Gotische
Sprache,
[* 2] die
Sprache derjenigen
Völker, welche im 2. Jahrh.
n. Chr. an der
Weichsel bis gegen die
Donau wohnten
und der großen
Verbindung der
Goten angehörten oder diesen verwandt waren. Die gotische Sprache
bildete einen Hauptzweig der
Germanischen Sprachen
(s. d.), welcher am nächsten mit den skandinavischen
Sprachen verwandt ist, eine
Thatsache, welche ihre
ausreichende
Erklärung darin findet, daß die ursprünglichen Sitze der
Goten (in der jetzigen
Provinz
Preußen)
[* 3] den skandinavischen
Völkern sehr nahelagen.
Das schwedische
Gotland darf übrigens nicht mit den
Goten in Zusammenhang gebracht werden, beide Völkernamen sind in ihrer
Form ursprünglich verschieden; in gotischer
Sprache würde die skandinavische
Völkerschaft Gautôs heißen,
während Gutans der
Name der
Goten war. Die
Spaltung des großen Gotenstammes in mehrere
Völkerschaften
(Ost- und Westgoten,
Gepiden) können wir sprachlich nicht verfolgen, da unsre
Überlieferungen allein auf die Westgoten zurückgehen; die dialektischen
Verschiedenheiten müssen aber mindestens sehr geringfügig gewesen sein, da die westgotische
Bibelübersetzung
ohne weiteres auch bei den Ostgoten in
Italien
[* 4] in
Gebrauch genommen wurde.
Die nicht sehr umfangreichen Überreste der gotischen
Sprache, die wir noch besitzen, sind für die Sprachforschung ein höchst
wertvoller
Schatz, denn von keiner andern germanischen
Sprache sind gleich alte Überreste vorhanden. So liegt z. B.
zwischen den ältesten
Denkmälern unsrer hochdeutschen
Sprache und den gotischen
Denkmälern ein Zwischenraum von nahezu 400
Jahren.
Die wichtigsten Überreste sind die
Fragmente der gotischen
Bibelübersetzung des
Ulfilas (gest. 381
n. Chr.). Sie bestehen in
bedeutenden
Fragmenten der vier Evangelien, welche der
»Codex argenteus« (jetzt in
Upsala)
[* 5] enthält, in Bruchstücken aus
den Paulinischen
Briefen an die
Römer,
[* 6] die
Korinther,
Galater, Epheser,
Philipper,
Kolosser,
Thessalonicher, an Timotheus,
Titus
und
Philemon.
Aus dem Alten
Testament sind nur spärliche Bruchstücke der
Bücher
Esra und
Nehemia übriggeblieben. Außerdem sind noch Bruchstücke
einer
Auslegung des
Evangeliums
Johannis, einige
Urkunden aus den
Zeiten
Theoderichs d. Gr., das Bruchstück
eines gotischen
Kalenders und einige unzusammenhängende
Zeilen und
Namen vorhanden. Zwar berichten die griechischen Schriftsteller,
daß
Ulfilas das gotische
Alphabet erfunden habe; doch wissen wir jetzt, daß diese Thätigkeit des
Ulfilas nur darin bestand,
daß er das griechische
Alphabet der gotischen
Sprache anpaßte, indem er fehlende Zeichen aus dem Runenalphabet,
zum Teil
¶
mehr
auch aus der lateinischen Schrift, herübernahm. Jedenfalls beweist die Größe des Werkes, da Ulfilas die Bibel
[* 8] fast ganz übersetzte,
sodann der Umstand, daß man selbst Erklärungen der biblischen Schriften in gotischer
Sprache besaß, und besonders auch die
Pracht, mit welcher der »Silberne Kodex« geschrieben ist, daß die Goten schon eine Litteratur hatten und
die Kunst zu lesen sich nicht auf wenige Individuen beschränkte. Doch waltete ein unglückliches Los über dieser so schönen
Sprache. In Italien verschwand sie mit dem Fall der Goten bis auf die letzte Spur, und in Spanien
[* 9] scheint sie bei den Westgoten
durch die überwiegende einheimische Bevölkerung
[* 10] schon lange vor der Eroberung des Landes durch die Araber
gänzlich unterdrückt worden zu sein, so daß sie sich kaum noch in einigen Namen erhielt.
