Titel
Graubünden
(Bünden, rätorom. ils Grischuns, ital. le Grigioni),
Kanton
[* 3] der
Schweiz,
[* 4] den Südosten derselben umfassend, grenzt östlich an
Tirol,
[* 5] südlich an die
Lombardei, westlich an Tessin
und Uri,
nördlich
an Glarus,
St.
Gallen,
Liechtenstein
[* 6] und
Vorarlberg und hat ein
Areal von 7185 qkm (130,5 QM.), ist somit
der größte
Kanton. Graubünden
ist ein Gebirgsland im strengsten
Sinn des
Wortes, ohne
Ebenen, mit schmalen Thalflächen und dem ausgeprägten
Charakter der Massenerhebung (s.
Graubündner Alpen).
Die
Höhen bewegen sich auf einer
Skala von 4052 m
(Piz
Bernina) bis 503 m (Mayenfeld-Fläsch), selbst bis 269 m
(unterhalb
Roveredo), den beiden tiefsten Thalausgängen. Die höchste ständige
Wohnung hat der Bernhardinpaß (2063 m), dessen
mittlere Jahrestemperatur +0,7° C. beträgt. Die
Thäler, soweit sie zum Rheingebiet gehören, bilden hauptsächlich das
Gebiet des
Vorderrheins (Bündner Oberland) und des
Hinterrheins (s. d.); unterhalb des Zusammenflusses beider
Rheine, dem
Churer
Rheinthal und der sogen. »Herrschaft«
(der bis 1798 von Graubünden
beherrschten Thalstufe von Mayenfeld-Malans-Jenins-Fläsch) zu, öffnen sich nur noch
Schanvic und
Prätigau.
Die Flüsse [* 7] dieser beiden Thäler sind die Plessur und die Lanquart. Das Pogebiet ist durch vier Thäler repräsentiert: Misox und Calanca, Bergell und Puschlav (die Ram, der Bach des Münsterthals, geht der Etsch und damit ebenfalls dem Adriatischen Meer zu), das Donaugebiet durch das vom Inn durchflossene Engadin und dessen Nebenthäler. Die Pozuflüsse heißen Moesa und Calancasca, Maira und Poschiavino. Die Hauptpforte der Nordseite bildet das Thal [* 8] des Rheins, durch welches die Eisenbahn, eine Strecke der »Vereinigten [* 9] Schweizerbahnen«, bis nach Chur [* 10] eindringt; die übrigen Zugänge sind, die durch Befestigungen geschützte Luciensteig (714 m) ausgenommen, bloße Gebirgspfade, wie das Schweizerthor (2170 m) und andre den Rätikon vom Montavon her überschreitende Pässe, der Kunkels 1351 m), der Segnas (2626 m), der Panixer Paß (2410 m) und der Kreuzlipaß (2350 m), die sämtlich nach den drei nördlichen Nachbarkantonen führen.
Die Hauptpforte nach Uri, auf der Westseite, bildet die fahrbare Oberalp (2052 m), während nach S., Tessin und Italien [* 11] zu, verschiedene fahrbare und unfahrbare Übergänge benutzt werden: Lukmanier (s. d.), La Greina (2360 m), nicht chaussiert, der Bernhardin (s. Bernardino) und Splügen (s. d.), Maloja (s. d.) und Bernina (s. d.), von Bergpfaden der wilde Muretto (2557 m) und das Wormser Joch (2512 m). Die natürliche Pforte nach O. bildet der Inn, dessen finstere Ausgangsschlucht bei Finstermünz auf dem Umweg über Nauders umgangen wird; eine kleine Straße führt über den Ofenpaß (2155 m) in das Münsterthal und damit in das Etschgebiet.
Der Verkehr zwischen den einzelnen Thälern des Landes selbst benutzt eine Menge einsamerer Bergpfade; die Strela (2377 m), die Scaletta (2619 m), der Septimer (2311 m) u. a. dienen auch der Touristenwelt, während Lenzer Heide und Julier die fahrbare Verbindung mit Oberengadin, Laret und Flüela diejenige mit Davos und Unterengadin vermitteln. Wie in neuerer Zeit außerordentliche Anstrengungen machte, um den Verheerungen seiner Flüsse und Wildbäche Einhalt zu thun, so hat es auch in Straßenbauten Erstaunliches geleistet.
