Gluck
,
Christoph
Wilibald,
Ritter von, Opernkomponist, geb. auf der fürstlich Lobkowitzschen Herrschaft Weidenwang
bei
Neumarkt in der bayrischen
Oberpfalz, wo sein
Vater
Alexander Gluck
Förster war, kam frühzeitig nach
Böhmen,
[* 2] lernte in
Prag
[* 3]
Musik und erwarb sich besonders auf dem
Violoncello Fertigkeit. Durch Musikunterricht wie mit Konzertgeben seinen
Unterhalt verdienend, blieb er in
Böhmen bis 1736, wandte sich dann nach
Wien
[* 4] und kam durch
Fürsorge des lombardischen
Fürsten
Melzi, der Gluck
im Lobkowitzschen
Haus in
Wien hatte
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singen hören, nach Mailand, [* 6] wo er den Unterricht Sammartinis genoß. Nach vierjährigen eifrigen Studien brachte er hier seine erste Oper: »Artaserse« (1741), mit Beifall zur Aufführung, der er bis 1745 noch sechs andre, in verschiedenen Städten Italiens [* 7] gleichfalls beifällig aufgenommene Opern folgen ließ. Im letztgenannten Jahr begab er sich auf Einladung des Lords Middlesex nach London, [* 8] wo er die Oper »La caduta de' giganti« und andre ältere Werke zur Aufführung brachte, ohne jedoch einen nennenswerten Erfolg beim englischen Publikum zu erringen.
Nach Deutschland
[* 9] zurückgekehrt, erhielt er eine Anstellung in der Kapelle zu Dresden,
[* 10] blieb aber nicht lange daselbst; der Tod
seines Vaters machte zunächst seine Anwesenheit in der Heimat nötig, dann zog es ihn wieder nach Wien. Bis hierher etwa reicht
Glucks
erste Kunstperiode, die reich an mancherlei Erfolgen war, aber noch kein selbständiges Gepräge seines künstlerischen
Charakters erkennen läßt. Mit seiner Übersiedelung nach Wien, wo er 1748 sich dauernd niederließ, beginnt
eine Wandlung seiner Kunstanschauungen, welche ihn allmählich von der im musikalischen Formalismus erstarrten italienischen
Oper ab- und der dramatisch ungleich höher stehenden französischen Oper zuführte.
Während seiner Wirksamkeit als Kapellmeister am Wiener Hofoperntheater (1754 bis 1764) hatte er reichliche Gelegenheit, die Mängel der zu jener Zeit in Deutschland ausschließlich herrschenden erstern kennen zu lernen und seine Reformpläne zur Reife zu bringen, was ihn übrigens nicht abhielt, während dieses Zeitraums noch eine Reihe von Opern für Italien [* 11] zu schreiben, deren eine ihm in Rom [* 12] die Ernennung zum »Ritter des goldenen Sporns« verschaffte. Erst mit der von Calzabigi gedichteten, 1762 in Wien aufgeführten Oper »Orfeo ed Euridice« verließ er die Bahn der italienischen Oper; fünf Jahre später aber erklärte er ihr mit seiner von demselben Dichter verfaßten »Alceste« (Wien 1767) entschieden den Krieg.
Seine kunstreformatorischen Grundsätze hat Gluck
selbst in dem dieser Oper vorausgeschickten Dedikationsschreiben an den Großherzog
von Toscana ausführlich entwickelt. Er erklärte, den Mißbräuchen, welche durch die Eitelkeit der Sänger
und die Nachgiebigkeit der Komponisten eingerissen waren, entgegentreten zu wollen; er wolle nicht den Gang
[* 13] der Handlung zur
unpassenden Zeit durch ein Ritornell unterbrechen, nicht einer Passage oder Kadenz den Ausdruck opfern, nicht dem Herkommen zuliebe
den zweiten Teil einer Arie vernachlässigen, wenn die Situation auf denselben allen Nachdruck zu legen
gebiete, um nur die unbedeutenden Worte des ersten Teils viermal zu wiederholen und die Arie gegen den Sinn des Textes zu schließen;
die Symphonie (Ouverture) solle dem Charakter des Dramas entsprechen und den Zuhörer auf dasselbe vorbereiten.
