Mit ihr soll hier auch der ö. Teil der Gotthardgruppe, soweit er auf Bündnergebiet liegt, vereinigt werden. Es ist dies der Gebirgsabschnitt, der w. vom Somvixerthal und La Greina Pass liegt. Die Bündnerischen Ostalpen zerfallen durch die Thalfurche Bergell-Maloja-Engadin zunächst in die N.- und S.-Engadiner Alpen. Die letzteren zerlegen wir durch den Bernina Pass (Samaden-Tirano) in die Bernina- und die Ofenpassgruppe, die ersteren durch den Flesspass (Klosters-Vereinathal-Süs) in die Albula- und die Silvrettagruppe (inkl. Rätikon und Samnaungruppe). Der Albulagruppe ist das Plessurgebirge vorgelagert, von jener getrennt durch das Landwasser- und untere Albulathal. Wir erhalten also folgende Uebersicht der Bündner Alpen: A. Westalpen: 1. Tödikette, 2. Adulagruppe; B. Ostalpen, nördl. vom Engadin: 3. Albulagruppe, 4. Silvrettagruppe (mit Rätikon und Samnaungruppe), 5. Plessurgruppe; ¶
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.
.
Ostalpen, südl. vom Engadin: 6. Berninagruppe und 7. Ofenpassgruppe.
1. Die Tödikette
gehört nur mit ihrer südlichen, steilen Abdachung dem Kanton Graubünden an. Sie bildet einen hohen, geschlossenen Wall mit nur geringen Einschnitten, so dass sie von keiner einzigen Alpenstrasse überschritten wird. Nur hohe, beschwerliche Fuss- und Saumpfade verbinden da Graubünden mit den Nachbarkantonen: der Krüzlipass (2350 m) und der Brunnipass (2736 m) mit Uri, der Sandalppass (2780 m), der Kistenpass (2727 m), der Panixerpass (2407 m) und der Segnespass (2625 m) mit Glarus und der niedrige Kunkelspass (1351 m) mit dem st. gallischen Taminathal.
Die höchste und schönste Partie der Kette liegt zwischen dem Krüzli- und Panixerpass. Hier thront in der Mitte der gewaltige Tödi (3623 und 3601 m), dessen blendender Firnscheitel weit hinaus leuchtet in die ebenere Schweiz. Ihn umgeben kräftige Vasallen: Catscharauls (3062 m), Piz Cambriales (3208 und 3212 m) und Düssistock (3262 m) auf der einen Seite, Stockgron (3418 m), Piz Urlaun (3371 m) und Bifertenstock (3426 m) auf der andern. Von hier strahlen auch die grossen Hauptgletscher der Gruppe aus: der Hüfigletscher, der Claridenfirn und der Bifertengletscher.
Doch gehören diese alle der N.-Seite des Gebirges an. Nach der Bündnerseite senken sich nur kleinere Eisfelder ins Val Rusein, Val Puntaiglas und Val Frisal. In etwas grösserem Abstand vom Tödi erheben sich der Oberalpstock (3330 m) im SW. und der Hausstock (3152 m) im NO. als Mittelpunkte kleinerer selbständiger Gruppen und immer noch beträchtlicher Gletscher. Noch weiter nach SW. folgt nur noch die kleine, aber gestaltenreiche Gruppe des Piz Giuf (3098 m) und Crispalt (3080 m), während weiter nach NO. drei weitere Gruppen in ihren Kulminationspunkten noch 3000 m überschreiten: die Gruppe des Vorab (3025 und 3021 m) mit dem flach ausgebreiteten Bündnerbergfirn, die Sardonagruppe mit dem Piz Segnes (3102 m) als höchstem Gipfel und die Gruppe des Ringelspitz (3249 m). Den Schlussstein der Kette bildet der mehr nach N. gerichtete breitschulterige Calanda (2808 und 2700 m).
Geologisch zerfällt die Tödikette in zwei sehr verschieden geartete Teile. Von der Reuss (Schöllenenschlucht) bis unter den Tödi, resp. bis ins Val Rusein und Val Puntaiglas herrschen dieselben krystallinen Gesteine (Protogine, Gneise, krystalline Schiefer, auch Granite, Diorite, Syenite) und dieselbe Fächerstruktur mit steil aufgerichteten bis senkrecht stehenden Schichten wie im Aarmassiv, so dass dieser Teil der Tödikette als das nö. Ende dieses Massivs betrachtet wird. Weiter nach NO. baut sich das Gebirge aus Sedimenten vom Verrucano ¶
Im Geographisches Lexikon der SCHWEIZ, 1902
Titel
* Graubünden
(Kanton). Betriebszählung 1905. Die hauptsächlichsten Zahlen der Betriebszählung von 1905, soweit sie schon veröffentlicht sind, gewähren folgendes Bild von der erwerbstätigen Bevölkerung des Kantons.