Die ältern Paßrouten des Splügen und Bernhardin, denen sich Julier und Maloja anschlossen, standen wesentlich im Dienste [* 12] des internationalen Transits; dagegen war es die Aufgabe einer Reihe jüngerer Bauten, die einzelnen Thäler unter sich in fahrbare Verbindung zu bringen. Zu diesem Zweck wurden vier Paßstraßen (Bernina, Albula, Flüela, Ofenpaß) und vier Thalstraßen (Unterengadin, Puschlav, Landwasser und Schyn) erbaut, letztere durch Schluchten, welche bisher unfahrbar gewesen waren.
Vgl. Planta, Die Bündner Alpenstraßen (St. Gallen 1868), und J. J. ^[Johann Jakob] Egli, Die neuen Schweizer Alpenstraßen (»Gäa« 1876, S. 277 ff.).
Die Zahl der Einwohner beträgt nur (1880) 94,991, also 13 auf 1 qkm.
Von den vier schweizerischen
Nationalitäten weist Graubünden
drei auf. Das deutsche
Element, jetzt 43,664
Köpfe stark, ist ins Rheinthal
eingedrungen und hat das romanische zurückgedrängt; ein langsamer, aber stiller
Kampf wird seine Herrschaft mehr und mehr
befestigen.
Noch bewohnen die Rätoromanen (37,794) den größten Teil des Oberlandes, verschiedene Gegenden im Hinterrheingebiet
sowie das
Engadin und Münsterthal, im Gebiet beider
Rheine jedoch vielfach mit
Deutschen gemischt.
Die italienische Nationalität (12,976) hat hauptsächlich die vier Thäler des Pogebiets inne. 1880 waren neben 53,168 Protestanten 41,711 Katholiken und 38 Israeliten. Im Bündnerland begegnet man der sonst seltenen Erscheinung protestantischer Romanen: die Rätoromanen im Engadin (Tarasp ausgenommen), in Schams und Ferrera und die Italiener des Bergell gehören fast ausschließlich der reformierten Konfession an, ebenso die Mehrzahl der Rätoromanen des Münsterthals (Münster [* 13] ausgenommen) sowie endlich mehr als ein Viertel der Italiener des Puschlav.
Sonst überwiegen die Reformierten noch bei der deutschen Bevölkerung, [* 14] während in den meisten romanischen Ortschaften das katholische Bekenntnis vorherrscht. Die graubündnerischen Katholiken stehen unter dem Bistum Chur. hat noch ein Mannskloster (in Disentis) und 3 Frauenklöster (Kazis, Poschiavo und Münster), zusammen mit einem Immobiliarvermögen von 1 Mill. Frank. So verschieden nun auch die Bevölkerung all der zahlreichen Thäler ist, so läßt sich doch folgendes von ihr sagen: Der Bündner ist durchschnittlich von ausgeprägter Physiognomie, dunkelhaarig, intelligent, gutartig, zäh, gewandt, nicht besonders thätig, leichte Erwerbsart bevorzugend, genügsam und sparsam, mit Hartnäckigkeit alter Gewohnheit und heimischer Sitte ergeben.
Mit der Härte des Klimas, den Verheerungen der Gewässer und dem Mangel kultivierbaren Bodens steht er in einem schweren, ewigen Kampf. Der staatliche Zusammenhang ist locker und die Selbstherrlichkeit der Gemeinden und Thäler nur wenig beschränkt. Darum dringen auch die nötigen und von der Regierung angestrebten Verbesserungen im Schul-, Justiz- und Verwaltungswesen nur langsam durch. Doch wird im Schulwesen nach Maßgabe der finanziellen und geographischen Schwierigkeiten Anerkennenswertes geleistet, soweit dies die Primärschule und die auf höhere Studien vorbereitende Mittelschule betrifft. Es bestehen eine paritätische Kantonschule und ein Priesterseminar in Chur sowie verschiedene Privatinstitute. Dagegen fehlen noch die Sekundärschulen. Bei Chur bestehen zwei (private) Rettungsanstalten für beide Geschlechter (in Foral seit 1836 und in Plankis seit 1845), in Realta eine staatliche Zwangsarbeitsanstalt (seit 1856). Die Kantonsbibliothek in Chur zählt 18,000 Bände.
