Graf
(lat.
Comes, franz.
Comte, engl.
Earl, ital.
Conte), ein
Wort von unbestimmter Abstammung, zuerst in der latinisierten
Form (Garafio, Grafio
) in der aus dem 5. Jahrh. herrührenden
»Lex Salica« als
Titel der höchsten vom König ernannten
und je über einen
Pagus
(Gau) gesetzten Beamten vorkommend, bezeichnet ursprünglich eine amtliche
Stellung. Nach
Jakob
Grimm
ist das
Wort gleichbedeutend mit gisello (socius),
Geselle, Hausgenosse (des
Königs). Nach dem
Salischen
Gesetz hatte der Graf
als
Vorsteher des
Gaues die Befugnis, vor
Gericht zu
laden und das
Urteil zu vollstrecken sowie Friedensgelder
zu erheben.
Die Amtsgewalt des Grafen
, der den spätrömischen
Titel
Comes erhielt, wuchs mit der königlichen Macht, namentlich bei den
Franken; er führt jetzt nicht nur den Vorsitz bei
Gericht, sondern schreitet auch von
Amts wegen bei
Verbrechen ein, handhabt
die
Polizei, bietet den
Heerbann auf und übernimmt dessen
Führung, erhebt die
Steuern,
Zölle und Strafgelder,
verwaltet auch häufig die königlichen Besitzungen, nimmt den Huldigungseid ab etc. Außer
Geschenken, die er von Gaueingesessenen und dem König erhält, ist ihm auf die Zeit seiner Amtsdauer ein gewisser Grundbesitz
zugewiesen.
Als Stellvertreter des Grafen
werden genannt der vom König ernannte Vicarius, welcher besonders bei
Gericht und bei der Steuererhebung für den Grafen
fungierte, und ein
Abgeordneter des Grafen
(missus comitis). Neben diesen
kommen unter den
Merowingern auch schon, wenn auch ohne gräflichen
Titel, außerordentliche Sendboten des
Königs selbst (missi
regis) vor.
Karl d. Gr. teilte nach Beseitigung der
Stammes- oder Nationalherzöge sein ganzes
Reich in
Graf
ensprengel
(Gaue) ein.
Statt des Vicarius tritt seit dem 9. Jahrh., namentlich in den südlichen Provinzen, der Vizecomes (woraus das französische Vicomte und das italienische Visconti entstand) auf. Der Pfalzgraf (comes palatii, comes palatinus), der anfangs nur als Rechtskundiger bei Sitzungen des Gerichts die Entscheidung der Beisitzer zusammenzufassen und damit das Urteil zum Abschluß zu bringen hatte, besorgt jetzt in Gemeinschaft mit dem Kanzler die weltlichen Geschäfte am Hof [* 2] im allgemeinen, hat aber dabei noch insbesondere die Leitung des höchsten königlichen Gerichts.
Was die Einkünfte der Grafen
in der karolingischen Zeit anlangt, so erhielten diese eine bedeutende
Vermehrung, indem die Grafen
Abgaben und
Dienste
[* 3] zum
Besten ihrer
Güter in Anspruch nahmen und außer den
Gütern, welche ihnen
durch ihr
Amt zufielen, oft noch Benefizien besaßen, d. h.
Güter, welche ihnen zur
Nutznießung auf Lebenszeit des
Königs
übergeben waren. Da nun dergleichen Benefizien, wenn sie längere Zeit im
Besitz von
Inhabern einer und
derselben
Grafschaft gewesen waren, oft mit den
Gütern der letztern für immer verbunden wurden, so erklärt es sich, wie
jene umfänglichen
Komplexe von
Gütern entstehen konnten, welche die Grundlagen vieler späterer
Grafschaften bildeten.
Unter
Grafschaften verstand man nach
Auflösung der alten Gauverfassung und Gaueinteilung nämlich nicht
mehr ein
Amt, sondern einen
Bezirk, dessen
Besitzer gewisse
Rechte, namentlich die
Gerichtsbarkeit, zustanden. Wie aber die
Lehen
in
Deutschland
[* 4] nach und nach überhaupt erblich wurden, so auch die
Grafschaften, und so kommt es, daß die Grafen
seit dem 11. Jahrh.