Dagegen haben sich in der Krim [* 11] Überreste einer schon früh dahin versprengten Gotenabteilung bis in die neuere Zeit erhalten. Diese sogen. Gothi Tetraxitae oder Krimgoten hatten noch bis ins 16. Jahrh. ihre Sprache bewahrt, von welcher uns durch die Aufzeichnungen des Augerius Gisler von Busbeck in Flandern (1522-1592) beachtenswerte Reste überliefert sind. Obwohl schon im 18. Jahrh. alle Spuren dieses Völkchens verweht waren, so ist doch an der Existenz desselben sowie an der Echtheit der überlieferten Sprachreste nicht zu zweifeln. Ausführliche Nachweisungen darüber gab Maßmann in Haupts »Zeitschrift für deutsches Altertum« (Bd. 1).
Vgl. Tomaschek, Die Goten in Taurien (Wien [* 12] 1881).
Die gotische Sprache
zeigt eine große Durchsichtigkeit der Laut- und Formenlehre. An Formenreichtum kommt ihr keine andre germanische
Sprache gleich. Sie hat z. B. im Verbum und Pronomen noch den Dualis; in der Verbalflexion ist das Mediopassiv
in genauer Übereinstimmung mit dem Griechischen erhalten, freilich nur im Präsens. Der Reichtum an Bildungssilben, welcher
das Gotische vor dem Althochdeutschen und noch mehr natürlich vor dem Neuhochdeutschen auszeichnet, tritt uns klar vor Augen,
wenn wir z. B. das gotische
habaidêdeima vergleichen mit dem identischen
althochdeutschen habêtim, neuhochdeutsch " (wir) hätten«.
Ist also in lautlicher und formeller Hinsicht das Gotische die Grundlage der germanischen Grammatik, so kann dies betreffs
der Syntax nicht in ganz gleichem Maß gelten. Da unsre gotischen
Sprachdenkmäler Übersetzungen aus dem Griechischen sind,
so liegt eine Einwirkung der griechischen Syntax nahe, und es läßt sich dieselbe auch in der That in
manchen Fällen nachweisen. Es gilt also bei der Betrachtung der gotischen
Syntax, immer das germanische Element von den griechischen
Einwirkungen zu sondern, ehe man darauf das Gebäude der historischen Syntax der germanischen Sprachen gründen kann.
Die Kenntnis der gotischen
Sprache in neuerer Zeit datiert von dem Bekanntwerden des »Codex argenteus« in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrh. Der erste, welcher der gotischen
Sprache ein gründlicheres Studium widmete, war der Niederländer Franz Junius.
Außer seiner Ausgabe des »Codex argenteus« (1665) lieferte er auch schon grammatische und lexikalische
Arbeiten über das Gotische. Auch die gotische
Grammatik wurde durch die eingehende Behandlung, welche ihr Grimm in seiner »Deutschen
Grammatik« zu teil werden ließ, auf einen ganz neuen Standpunkt gestellt. Von spätern Werken sind zu nennen:
die ausführliche gotische Grammatik von Gabelentz und Lobe (Bd. 2, Abtlg. 2 ihrer Ausgabe des Ulfilas, Leipz.
1846) sowie die mehr sprachvergleichende Behandlung
in dem Buch von Leo Meyer: »Die gotische Sprache« (Berl. 1869). Das ausführlichste
Wörterbuch der gotischen Sprache lieferte Ernst Schulze (»Gotisches Glossar«, Magdeb. 1848) und in sprachvergleichender Hinsicht
L. Diefenbach (»Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache«, Frankf. a. M. 1851). Zur Einführung in
das Studium des Gotischen ist zu empfehlen die Ausgabe des Ulfilas von Stamm-Heyne (8. Aufl., Paderb. 1885),
welche auch eine kurze Grammatik und ein Wörterbuch der gotischen Sprache enthält, und die »Gotische Grammatik« von W. Braune (2. Aufl., Halle [* 13] 1882).