Die Erwerbsquellen bestehen wesentlich in Rohproduktion. Die Bündner, voraus die Engadiner, ¶
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wandern nach fremden Städten, hauptsächlich als Zuckerbäcker, Cafetiers oder Handelsleute (s. Engadin). Der Ertrag des Landbaues reicht nicht aus. Der Kanton besitzt nur 2588,4 qkm an Äckern, Wiesen und Weiden, 1260 qkm Wald und 3,2 qkm Weinland; der Rest (46,4 Proz.) ist unproduktive Fläche. Außer den gewöhnlichen Kornfrüchten und Kartoffeln erzeugen einige Thäler auch Mais, Buchweizen und Hirse; [* 16] Tabak [* 17] baut man im Puschlav. Der Weinbau ist auf Untermisox und das Churer Rheinthal beschränkt; in jenem sieht man die Rebe schon auf italienische Art gezogen, erhält aber nicht so guten Wein wie in der »Herrschaft«.
Hier, in den Weinbergen von Malans, wächst ein trefflicher Weißwein; sonst sind die Bündner Weine meist
rot. Große Mannigfaltigkeit herrscht an Obst, von den Kastanien Bergells und den verschiedenen Südfrüchten des Misox bis zu
den hoch ansteigenden Kirschen und den gletschernahen Zirbelnüssen. Bedeutende Holzausfuhr findet nach Glarus
und Zürich
[* 18] statt, denn Graubünden
ist
nebst Unterwalden und etwa noch Wallis
der einzige Kanton, dessen Wälder nachhaltig mehr ertragen, als er bedarf.
Nadelwald, darunter auch die Arve, herrscht vor. Nur im Prätigau ist die Buche häufig; selbst der Bergahorn kommt spärlich vor. Im Verhältnis zur Volkszahl hält kein andrer Kanton so viele Rinder [* 19] (80,000), die schönsten im Prätigau, Schanvic und am Heinzenberg, die meinen im Oberland. Die Oberländer Kühe sind auffallend klein (so auch die Schafe [* 20] und Schweine), [* 21] haben aber ein zartes Fleisch und sind deswegen in Glarus, Uri und Welschland sehr gesucht. Der Bündner Viehzüchter ist auf Milchwirtschaft und auf Viehverkauf bedacht.
Erstere läßt qualitativ zu wünschen übrig (guten Käse bereitet man nur in Tavetsch, im Albulathal
und Engadin) und deckt nicht einmal den eignen Bedarf. Pferde
[* 22] hält man besonders im Oberland und Prätigau; Schweine werden (20,000
Stück) auch auf den Alpen
[* 23] gesömmert. Sehr zahlreich sind die Schafe (80,000 Stück) und Ziegen (50,000 Stück), jene mit spärlicher
und rauher Wolle. Eine Anzahl von Alpen ist als Sommerweide an Italiener verpachtet; diese kommen meist aus der Provinz Bergamo
und übersommern mit etwa 40,000 Bergamasker Schafen auf den höchsten Alpen. Graubünden
betreibt, namentlich in Untermisox, auch etwas
Seidenzucht und besitzt unter allen Kantonen die meisten Mineralquellen: im Oberengadin St. Moriz, im Unterengadin
Schuls-Tarasp, im Prätigau Fideris und Serneus, im Misox San Bernardino, im Lugnez Peiden, am Hinterrhein Rothenbrunnen, Solis,
Tiefenkasten und Alveneu, im Puschlav Le
[* 24] Prese, bei Chur Passug u. a. Auch mehrere Luftkurorte, zum Teil großen Stils und neuern
Datums, wie Oberengadin und Davos, dann Seewis, Churwalden etc., sind vorhanden.
Von Mineralien [* 25] finden sich, namentlich im Gebiet des Hinterrheins, Eisen, [* 26] Silber, Blei, [* 27] Zink und Kupfer; [* 28] aber der Bergbau [* 29] liegt danieder. Die schlechte Bewirtschaftung, bedingt durch Unkenntnis und Schwindelei der Unternehmer, hat den Graubündner Bergbau zu Grunde gerichtet. Thonschiefer findet sich am Calanda, schöner Marmor bei Splügen und Ferrera, Gips [* 30] bei Klosters, Serpentin oberhalb von Klosters und im Oberhalbstein. Torf ist in den hohen Bergthälern ziemlich häufig.