Als Grundgesetz des dramatischen Gesanges galt es ihm, daß die Musik sich der Dichtung unterzuordnen habe und zu ihr in demselben Verhältnis stehen müsse wie bei einem Gemälde das Kolorit zur Zeichnung. Edle Einfachheit sei das Ziel, nach welchem er als Musiker strebe; er verschmähe alles Schwierige, wenn es der Klarheit schade, alles Neue, wenn es nicht aus der Situation mit Notwendigkeit hervorgehe, sogar die Beobachtung der Regeln, wenn dieselben das Streben des Komponisten nach dramatischer Wahrheit beschränkten.
Die hier bezeichneten Neuerungen, wiewohl im wesentlichen nichts andres als eine Wiederherstellung des Musikdramas in seiner
ursprünglichen Reinheit, fanden bei dem künstlerisch noch völlig unselbständigen Publikum Deutschlands
[* 14] nur geringes Verständnis,
von seiten der angesehensten Kritiker aber, namentlich Forkels in Göttingen
[* 15] und Agricolas in Berlin,
[* 16] heftige Opposition; und wenn auch einzelne erleuchtete Geister, wie Klopstock, Herder und Wieland, den Gluck
schen Ansichten mit
Begeisterung zustimmten, so mußte es dem Künstler doch unzweifelhaft sein, daß nicht sein Vaterland
den zur Verwirklichung seiner Reform geeigneten Boden biete, sondern Paris,
[* 17] wo die große Oper bereits seit Lully eine der seinigen
analoge Richtung verfolgte und überdies das Publikum für jeglichen Fortschritt auf dem Gebiet des Dramas eine außerordentliche
Empfänglichkeit bewies.
Unter diesen Umständen konnte er nicht schwanken, als sich ihm durch Vermittelung Des Bailli du Roullets,
eines Attachés der französischen Gesandtschaft in Wien, die Aussicht eröffnete, seine Opern in Paris zur Aufführung zu bringen.
Er komponierte seine »Iphigénie en Aulide«, wozu ihm Du Roullet nach Racines Tragödie selbst den Text gefertigt hatte, und begab
sich im Herbst 1773 nach Beseitigung vieler Schwierigkeiten, wobei schließlich sogar der Einfluß der
Dauphine Marie Antoinette (früher in Wien Glucks
Schülerin) mitwirkte, nach Paris, um dieselbe einzustudieren.
Die erste Aufführung dieses Werkes, bei dessen Komposition er rücksichtslos seinen Prinzipien gefolgt war, fand statt
und erregte ein ungeheures Aufsehen. Alsbald teilte sich das Publikum der Großen Oper in zwei Parteien,
die Gluck
isten und die Anhänger der italienischen Oper, welche sich, nachdem man den Neapolitaner Piccini als Rival des deutschen
Meisters nach Paris berufen, Piccinisten nannten, jene mit Suard, Abbé Arnaud, J. J. Rousseau, diese mit Marmontel, La Harpe,
d'Alembert als Wortführern.
Eine Reihe von Jahren, während deren Gluck
noch den »Orfeo« und die »Alceste« in französischer Bearbeitung sowie (in Versailles
[* 18] 1775) die Opern: »L'arbre enchanté« u. »Cythère
assiégée«, endlich 1777 die »Armide« des Quinault zur Aufführung brachte, schwankte der Kampf;
besonders hitzig wurde er 1778, wo Piccini mit seinem »Roland« einen glänzenden Triumph feierte.
