Gracchus
,
Tiberius und Gajus Sempronius, zwei Brüder, deren auf die Reform des röm. Staates gerichtete Bestrebungen in der röm. Verfassungsgeschichte von hoher Wichtigkeit sind. Mit den durch ihre Gesetzvorschläge (Leges Semproniae) veranlaßten sog. Gracchischen Unruhen beginnt der Kampf zwischen den Parteien der Optimaten und der Populären, durch welchen die Auflösung der Republik und nach einem Jahrhundert ihr Übergang in die Monarchie herbeigeführt wurde.
Die Gracchen gehörten dem alten und vornehmen, wenn auch plebejischen Geschlechte der Sempronier (s. d.) an. Ihr Vater, Tiberius Sempronius ein im Kriegs- und Staatsleben tüchtiger, streng konservativer Mann, der das Konsulat zweimal und einmal die Censur bekleidet hatte, der wegen seiner Siege über die Iberer und Sardinier zweimal triumphieren durfte, war, als sie noch jung waren, gestorben; ihre Mutter Cornelia (s. d.), die Tochter des Publius Cornelius Scipio Africanus des Ältern, eine hochbedeutende Frau, bildete durch sorgfältige Erziehung die Gemüts- und Geistesanlagen ihrer Söhne aus.
Tiberius Sempronius Gracchus
, der ältere von diesen (geb. 163 v.Chr.), that seine
ersten Kriegsdienste als 16jähriger
Jüngling unter dem Gatten seiner Schwester, Publius
Cornelius Scipio dem
Jüngern, im
Kriege gegen
Karthago
[* 3] (147) und begleitete 137 als Quästor den
Lucius Hostilius Mancinus bei dessen unglücklicher
Unternehmung gegen
Numantia.
Bald nach seiner Rückkehr faßte er den von seinem Schwiegervater
Appius Claudius und einigen
andern edlen Männern der
Nobilität gebilligten
Plan, dem Mißverhältnis zwischen
Reichen und
Armen und damit einem Hauptgebrechen
des
Staates dadurch entgegenzuwirken, daß die Zahl freier Grundbesitzer wieder vermehrt und so zugleich
der Ackerbau in
Italien
[* 4] wieder emporgebracht würde.
Deshalb trat er 133 als Volkstribun mit seinem Gesetzvorschlag, der im wesentlichen eine Erneuerung des alten, längst vergessenen Gesetzes des Lucius Licinius Stolo von 376 (s. Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 219b) war, hervor: Niemand solle mehr als 500 Morgen vom röm. Staatsland (ager publicus) besitzen, doch sollten für jeden Haussohn noch 250, im ganzen aber einer Familie nicht über 1000 Morgen gestattet sein;
was über dieses Maß hinaus im Besitz einzelner sei, solle ihnen, gegen Entschädigung für die auf den Anbau verwendeten Ausgaben, entzogen, in Parzellen von je 30 Morgen geteilt und den ärmern Bürgern als unveräußerliches Eigentum (also eine Art Erbpacht) gegen eine mäßige Abgabe zugewiesen werden.
Obwohl dieses
Gesetz kein Privateigentum verletzte, sondern nur auf den
Ager publicus sich bezog, d.h. das Land, welches vom
Staate dem
Besitz
einzelner, aber unter stetem
Vorbehalt des Eigentums, überlassen worden war, so erregte es doch den heftigsten
Widerstand der Optimaten, welche große
Strecken Staatslandes, die sie durch ihre Sklaven bebauen ließen,
an sich gebracht
hatten. Nur durch eine Verletzung der gesetzlichen Formen, indem er seinen Amtsgenossen
Marcus Octavius, der, von den Optimaten
bestochen, sein Veto gegen den Gesetzvorschlag einlegte, durch das
Volk seines
Amtes entsetzen ließ, vermochte
Tiberius Gracchus
den
Sieg zu erringen.
Das Gesetz ging jetzt sogar in
einer für die
Patricier härtern Form durch; mit seiner Ausführung wurden
Tiberius und Gajus
Gracchus
und
Appius Claudius beauftragt. Da sich aber
Tiberius nun, dem gesetzlichen Herkommen zuwider, auch
für das nächste Jahr ums
Tribunat bewarb und neue populäre Gesetzvorschläge vorbereitete, brach der Haß der Optimaten
in offene Gewaltthat aus. Nachdem der Konsul Publius Mucius Scävola sich geweigert hatte, den Gracchus
, den man des
Strebens nach der königl. Gewalt beschuldigte, sofort töten zu lassen, folgten am
Tage der Tribunenwahl
die versammelten Senatoren dem Aufruf des
Pontifex Maximus Publius Scipio Nasica und stürmten, mit Knütteln bewaffnet, auf
die Gegenpartei los. Im Handgemenge wurde
Tiberius Gracchus
am Abhange des
Kapitols mit 300 seiner
Anhänger erschlagen; sein
¶
mehr
Leichnam ward in den Tiber geworfen. Dennoch ging die Ackerverteilung fort, freilich nur langsam; an des Tiberius Stelle wurde Publius Crassus Mucianus, nach dessen und des Appius Claudius Tode Marcus Fulvius Flaccus und Gajus Papirius Carbo gewählt. Letzterer schlug als Tribun 131 das Gesetz über Wiederwahl der Tribunen vor, das später, nachdem der jüngere Scipio, eine der stärksten Stützen der Optimatenpartei, 129 ermordet worden war, auch wirklich durchging. Des Flaccus Vorschlag, den Bundesgenossen das Bürgerrecht zu gewähren, wurde jedoch 125 noch beseitigt.