Von industriellen Unternehmungen ist nur wenig vorhanden, nennenswert ist nur die Baumwollspinnerei. Der einheimische Handel
ist Holz- und Viehhandel: Das Speditionsgeschäft Churs, des cisalpinischen Knotenpunktes der Graubündner Pässe, hat seit Eröffnung
der Alpenbahnen verloren und noch keine Aussicht auf Ersatz. Chur ist
Sitz des die Grenzen
[* 31] der Kantone St.
Gallen und Graubünden
umfassenden dritten eidgenössischen Zollgebiets sowie des zehnten eidgenössischen Postkreises.
Die Entstehung des graubündnerischen Freistaats, der im Lauf der Zeit eine größere Zahl selbständiger Thäler zu den drei
Bünden und diese wieder zu Einem republikanischen Gemeinwesen vereinigte, brachte es mit sich, daß
die Autonomie der Gemeinden und Thäler nur geringe Beschränkung erlitt. Nach langen Anstrengungen ist die zeitgemäße Umschmelzung
der Kantonalverfassung erreicht Graubünden
bildet einen demokratischen Freistaat und als solcher ein Glied der
[* 32] schweizerischen
Eidgenossenschaft.
Der Volksabstimmung unterliegen alle Verfassungsänderungen, die Staatsverträge, Konkordate, gewisse Kategorien von Gesetzen, die Aufstellung neuer Behörden, Ausgaben, einmalige oder wiederkehrende, in bestimmtem Betrag etc. Die Initiative ist einer Zahl von 5000 Unterschriften eingeräumt. Das legislatorische Organ des Volkes bildet der Große Rat, welcher auf zweijährige Amtsdauer nach der Kopfzahl der Kreisbevölkerung gewählt wird. Er bildet zugleich in Verwaltungs- und Landespolizeiangelegenheiten die oberste Behörde, führt die Oberaufsicht über Handhabung der Verfassung etc., wählt die kantonalen Verwaltungsbehörden, die Abgeordneten zum eidgenössischen Ständerat etc., übt das Begnadigungsrecht, versammelt sich ordentlicherweise jährlich einmal und erstattet nach jeder Versammlung den Gemeinden Bericht über seine Verhandlungen.
Die Exekutive übt der Kleine Rat aus drei Mitgliedern, welche auf zwei Jahre vom Großen Rat gewählt werden und ihre Stelle nicht länger als zwei zusammenhängende Amtsperioden bekleiden können; das Präsidium wird alljährlich von derselben Behörde bezeichnet. Zur Vorberatung der dem Großen Rat vorzulegenden Geschäfte und zu andern wichtigen Verhandlungen erweitert sich der Kleine Rat durch neun vom Großen Rat gewählte Mitglieder zur Standeskommission.
Die Rechtspflege geschieht durch Vermittler, Kreisgerichte, Bezirksgerichte und das Kantonsgericht. Letzteres hat neun Mitglieder, die nach dreijähriger Amtsdauer immer wieder wählbar sind. Für den Schuldenbetrieb besteht in jedem Kreis [* 33] ein Gantgericht. Das kantonale Stimmrecht sowie die Wählbarkeit beginnen nach dem zurückgelegten 20. Lebensjahr. Die Verfassung garantiert die Gewissens-, Glaubens- und Kultusfreiheit sowie eine Reihe anderer Grundrechte.
Die politische Einteilung des Kantons unterscheidet 14. Bezirke, deren jeder in (1-5) Kreise
[* 34] zerfällt. Die Einteilung folgt keineswegs
dem in Graubünden
so maßgebenden hydrographischen Netz, sondern zerreißt sowohl ein und dasselbe Thal, z. B. Prätigau,
Avers-Ferrera, Engadin, als sie verschiedene Thäler zusammenwirft, so Davos mit Oberlanquart, Bergell mit Oberengadin. Die Staatsrechnung
für 1884 ergibt an Ausgaben 1,624,909 Frank, denen nur 1,070,971 Fr. Einnahme gegenüberstehen, das Defizit beträgt demnach
553,938 Fr.; letzteres eine Folge der großen Anstrengungen, welche das Land namentlich im Straßen- und Wuhr-(Wasserwehr-) Wesen
macht, bei aller Sparsamkeit seit 1860 alljährlich wiederkehrend. Die Hauptposten der Einnahmen bilden: 358,841 Frank Zölle
und Regale, 97,719 Kapitalzinsen, in einzelnen Verwaltungszweigen 200,000-274,000 Fr.;
diejenigen der Ausgaben: 501,813 Straßen- und Bauwesen, Erziehung 214,132, Militär 187,434 Fr. Ende Dezember 1884 betrugen die Aktiva 10,080,181 Fr., die Passiva 8,987,345 Fr., das reine Vermögen also 1,092,836 Fr. ¶
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Geschichte.
