Gnade
(lat. gratia; grch. charis), im allgemeinen jedes
unverdiente Wohlwollen des
Höhern gegen den Niedern; insbesondere das
Recht des
Souveräns, Vergünstigungen zu erteilen, auf
die ein Rechtsanspruch nicht besteht. (S.
Begnadigung.) In der religiösen
Sprache
[* 2] ist Gnade
die göttliche Güte, sofern sie
an dem
Menschen ohne dessen Verdienst sich wirksam erweist, sodaß für die fromme
Anschauung alles Gute auf göttlicher Mitteilung
beruht und jede Förderung des leiblichen wie des geistigen Lebens unter den
Gesichtspunkt der freien göttlichen Gnade
tritt.
Im engern
Sinne heißt Gnade
diejenige göttliche Ursächlichkeit, die den
Menschen in das rechte religiöse
Verhältnis zu Gott einsetzt, d. h. ihn durch
Befreiung von
Sünde und Schuld
mit Gott versöhnt, und zur religiös-sittlichen
Lebensvollendung führt. Sofern nämlich der zur Erkenntnis der sittlichen Ordnungen
Gottes oder des göttlichen Gesetzes
herangereifte
Mensch seine Sündhaftigkeit einräumen muß, sich selbst aber durchaus unfähig findet, derselben zu entgehen,
so führt er alle Versöhnung des
Herzens
mit Gott und alle dieser Versöhnung entquellenden sittlichen Kräfte
¶
mehr
allein auf die unverdiente göttliche Gnade
zurück. Dieser Gegensatz von Sünde und Gnade
beherrscht daher für die christl. Frömmigkeit
das Leben des Einzelnen wie der Menschheit und bedingt das Hervortreten der Gesetzesreligion, welche die Sünde vergeblich
bekämpft, und der Erlösungsreligion, welche allein sie wirklich aufhebt. Der auf allen seinen Stufen
in göttlicher Ursächlichkeit begründete Fortschritt von der Knechtschaft des endlichen Subjekts unter dem Gesetz und der
Sünde zu freier, gottversöhnter und gotterfüllter Geistigkeit (Gotteskindschaft), an sich ein rein geistig-innerlicher Vorgang,
erscheint nach altkirchlicher Lehre
[* 4] als Resultat von äußern, übernatürlichen Einwirkungen des göttlichen Geistes (operationes
gratiae), die an äußere göttliche Veranstaltungen zum Heile der Menschen sich anknüpfen.
Schon der Apostel Paulus lehrt, daß bei der gleichen Sündhaftigkeit von Juden und Heiden und bei der allgemeinen Unmöglichkeit
für die Menschen, durch Werke des Gesetzes gerecht zu werden, die Rechtfertigung und sittliche Erneuerung des Sünders allein
durch die Gnade
, näher auf dem mittels Christi Tod und Auferstehung durch freie göttliche Gnade
dem Glauben
angebotenen Heilswege erfolgen könne. (S. Rechtfertigung.) Die ältern Kirchenlehrer knüpften die Wirksamkeit der göttlichen
Gnade
noch bestimmter an die Wunderkraft der Taufe, der von seiten des Menschen die gläubige Aufnahme der kirchlichen Lehrüberlieferung
entsprechen müsse, behaupteten dagegen eine Mitwirkung der auch durch den Sündenfall nicht völlig verloren
gegangenen natürlichen Kräfte des Menschen zum Werke der Bekehrung. (S. Synergismus.) Erst Augustinus stellte im Streite mit
Pelagius (s. Pelagianer) die Lehre auf, daß der durch Adams Fall völlig verderbte und aller Freiheit zum Guten verlustig gegangene
Mensch allein durch die unwiderstehlich wirkende Gnade
(gratia irresistibilis) bekehrt werde,
sodaß der göttliche Geist ohne alle Mitwirkung von seiten des Menschen das Werk der Wiedergeburt in der Seele anfange, fortführe
und vollende.
Auch der Glaube (s.d.) erschien auf diesem Standpunkte ausschließlich als ein Werk der göttlichen Gnade
Da aber nach der Erfahrung
nur der kleinere Teil des Menschengeschlechts bekehrt wurde, so behauptete Augustinus weiter, daß Gott
nach seinem freien Willen die Menschen, die er zur Seligkeit vorherbestimmt habe, auswähle und sie durch die Gnade
bekehre. Dieses
Auswählen nannte man die Gnade
nwahl. (S. Prädestination.) Trotz des großen Ansehens des Augustinus blieb doch in der röm.
Kirche der Synergismus die herrschende Vorstellung. Doch war man darüber, wie viel die Gnade
thun müsse und
der Mensch mitwirken könne, nicht einerlei Meinung. Besonders über die Frage, ob der Mensch die Kraft
[* 5] besitze, sich zum Empfang
der Gnade
vorzubereiten, entstand zwischen den Dominikanern als Anhängern des Thomas von Aquino (s.d.), der
es leugnete, und den Franziskanern als Anhängern des Duns Scotus (s.d.) ein langer und heftiger Streit.
