Glosse
(griech., »Zunge«),
Mundart,
Dialekt; dann Bezeichnung für
Ausdrücke, welche einer besondern
Mundart angehörten,
Provinzialismen, veraltete und daher leicht unverständliche
Wörter, fremdländische
Ausdrücke etc.; später endlich Bezeichnung
der
Erklärung solcher
Ausdrücke. Besonders in der makedonisch-römischen Zeit beschäftigten sich viele
Gelehrte mit der Abfassung
von Verzeichnissen solcher Glossen
(Glossarien), die namentlich die
Lektüre der Homerischen Gedichte
erleichtern sollten.
Die
Gelehrten, welche sich damit beschäftigen, hießen Glossographen. Der
Ausdruck Glossem
(Glossema) für Glosse
wurde erst in der
spätern Zeit gebräuchlich. Dieser Glossarienlitteratur gehören die größern lexikographischen Sammelwerke eines
Hesychios,
Suidas,
Pollux, das
»Etymologicum magnum« (s. d.),
die Homerischen
Scholien u. a. an. Auch bei den
Römern
werden glosse
matum scriptores erwähnt. Das berühmteste hierher gehörige Werk ist das des
Verrius Flaccus, betitelt:
»De
verborum significatione«, von welchem uns noch der
Auszug des
Festus erhalten ist. - Auch in der Geschichte des Bibeltextes
begegnet uns der
Ausdruck in verschiedenem
Sinn.
Randglossen kamen bei der
Bibel
[* 3] schon sehr früh und um
so mehr in Anwendung, als dies
Buch häufiger als jedes andre in die
Hände solcher
Leser kam, denen zahlreiche
Ausdrücke und
ganze
Stellen, als einer fremden Redeweise und einem fernen geschichtlichen oder religiösen
Horizont
[* 4] angehörig, unverständlich
waren. Weiteres s.
Exegetische Sammlungen. - In der
Poetik versteht man unter Glosse
eine eigne Art zierlicher
Gedichte, welche A. W. und
Fr.
Schlegel aus der spanischen
Poesie in die deutsche einführten (auch
Variationen genannt). Ein
solches Gedicht besteht aus vier
Dezimen (s. d.), deren letzte
Zeilen zusammengenommen eine gereimte
Strophe ausmachen, welche
das
Thema heißt und als solches meist dem Ganzen vorangestellt wird. - In der
Rechtswissenschaft nennt
man Glosse
die
Erläuterung zu dem
Texte der
Justinianischen
Rechtsbücher (s.
Corpus juris) durch kurze sachliche und sprachliche
Anmerkungen, welche die Rechtslehrer auf den italienischen
Rechtsschulen des
Mittelalters teils mündlich in ihren Vorlesungen,
teils schriftlich dem
Text ihres
Exemplars beifügten.
Ursprünglich waren diese so kurz, daß man sie in den
Text unter die betreffenden
Worte schrieb (glossae
interlineares); bald wurden sie ausführlicher und an den
Rand gesetzt (glosse
marginales). Bildeten die Glossen der
Juristen eine
fortlaufende
Erläuterung des
Textes, so nannte man sie Apparatus. Von diesen Glossen
erhielten später die
Juristen, welche
Justinians
Rechtsbücher auf solche
Weise erläuterten, den
Namen Glossatoren.
Ihre
Reihe beginnt mit
Irnerius (gestorben vor 1140);
die berühmtesten sind der Zeitfolge nach: Bulgarus (gest. 1166) und
Martinus Gosia (gest. 1167),
Hugo de
Porta Ravennate (gest.
1168),
Jacobus (gest. 1178), Placentinus (gest. 1192) und Pillius,
Johann
Bassianus und Albericus de
Porta Ravennate (gestorben nach 1194), Azo (gest. 1220), Hugolinus Presbyteri
und
Jacobus Balduini (gest. 1235),
Accursius (gestorben um 1260) und Odofredus (gest. 1265).
Accursius unternahm es, aus allen
vorhandenen Glossen
das
Beste zu exzerpieren, um aus diesen Exzerpten eine fortlaufende Glosse
zu den sämtlichen
Rechtsbüchern
Justinians zu bilden, und fand so vielen Beifall, daß
¶
mehr
sein Werk in den Gerichten fast gesetzliches Ansehen erhielt. Jetzt versteht man daher unter der Glosse
schlechthin die des Accursius
und nennt sie zum Unterschied von den größtenteils ungedruckten frühern Glossen
einzelner Juristen Glossa ordinaria. Sie
erstreckt sich auf alle Rechtsbücher Justinians, aber natürlich nur auf die Stücke derselben, welche
damals in ihnen enthalten waren, daher nicht auf mehrere Stellen in den Pandekten und im Kodex, welche erst von den Herausgebern
im 16. Jahrh. aus den Basiliken restitutiert wurden, sowie auch nicht auf diejenigen Novellen, welche die Glossatoren regelmäßig
nicht in die neun Kollationen aufnahmen.
Die Glossatoren zeichneten sich zwar durch außerordentliche Belesenheit in den Rechtsbüchern Justinians
und höchst sorgfältige und scharfsinnige Interpretation derselben aus; doch fehlte ihnen alle tiefere Einsicht in den geschichtlichen
Zusammenhang des römischen Rechts, wodurch ihre Interpretationen einseitig und mangelhaft werden mußten. Gleich dem römischen
Recht wurden auch andre Rechtsbücher des Mittelalters, wie das Corpus juris canonici, die langobardische
Lehnrechtssammlung, in Deutschland
[* 6] der Sachsenspiegel, das sächsische Weichbildrecht, glossiert und erst durch diese Glossen
in die Praxis eingeführt. Über die Sachsenspiegelglosse
vgl. E. Steffenhagen, Die Entwickelung der Landrechtsglosse
des Sachsenspiegels
(Wien
[* 7] 1881 bis 1886, 6 Hefte). - In der Umgangssprache sind Glossen
s. v. w. spöttische,
tadelnde Bemerkungen (daher Glossen machen).