Zur Zeit der römischen Herrschaft bildete Graubünden
einen Teil der Provinz Raetia prima (s. Rätien), wohin mehrere wichtige Alpenstraßen
über den Julier, Septimer und Splügen führten. Von der Völkerwanderung wurde es nicht stark berührt, weshalb sich in seinen
Thälern die rätoromanische Bevölkerung und Sprache
[* 36] erhalten haben. 536 wurde das durch die Bayern
[* 37] und
Alemannen stark beschränkte Rätien von den Ostgoten an die Franken abgetreten. Anfänglich bildete es ein Ganzes unter einem
Präses oder Herzog, welche Würde von 600 bis 784 in dem Geschlecht der Viktoriden erblich war, die oft zugleich das Bistum
zu Chur, wo seit 451 Bischöfe erwähnt werden, innehatten.
Unter Karl d. Gr. zerfiel Rätien in mehrere Gaue, von denen Churrätien, im ganzen das heutige Graubünden
und Vorarlberg, der wichtigste
war. Durch Burkhart, den Grafen von Churrätien, der sich 917 zum Herzog von Alemannien aufschwang, wurde es mit Alemannien
vereinigt. Durch Teilung der Grafschaften und Immunitäten zerfiel Churrätien allmählich in eine Menge
von weltlichen und geistlichen Herrschaften; die größte war die des Bischofs von Chur, welche im 14. Jahrh. die Stadt Chur,
das Domleschg, Oberhalbstein, Engadin, Münsterthal, Puschlav, Bergell u. a. umfaßte.
Zugleich wurde aber auch der Grund zur demokratischen Entwickelung des Landes gelegt durch die Freiheiten der Stadt Chur und der »Gerichte«, d. h. der bäuerlichen Gemeinden, welche mancherlei Rechte, namentlich die niedere Gerichtsbarkeit, erwarben. Als Bischof Peter im Begriff stand, die weltliche Verwaltung des Bistums an Österreich [* 38] zu übertragen, vereinigten sich 1367 das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die dem Gotteshaus zugehörigen »Thäler« zum Schutz der Selbständigkeit des Bistums. So entstand der Bund des »gemeinen Gotteshauses« oder der Gotteshausbund, der bald regelmäßige Tagsatzungen abhielt und bei allen wichtigern Regierungshandlungen im Gebiet des Bischofs mitwirkte. Im J. 1395 schlossen der Abt von Disentis und die Freiherren von Sax und Räzüns nebst ihren Gemeinden ein Bündnis zur Aufrechthaltung des Landfriedens, dem bald auch die im Hinterrheinthal begüterten Grafen von Werdenberg beitraten. 1424 wurde dieser obere oder »graue« Bund unter dem Ahorn zu Truns neu beschworen.
Nach dem Hinscheiden des letzten Grafen von Toggenburg knüpften auch die »Gerichte«, die er im Prätigau, Davos, Schanvic und
Churwalden besessen, eine Verbindung unter sich, um den Folgen einer Teilung des Erbes vorzubeugen, den Zehngerichtenbund
(1436). Nachdem Gotteshausbund und Grauer Bund schon 1440, Gotteshaus- und Zehngerichtenbund 1450 sich verbunden, traten 1471 der
Graue Bund und der Zehngerichtenbund in ein dauerndes Verhältnis, womit das moderne Gemeinwesen der drei Bünde in Rätien oder
Graubünden
begründet war.
Die demokratische Entwickelung desselben wurde dadurch begünstigt, daß Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrh. alle alträtischen Dynastengeschlechter ausstarben. Durch eine Reihe von Loskaufstraktaten bis ins 19. Jahrh. gingen bald nur einzelne Rechtsame, bald die Gesamthoheit der geistlichen und weltlichen Herren auf die Gerichte über. So wurde nach und nach jedes der letztern ein souveräner Kleinstaat mit eigner Verfassung und Verwaltung; zwei oder mehrere Gerichte vereinten sich zu einem Hochgericht, das mithin schon ein Bundesstaat war, und diese endlich bildeten die drei Bünde. So zerfiel der obere Bund in 8 Hochgerichte und 19 Gerichte, der Gotteshausbund in 11 Hochgerichte und 21 Gerichte, der Zehngerichtenbund in 7 Hochgerichte und 11 Gerichte.