Art der Gewerbe | Art der Betriebe | % | Personen männl. | weibl. | Total | % |
---|---|---|---|---|---|---|
Urproduktion | 13628 | 61.4 | 24078 | 18226 | 42304 | 56.0 |
Industrie | 3813 | 17.1 | 13413 | 2068 | 15481 | 20.5 |
Handel | 3206 | 14.4 | 4510 | 6558 | 11068 | 14.7 |
Verkehr | 1083 | 4.9 | 3860 | 720 | 4580 | 6.1 |
Kunst- u. Wissenschaften | 476 | 2.2 | 1181 | 868 | 2049 | 2.7 |
Total | 22206 | 100.0 | 47042 | 28440 | 75482 | 100 |
% | . | . | 62.3 | 37.7 | 100.0 | . |
Der Kanton besitzt ungefähr dieselben Betriebsverhältnisse, wie Tessin und Uri. Er gehört zu den 9 Kantonen mit über 50% in der Urproduktion beschäftigten Personen. Von sämtlichen Betrieben gehören 3/5 der Urproduktion an. Man vergegenwärtige sich z. B. folgende Gegensätze. Es entfielen Beschäftigte auf:
im Kanton: | Urprod. | Ind. | Handel. |
---|---|---|---|
Appenzell A. R. | 19.2 | 68.7 | 9.1 |
Glarus | 24.9 | 60.8 | 10.1 |
Graubünden | 56.0 | 20.5 | 14.7 |
Tessin | 58.9 | 21.5 | 12.0 |
Stark vertreten ist auch der Handel und Verkehr: Zeichen des Fremdenverkehrs. Die Heimarbeit ist mit 87 Personen so gering vertreten, dass sie übergangen werden kann.
Von je 100 Ew. entfallen Tätige in:
Landwirtschaft | 39.3 |
---|---|
Industrie | 14.4 |
Handel | 10.3 |
Verkehr | 4.3 |
Kunst. Wissenschaft | 1.9 |
Total | 70.2 |
Im Kanton Graubünden kommen auf 100 Ew. 70,2 in Betrieben Tätige. Das ist ein sehr hoher, der höchste Prozentsatz in der Schweiz.
a) Landwirtschaft.
Bergbau: 44 Betriebe mit 392 Personen, Landwirtschaft mit Alpwirtschaft 1171 Betr. mit 4250 Pers., Alpwirtschaft allein 643 Betr. mit 2390 Pers., Landwirtschaft allein 11372 Betr. mit 33927 Pers., Forstwirtschaft 398 Betr. mit 1345 Pers.
b) Industrie.
Ausserordentlich stark besetzt ist das Baugewerbe, wohl infolge der zahlreichen Bahnbauten und Hotelbauten. Von allen 15481 in Industriebetrieben Tätigen arbeiten 10094 = 65,2% allein in 1562 Baugewerbebetrieben. Auf Kleidung und Putz kommen 2058 Personen in 1158 Betrieben und auf Nahrungs- und Genussmittelgewerbe 1409 Personen in 511 Betrieben. Die Metallindustrie zählt in 368 Betrieben 775 Personen. Der Rest von Betrieben und Personen verteilt sich auf die übrigen 6 Betriebsgruppen.
Im Baugewerbe ergibt sich folgende Gliederung der Betriebsarten mit grösserer Personenzahl.
Betr. | Personen. | |
---|---|---|
Hochbau, Bauunternehmerei | 129 | 5049 |
Schreinerei | 480 | 1040 |
Maurerei | 134 | 482 |
Eisenbahn-, Strassen-, Brücken- und Tiefbau | 20 | 1395 |
Malerei | 96 | 364 |
Sägerei | 155 | 294 |
Zimmerei | 120 | 246 |
Schlosserei | 62 | 236 |
etc.
Die Stickerei ist die am stärksten verbreitete Betriebsart der Textilindustrie (43 Betr. mit 172 Personen, davon 65 Heimarbeiter). In der Baumwollspinnerei und -zwirnerei waren in 3 Betrieben (darunter 1 hausindustrieller) 62 Personen, in der Wollspinnerei und -weberei 59 Pers. beschäftigt. Papierstoff-, Papierfabrikation und Holzschleiferei beschäftigen in 3 Betrieben 185 Personen.
Die grösste Zahl von Personen in der Metall- und Maschinenbranche weisen auf:
Betriebe | Personen | |
---|---|---|
Schmiede | 166 | 305 |
Wagner | 96 | 140 |
Eisengiessereien u. mechan. Werkstätten | 14 | 184 |
Uhrenmacherei | 45 | 61 |
Im Druckereigewerbe arbeiten in 17 Betrieben 191 Personen, in Photographie, Lithographie etc. in 24 Betrieben 58 Personen. ¶
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Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke gibt es 29 mit 179 Beschäftigten.
Alles in allem zeigt sich, dass die Exportindustrie, die eigentliche Fabrikindustrie schwach vertreten ist. Stark besetzt ist alles, was die Bedürfnisse der Hotelindustrie befriedigt und dem Verkehrswesen dient. Das zeigt sich speziell im Handel und Verkehrswesen.
c) Handel.