Erst 1779, wo Gluck
mit seiner »Iphigénie
en Tauride« (Text von Guillard) einen vollständigen Sieg über Piccinis gleichnamige Oper errang, war der Streit zu gunsten
des deutschen Tonkünstlers entschieden. Glucks
letzte Oper war die in demselben Jahr in Paris mit geringerm Erfolg aufgeführte
»Écho et Narcisse« (Text von Tschudi); im folgenden Jahr kehrte er nach Wien zurück und lebte dort hochgeehrt
bis zu seinem Tod, An Kompositionen hinterließ er außer den erwähnten Opern noch eine Anzahl komischer Opern:
»La fausse esclave«, »Le
[* 19] cadi
dupé«, »L'arbre enchanté« u. a.,
die er in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit in Wien mit Benutzung von Texten der inzwischen in Paris zur
Ausbildung gelangten Opera comique zum Zweck der Aufführung im engern Hofkreis geschrieben;
ferner das Ballett »Don Juan« (1761) sowie für Kirche und Kammer den Bußpsalm »De profundis« und den 8. Psalm für Chor und Orchester, Lieder von Klopstock mit Klavierbegleitung und die unvollendete geistliche Kantate »Le jugement dernier«.
Glucks
künstlerische Individualität ist am vollständigsten durch seine eignen Worte gekennzeichnet: »Ehe ich arbeite, suche
ich vor allen Dingen zu vergessen, daß ich Musiker bin«, und durch sein Streben, »mehr Maler und Dichter als Musiker zu sein«,
wie er bezüglich der »Armide« an Du Roullet schreibt. Daß er diesen Standpunkt erst mit der »Alceste«,
also in seinem 53. Lebensjahr und nach Zurücklegung
¶
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einer langen Künstlerlaufbahn, erreichte, beweist, wie v. Dommer (»Geschichte der Musik«, S. 523) treffend bemerkt, daß ihn mehr Beobachtung, Erfahrung, Reife des Geistes und bewußte Absicht als ein unwillkürlicher Kunstinstinkt zum Kampf gegen die Mißbräuche der Italiener getrieben haben. Diesen unternahm er und bestand er siegreich als ein Mann von Charakter und ernstem, hohem Sinn, dem Nachdenken und der Kunstbetrachtung zugethan, von der Natur für das Große und Bedeutsame in einfacher Erscheinung angelegt.
Daneben konnten auch die auf eine Veredelung und Vertiefung der deutschen Poesie gerichteten Bestrebungen, mit Lessing und dem
von Gluck
hochverehrten Klopstock an der Spitze, im besondern aber auch die Bemühungen um Verbesserung des
deutschen Schauspiels, nicht ohne bewegende Einwirkungen auf ihn bleiben. Die rein konventionell gewordenen und erstarrten
Gesangsformen der italienischen Oper, die endlosen, aller dramatischen Fortbewegung der Handlung Widerstand leistenden Arien
konnten seinem Drang nach Lebenswahrheit auch im Kunstwerk nicht länger entsprechen.
Die Allmacht einer üppigen, auf Kosten jeder höhern Idealität nur die Sinne berauschenden und dem Ohr
[* 21] schmeichelnden Melodik mußte seine keusche und kräftige Natur anwidern; die Eitelkeit der Sänger, welche in dem Komponisten
nicht viel mehr als ihren Handlanger sahen, mußte sein Künstlerbewußtsein empören. Diesen Übelständen zu begegnen, fühlte
Gluck
Beruf und Kraft
[* 22] in sich, und das Bestreben, dem poetischen und dramatischen Teil der Oper gegenüber dem
rein gesanglichen zu seinem Recht zu verhelfen, ist der Kern seiner Reformideen.
Vgl. Schmid, Gluck
, sein Leben und sein tonkünstlerisches
Wirken (Leipz. 1854);
Marx, Gluck
und die Oper (Berl. 1863);
Desnoiresterres, Gluck
et Piccini (Par. 1872);
Reißmann,
Ch. W. v. Gluck
(Berl. 1882).
Eine Sammlung der durch das Auftreten Glucks
in Paris hervorgerufenen Broschüren, Zeitungsartikel etc. veranstaltete Abbé
Gaspard Michel (Leblond) unter dem Titel: »Mémoires pour servir à l'histoire de la révolution opérée dans la musique par
M. le chevalier de Gluck« (Neap. 1781; deutsch von Siegmeyer:
»Über den Ritter von Gluck und seine Werke«, Berl. 1823).