Jeder Bund hatte seine »Tage«; an der Spitze des obern Bundes stand der alljährlich auf dem Bundestag zu Truns erwählte »Landrichter«, an der des Gotteshausbundes der Bürgermeister von Chur und an derjenigen der Zehngerichte der Ammann zu Davos. Die gemeinsamen Behörden aller drei Bünde waren der »Bundestag«, zu dem der obere 28, das Gotteshaus 22 und die Zehngerichte 15 Boten schickten, und der anfänglich zu Vazerol, seit 1524 aber abwechselnd zu Ilanz, Chur und Davos tagte, und für die laufenden Geschäfte der »Beitag«, bestehend aus den Häuptern der drei Bünde nebst drei Abgeordneten eines jeden.
Bundesbeschlüsse erlangten jedoch erst Gültigkeit, wenn die Mehrheit der Gerichte und Gemeinden sie bestätigten (Referendum).
Die Übergriffe Österreichs, welches, bereits im Besitz Vorarlbergs und gewisser Herrschaftsrechte im Unterengadin, Münsterthal,
in Räzüns sowie in den Thälern des Zehngerichtenbundes, die Bünde gänzlich von sich abhängig zu machen
suchte, bewirkten, daß der obere und der Gotteshausbund mit den sieben alten Orten der Eidgenossenschaft
(ohne Bern)
[* 39] einen ewigen Freundschaftsvertrag schlossen. Der unmittelbar darauf folgende Schwabenkrieg, in welchem die Bündner
den glorreichen Sieg an der Calven erfochten, gab dieser Verbindung die Bluttaufe; noch enger
wurde dieselbe dadurch, daß Zürich
und Glarus
auch mit den Zehngerichten und Bern
mit allen drei Bünden in das gleiche
Verhältnis traten. Doch galt Graubünden
immer als ein besonderes Staatswesen neben der Schweiz. Durch seine Beteiligung an den Mailänder
Feldzügen erwarb es 1512 die Landschaften Veltlin, Bormio und Cläven, die von den drei Bünden abwechselnd regiert wurden. Die
Reformation fand auch in Graubünden
Eingang; nach einem Religionsgespräch zu Ilanz erklärte der Bundestag den Bischof aller
weltlichen Gewalt verlustig und gewährte Glaubensfreiheit.
Weniger die religiöse Entzweiung als die Bündnisse mit dem Ausland machten Graubünden
im 16. und 17. Jahrh.
zum Schauplatz periodisch wiederkehrender grauenvoller Parteikämpfe. Das ganze Land spaltete sich in eine spanisch-österreichische
und in eine französische Faktion; so oft eine Partei siegte, proskribierte sie die Gegner durch ein »Strafgericht«. 1620 erhoben
sich die von Mailand
[* 40] aus fanatisierten Veltliner im Einverständnis mit den geächteten Häuptern der österreichischen
Partei und ermordeten die im Land anwesenden Protestanten (Veltliner Mord 20. Juli); ein entsetzlicher Bürgerkrieg entbrannte, zugleich
rückten die Österreicher in ein, die Eidgenossen, in sich gespalten, vermochten keine Hilfe zu leisten, und das Land wäre
verloren gewesen, wenn nicht eine Anzahl Patrioten, an ihrer Spitze Georg Jenatsch (s. d.), zunächst mit
Hilfe Frankreichs die Österreicher verjagt (1635) und hierauf in geschickter Weise sich der französischen Vormundschaft durch
ein Bündnis mit Spanien-Österreich entledigt hätten (1637). Die französische Revolution fand den rätischen Freistaat, wie
die Eidgenossenschaft, ohne einigende Organisation und von Parteien zerrissen. Die Unterthanen empörten
sich, und als Graubünden
zögerte, nach Bonapartes Vorschlag die drei Landschaften als gleichberechtigten vierten Bund anzunehmen, vereinigte
sie derselbe mit der Cisalpinischen Republik wobei das dort befindliche Vermögen
¶