Glosse
(grch. glossa, «Zunge», «Sprache»), [* 2]
in besonderm
Sinne bei Griechen und
Römern die Bezeichnung für unbekannte,
dunkle, nur in bestimmten Dialekten oder in dichterischer
Sprache gebräuchliche oder veraltete Wörter.
Deren Sammlung und
Erklärung knüpfte sich zuerst an die Erklärung Homerischer Gedichte und wurde in alexandrinischer
Zeit ein besonderer Zweig der grammatischen
Studien. Zahlreiche Sammlungen von Glosse
(Glossare) sind aus dem
Altertum vorhanden.
Den Anfang zu einer Bearbeitung der
Glossare machte schon H.
Stephanus (1573); etwas später
Bon. Vulcanius, (1679)
Chr.
Car.
Labbäus; auf eigentliche Sichtung des
Stoffs ist man erst in neuerer Zeit ausgegangen; ein Hauptarbeiter
auf diesem Feld war Glosse
Löwe (vgl. seine
Schriften Prodromus corporis glossariorum
¶
mehr
85 latinorum. Quaestiones de glossar. latin. fontibus, Lpz. 1876, und Glossae nominum, ebd. 1884). An Löwes (gest. 1883)
Stelle trat Glosse
Goetz in Jena,
[* 4] der drei weitere Bände (Bd. 2, Lpz. 1888; Bd.
4, 1889; Bd. 3, 1892) zum «Corpus
glossarium latinorum» beigesteuert hat. Erst viel später wurde es üblich, unter Glosse
oder
Glossēm auch die Erklärung selbst zu verstehen. Im Mittelalter hießen Glosse
einzelne Worte in der Landessprache,
die, meist für den Bedarf der Klosterschule, erklärend zu schwierigen Worten der lat. Schriftsteller hinzugeschrieben
wurden.
Standen sie zwischen den Zeilen, so hießen sie Interlinearglossen
(glossae interlineare), standen sie am Rande,
Marginalglossen
(glossae marginales). Ist jedes Wort eines Textes mit Glosse
überschrieben, so entsteht eine Interlinearversion.
Solche Glosse
wurden auch alphabetisch oder sachlich zu Wörterbüchern geordnet. Glosse gehören zu den ältesten
und wichtigsten altdeutschen Sprachdenkmälern; so namentlich die sog. Keronischen und Hrabanischen
Glosse
(Übersetzung eines lat. Wörterbuchs um 740) und der sachliche «Vocabularius
libellus St. Galli» (um 760). –
Vgl. Steinmeyer und Sievers, Die althochdeutschen Glosse
(2 Bde.,
Berl. 1879 u. 1882).
In der Rechtswissenschaft hat Glosse
eine besondere Bedeutung. Als im 11. Jahrh. in
den Rechtsbüchern Justinians eine neue Quelle
[* 5] rechtlicher Kenntnisse und reichhaltiger, bestimmter Rechtsvorschriften gefunden
worden war, bestanden die ersten wissenschaftlichen Bemühungen in der Erläuterung dieser Bücher durch
Interlinear- oder Marginalglossen.
Die eine bewundernswürdige Kenntnis des gesamten Inhalts des Corpus juris bezeugenden
Glosse
haben heute noch eine große Bedeutung, weil sie überall die Parallelstellen mitteilen.
Der erste hervorragende Lehrer und Bearbeiter dieser Art war Irnerius, gest. vor 1140; seine nächsten
und berühmtesten Nachfolger waren die vier Doktoren Bulgarus, Martinus Gosia, Hugo und Jacobus de Porta Ravennate. Accursius
(s. d.) brachte die Glosse
seiner Vorgänger in ein Ganzes (Glossa ordinaria), welches nun allgemein und ausschließend in Gebrauch
kam. Diese Glosse
ist auch in den glossierten Ausgaben des Corpus juris abgedruckt. Die Glossatoren gewannen
ein solches Ansehen, daß diejenigen Stücke des röm. Rechts, welche sie nicht mit ihren Erläuterungen versahen, auch keine
Gültigkeit hatten, nach dem Satze: «Quicquid non agnoscit glossa, nec agnoscit curia» («Was
die Glosse
nicht anerkennt, das erkennt auch das Gericht nicht an»).
Nach Accursius gewann die formale Kasuistik der Scholastik Einfluß auf die Rechtswissenschaft (Postglossatoren), bis im 16. Jahrh. mit dem Aufblühen der humanistischen Studien wieder die philol.-archäol. Behandlung vorherrschend wurde. Wie das röm. Recht wurden auch andere Rechtsbücher des Mittelalters, das päpstl. Recht (decretum, decretales u. s. w.), die Lehnrechtsgewohnheiten (libri feudorum) und in Deutschland [* 6] der «Sachsenspiegel» glossiert.