Es sind in | Betriebe | Personen |
---|---|---|
Gastwirtschaftswesen | 1690 | 8332 |
Spezerei- etc. Handel | 636 | 1072 |
Stein-, Ton-, Glas- und Metallindustrie | 111 | 231 |
Mercerie- u. ähnlichen Betrieben | 204 | 421 |
Bazars | 11 | 113 |
Getränkehandel | 97 | 197 |
Uebrige 14 Gruppen | 457 | 702 |
Total | 3206 | 11068 |
Man beachte: im Gastwirtschafts und Hotelwesen sind in 1690 Betrieben (50,6% der Handelsbetriebe) 8332 Personen (75,7% aller im Handel Tätigen) beschäftigt. 198 dieser Betriebe sind Alleinbetriebe, die übrigen 1492 arbeiten mit mehr als 1 Person, durchschnittlich mit 5-6 Personen.
Es entfallen auf | Betriebe | Personen |
---|---|---|
Gasthöfe, Pensionen | 518 | 6264 |
(darunter mit Restaurants | 329 | 3627) |
Restaurants (ohne Gasthof) | 966 | 1707 |
Temperenzwirtschaften | 5 | 28 |
Kostgeberei, Köche etc. | 201 | 233 |
Im Gastwirtschaftswesen sind tätig 2854 männliche und 5478 weibliche = 8332 Personen. Von 100 Einwohnern sind 8,3 in dieser Branche tätig; das ist der höchste Prozentsatz in der Schweiz.
d) Verkehr.
1083 Betriebe mit 4580 Personen.
Es entfallen auf | Betriebe | Personen |
---|---|---|
Eisenbahnen etc. | 63 | 1490 |
Post | 361 | 1225 |
Fuhrhalterei etc. | 406 | 1200 |
Telegraph u. Telephon | 152 | 444 |
Zoll | 14 | 109 |
Berg- und Fremdenführer | 79 | 82 |
Diverses. | 8 | 30 |
Der Kanton Graubünden gehört zu denjenigen Kantonen, die verhältnismässig am meisten Personen im Verkehrswesen beschäftigen. Er steht hierin im 3. Rang.
Auf 100 Einwohner | kommen Tätige im Verkehr: |
---|---|
in Uri | 5.66 |
in Basel-Stadt | 4.94 |
in Graubünden | 4.26 |
e) Künstlerisches und wissenschaftliches Gewerbe.
Merkwürdigerweise marschiert der Landwirtschaftskanton Graubünden an der Spitze aller Kantone nach der verhältnismässigen Zahl von Personen, die in Kunst und Wissenschaft erwerbend tätig sind. Das rührt von der starken Besetzung der Gruppe Gesundheits- und Krankenpflege her (auf 100 Einwohner 1,6 Personen, in Basel Land z. B. nur 0,35 Personen, in der Schweiz 0,4 Personen).
Es gab im Jahr 1905:
Gesundheits- und Krankenpflege. | Betriebe | Personen |
---|---|---|
Heilanstalten und ähnliche | 34 | 1345 |
Aerzte | 94 | 101 |
Hebammen | 123 | 119 |
Apotheker | 19 | 61 |
Diverses | 55 | 81 |
Total | 325 | 1707 |
In der öffentlichen Verwaltung gab es | 31 | 20 |
Rechtswesen | 44 | 59 |
Privatunterricht-Erziehung | 26 | 102 |
Andere Wissenschaften | 13 | 56 |
Künste | 37 | 105 |
Nächst der Landwirtschaft sind folgende Betriebsarten am stärksten besetzt:
Beschäftigte | |
---|---|
Hôtels | 6264 |
Hochbau | 5049 |
Restaurants | 1707 |
Eisenbahn | 1490 |
Spitäler und Heilanstalten | 1345 |
Post | 1225 |
Führerwesen | 1200 |
Schreinerei | 1040 |
Tiefbau | 946 |
Spezereihandel | 794 |
etc.
[Dr. F. Mangold.]
Gerichtsorganisation.
Seit dem Jahre 1908 besitzt der Kanton eine neue Gerichtsorganisation, aber die Gerichtsbehörden sind die gleichen geblieben: Friedensrichter (Vermittler), Kreisgerichte, Bezirksgerichte und Kantonsgericht. Der Friedensrichter entscheidet als Einzelrichter unweiterzüglich in Streitfällen bis zu 150 Franken. Die Kreis- und Bezirksgerichte bestehen jetzt aus 5 anstatt aus 7 Mitgliedern; ebenso das Kantonsgericht, das deren 9 zählte. Die Kreisgerichte sind nur in Kriminalsachen zuständig, das Bezirksgericht nur in bürgerlichen Rechtsanständen. Das Kantonsgericht ist Zivil- und Kriminalgericht. Als Kriminalgericht ist ihm eine aus seinem Präsidenten und zwei vom Grossen Rate gewählten Beisitzern bestehende Anklagekammer beigegeben. Die Wahlart der Gerichte ist die gleiche geblieben.