Im J. 123 aber trat Gajus Sempronius Gracchus
, der jüngere Bruder (geb. 153), der 126-124 in Sardinien
[* 6] Quästor
gewesen war und nun Tribun wurde, auf, entschlossen, die Wege seines Bruders, den er an Talenten, besonders an feuriger Beredsamkeit
wie auch an leidenschaftlicher Heftigkeit übertraf, zu verfolgen und zugleich seinen Tod zu rächen. Weniger durch die Erneuerung
und Herstellung des Ackergesetzes (Lex agraria) in seinem vollen Umfange, als durch ein neues Gesetz, das
billigen Getreideverkauf durch den Staat an das Volk (Lex frumentaria) anordnete, gewann er das Volk und durch dasselbe dann
das Tribunat auch für das nächste Jahr (122). Während seines Tribunats brachte er in der Volksversammlung, auf welche er
einen fast monarchischen Einfluß ausübte, eine Reihe von Gesetzen durch, durch welche die Härte des
Militärdienstes gemildert, die Todesstrafe (indem ihre Verhängung dem Volke übertragen wurde) möglichst beschränkt, der
Willkür des Senats bei der Verteilung der Provinzen gesteuert, endlich die Geschworenengerichte (quaestiones perpetuae), die
bisher in den Händen der Senatoren gewesen waren, den Mitgliedern des Ritterstandes übertragen wurden.
Dagegen scheiterte auch jetzt wieder der von Gajus in Gemeinschaft mit seinem Kollegen Marcus Fulvius Flaccus gemachte Vorschlag,
die bisher Meistberechtigten unter den italischen Bundesgenossen zu Bürgern zu machen und den andern italischen Bundesgenossen
das bessere Recht jener zu gewähren, und entfremdete dem Gracchus
viele seiner Anhänger unter den Altbürgern.
Seine Bemühungen, diese besonders auch durch Anlegung von überseeischen Kolonien zu gewinnen, reichten nicht aus, als sein
Amtsgenosse Marcus Livius Drusus, welcher im Dienste
[* 7] der Optimaten und unter Zustimmung des Senats handelte, dem Volke weit
größere Vorteile als in Aussicht stellte.
Auch seine Entfernung von Rom, [* 8] um die neu angelegte Kolonie Junonia-Karthago einzurichten, wußten seine Gegner dazu zu benutzen, seinen Anhang zu schwächen. So wurde er für das J. 121 nicht wieder zum Tribun, dagegen sein entschiedener Feind Lucius Opimius zum Konsul erwählt. Dieser beantragte unter sakralen Vorwänden die Aufgabe der Kolonisation Karthagos und rief am Tage der Abstimmung über diesen Antrag, nachdem bei dem von ihm im kapitolinischen Tempel [* 9] dargebrachten Opfer ein Lictor, der die Gracchaner als «schlechte Bürger» hinwegwies, von einem derselben getötet worden war, die Optimatenpartei zu den Waffen. [* 10]
Als dann die unter der Führung des Flaccus im Tempel der Diana auf dem Aventinischen Berge verschanzte Volkspartei
(Gracchus
war nur widerwillig und unbewaffnet mitgezogen) die geforderte unbedingte Ergebung verweigerte, ließ Opimius das Zeichen
zum Angriff auf den Aventin geben und zugleich jedem, der vor Beginn
des Kampfes das Lager
[* 11] der Gegner verlassen würde, Straflosigkeit
zusichern, eine Maßregel, wodurch die Reihen der Volkspartei sich rasch lichteten. Von den Zurückbleibenden
wurden gegen 250 Mann, darunter Flaccus, der sich in einem Hause versteckt hatte, getötet; dem Gracchus
gelang es durch die Aufopferung
einiger seiner Freunde, auf das rechte Ufer des Tiber zu entkommen, wo man tags darauf im Haine der Furina seinen Leichnam,
daneben den eines treuen Sklaven, der wahrscheinlich auf Befehl seines Herrn erst diesen, dann sich selbst
getötet hatte, auffand.
Die Leichen der Getöteten wurden in den Tiber geworfen; von den Anhängern des Gracchus
, dessen Andenken geächtet ward, aber nur
um so lebendiger im Herzen der Volkspartei fortlebte, sollen gegen 3000 mit Todesstrafen belegt worden sein.
Aus ihrem konfiszierten Vermögen wurde ein neuer glänzender Tempel der Concordia (Eintracht) errichtet. Erst später wurden
den beiden Gracchen von dem Volke Denkmäler errichtet und Kapellen an den Stellen, da sie ihr Blut vergossen, erbaut.
Vgl. Lau, Die Gracchen und ihre Zeit (Hamb. 1854);
Mommsen, Röm. Geschichte (Bd. 2, 8. Aufl., Berl. 1889);
R. Schmidt, Kritik der Quellen zur Geschichte der Gracchischen Unruhen (ebd. 1874);
Neumann, Geschichte Roms während des Verfalls der Republik (2 Bde., Bresl. 1881-84);
Klimke, Die ältesten Quellen zur Geschichte der Gracchen (Beuthen [* 12] 1886);
ders., Beiträge zur Geschichte der Gracchen (Sagan [* 13] 1892).
Die Schicksale der Gracchen wurden in neuerer Zeit vielfach dramatisch bearbeitet.