ihren
Namen nicht mehr von dem
Gau, über den sie ursprünglich gesetzt worden waren, sondern von dem Hauptbestandteil
ihres Güterkomplexes führen; auch führten sie oft nicht einmal den
Titel »Grafen«
, sondern begnügten sich mit dem damals
gewöhnlichen
Adelsprädikat
»Nobiles« oder »Liberi Domini«. Das ihnen als
Afterlehen von ihren Lehnsherren übertragene Richteramt
verwalten diese neuern Grafen
nicht mehr persönlich, sondern durch besonders bestellte
Richter. Die
Inhaber
des alten Gaugrafenamtes nennen sich im
Gegensatz zu diesen Lehnsgrafen
Landgrafen (comites provinciales) und zählen, nachdem
sie sich von der
Gewalt der
Herzöge frei gemacht, zum Fürstenstand, also zur ersten
Klasse der
Reichsstände, während die
ein
¶
mehr
Afterlehen besitzenden Grafen mit den Prälaten die zweite Klasse derselben ausmachten. Markgrafen (s. d.), ursprünglich »Grenzgrafen«, welchen die Beaufsichtigung tributpflichtiger Grenzlandschaften anvertraut war, und Pfalzgrafen (s. d.), ursprünglich die Stellvertreter des Königs bei Ausübung der höchsten Gerichtsbarkeit, erhoben sich bald zu völlig gleichem Rang mit den Herzögen. Seit dem 13. Jahrh. blieben diese Standesverhältnisse im wesentlichen unverändert.
Die von den deutschen Kaisern kraft der wenigen ihnen gebliebenen Reservatrechte verliehenen Grafen- und Fürstentitel erhoben zwar die damit Ausgezeichneten in den Herrenstand, befreiten aber weder Personen noch Güter von der Landeshoheit, wie sie auch keine Reichsstandschaft begründeten. Die wirklich reichsständischen Grafen (Reichsgrafen) aber, wozu nur diejenigen gerechnet werden sollten, welche bis 1582 die Reichsstandschaft ausgeübt hatten, stimmten auf dem Reichstag nicht einzeln, sondern nach Kurien, deren anfangs zwei waren, die wetterauische und die schwäbische, zu denen 1640 noch eine fränkische und 1653 eine westfälische kam.
Grafschaften, welchen fürstliche Rechte ausdrücklich verliehen wurden, bezeichnete man als gefürstete Grafschaften. Mit den infolge des Umschwunges der politischen Verhältnisse zu Anfang des 19. Jahrh. eintretenden Mediatisierungen hörte die Souveränität der Grafen und Herren völlig auf. Nur der Landgraf von Hessen-Homburg bewahrte sich die Souveränität, bis mit seinem im März 1866 erfolgten Tod seine Dynastie ausstarb. Die früher reichsunmittelbaren Grafengeschlechter, wie die Grafen von Castell, Erbach, Fugger, Giech, Leiningen, Neipperg, Ortenburg, Pappenheim, Quadt-Wykradt, Rechberg, Rechteren, Solms, Stolberg [* 6] u. a., gehören jetzt als Standesherren zum deutschen hohen Adel (s. d.). Außer den Burggrafen (s. d.), die zu keiner der angeführten Kategorien gehörten, sind noch die westfälischen Freigrafen (Gografen) des Femgerichts zu erwähnen (s. Femgerichte).
Jene übten, wie die alten Gaugrafen (s. Gau), den ihnen vom Kaiser verliehenen Blutbann sowie die Gerichtsbarkeit über Freie aus; diese aber richteten ohne kaiserliche Beleihung und zogen erst allmählich alle Streitsachen an sich, die nicht Freie betrafen. Besondere, von den landesherrlichen Gerichten eximierte Verhältnisse bezeichneten früher die Titel Holz-, Salz-, Deich-, Mühl- und Wassergrafen und der Hansgraf zu Regensburg, [* 7] der Vorsitzende des Handelsgerichts (von Hansa abgeleitet).
Vorstände der betreffenden Korporationen führen hier und da noch jetzt solche Titel. In die merowingische Zeit zurück reicht die Würde des Stallgrafen (comes stabuli, daher das franz. connétable und das engl. constable), dessen anderweite Benennung Marschall später mehr in Gebrauch kam. Es war damit die Aufsicht über die königlichen Ställe, später auch Gesandtschaft und Heerführerschaft im Krieg verbunden. Den eigentlichen Pfalzgrafen ganz fern stehen die seit dem 14. Jahrh. vorkommenden Hofpfalzgrafen (comites sacri palatii lateranensis), eine völlig neue Art von Beamten; deren Titel der römischen Hofordnung entlehnt war, und denen die Ausübung einzelner kaiserlicher Rechte anvertraut war (s. Pfalzgraf). - Graf oder Comes der sächsischen Nation heißt noch heute in Siebenbürgen der Chef der politischen Behörden des Sachsenlandes.