Die Reformatoren nahmen des Augustinus Vorstellung von Erbsünde und Gnade
wieder auf. In seiner Schrift «De servo arbitrio» verteidigte
Luther gegen Erasmus die Lehre von der absoluten Unfreiheit des Menschen und von der alles allein wirkenden
in ihrer schroffsten Gestalt. Dieselbe Lehre liegt den Katechismen Luthers und der Augsburgischen Konfession von 1530 zu Grunde.
Später aber milderte Melanchthon dieselbe und behauptete wenigstens
eine Fähigkeit des natürlichen Menschen, die Gnade
anzunehmen
oder abzulehnen.
Die Konkordienformel (s.d.) setzte jedoch fest, daß der natürliche Mensch, solange ihn die Gnade
nicht
bekehrt habe, derselben nur widerstreben könne, in der Bekehrung selbst aber sich schlechthin passiv verhalte. Nur eine sog.
«bürgerliche Gerechtigkeit» (justitia civilis) gestand sie ihm zu, d. h.
die Fähigkeit, grobe, durch das Gesetz verbotene Sünden zu meiden, jedoch nicht aus Liebe zu Gott und MM
Guten. Diese Lehre blieb innerhalb der luth. Kirche die herrschende.
Der Widerspruch, daß der Mensch aus eigener Kraft die Gnade
nicht annehmen, wohl aber durch eigene Schuld ablehnen könne, sodaß
dieselbe also gleichwohl nicht unwiderstehlich wirke, wurde von der luth. Dogmatik nur künstlich durch die Behauptung verdeckt,
daß wenigstens dem natürlichen Menschen zunächst freistehe, die Predigt des göttlichen Wortes äußerlich
zu hören und die kirchlichen Sakramente zu gebrauchen, durch welche Mittel (Gnadenmittel) der Heilige Geist dann insoweit unfehlbar
wirke, daß der Mensch die Freiheit zurückerhalte, die Gnade anzunehmen oder abzulehnen.
Namentlich wurde die Wirksamkeit der Taufe als eine magische Wiederherstellung der Freiheit zum Guten beschrieben. Die reform. Kirche dagegen hielt an dem konsequenten Augustinismus, namentlich auch an dem Satze von der Unwiderstehlichkeit der Gnadenwirksamkeit und an der strengen Lehre von der Gnadenwahl fest. (S.Prädestination.) In der röm.kath. Kirche wurde durch das Tridentinische Konzil (s.d.) festgesetzt, der Mensch müsse durch die Gnade zur Bekehrung geneigt gemacht werden, könne aber dann dazu mitwirken. Da indes die Dominikaner ihre frühere Lehre festhielten, die Jesuiten aber synergistisch lehrten, so entstand darüber zwischen beiden ein langer Streit, zu dessen Erledigung der Papst Clemens VIII. 1598 eine eigene Kommission, die Congregatio de auxiliis gratiac, niedersetzte, die aber keine Entscheidung aussprach. Der Streit entbrannte aufs neue in Frankreich und den Niederlanden durch das von dem Bischof Jansen (s.d.) von Ypern geschriebene und nach seinem Tode bekannt gewordene Buch «Augustinus» (1638), worin die strenge, aber von den Jesuiten bekämpfte Theorie des Augustinus vorgetragen war.
Die neuere Entwicklung der prot. Theologie hat auch die Lehren [* 6] von der Gnade und Gnadenwahl vielfach umgestaltet. Während die Supranaturalisten synergistisch lehrten, die Nationalisten aber die Wirksamkeit der Gnade zu einer leeren Formel herabdrückten, lehrte Schleiermacher, daß die aus dem Gesamtleben der Sünde heraustretenden Christen durch die Gnade mittels des Glaubens an Christi Person in ein neues Gesamtleben eingepflanzt würden, worin das göttliche Leben das herrschende Princip, die Sünde aber izumer mehr im Verschwinden begriffen ist.
Die Gnadenwahl beschrieb Schleiermacher als eine zwar unbedingte, aber auf alle ohne Ausnahme sich erstreckende. Die neuere Vermittelungstheologie hat diese Schleiermacherschen Gedanken mit den ältern kirchlichen Vorstellungen von der Erbsünde, der übernatürlichen Geisteswirksamkeit und der wunderbaren Kraft des göttlichen Wortes und der Sakramente notdürftig auszugleichen gesucht, hinsichtlich der Prädestination aber meist synergistisch gelehrt oder doch die Erwählung vom vorhergesehenen Gebrauch der Gnadenmittel abhängig gemacht. Die Folgewidrigkeiten dieser Theorie ¶