Titel
Glieder
,
künstliche
(Ersatzglieder
,
Prothesen), mehr oder weniger komplizierte, aus
Holz,
[* 2]
Metall,
Kautschuk etc. angefertigte
Apparate, welche nach erfolgter
Amputation eines
Armes oder
Beines an den
Stumpf des
Gliedes angefügt werden
und das verloren gegangene
Glied
[* 3] soviel wie möglich zu ersetzen bestimmt sind. Der
Gebrauch künstlicher Glieder
[* 4] reicht bis
in das
Altertum zurück. Das uns geläufigste historische
Beispiel eines solchen Ersatzmittels ist die eiserne
Hand
[* 5] des
Götz
v.
Berlichingen (vgl.
Mechel, Die eiserne
Hand des
Götz etc., Berl. 1815, 4 Tafeln).
Die Anzahl derer, welche durch Verwundungen im
Krieg wie durch
Krankheiten verschiedener Art
(Knochenfraß, Knochengeschwülste
etc.) den Verlust eines
Armes oder
Beines zu beklagen haben, oder welche durch die dem
Handel, der
Industrie und
Landwirtschaft
dienenden
Maschinen aller Art verletzt und verstümmelt werden, ist eine viel größere, als man sich
gewöhnlich vorstellt. Ein zweckmäßig konstruiertes Ersatzglied gewährt solchen Verstümmelten die größte
Hilfe, erlaubt
ihnen das
Gehen und Stehen, sogar ohne Krücke, und befähigt bei entsprechender Übung selbst zu den kompliziertesten
Bewegungen,
z. B. zum Schreiben mit der künstlichen
Hand.
Auch ästhetische Rücksichten und der nachteilige Einfluß, welchen der Verlust größerer
Gliedmaßen
auf
Stellung und
Haltung des
Rumpfes ausübt, werden dem
Gebrauch künstlicher Glieder
das
Wort reden. Bei allen künstlichen
Gliedern
, so verschieden im einzelnen ihre
Konstruktion sein mag, kommen folgende drei
Faktoren in Betracht:
1) Der Körper oder die Hülse [* 6] soll in ihrer äußern Form dem abgesetzten Glied so ähnlich wie möglich sein. Bei möglichst geringem Gewicht muß die Hülse genügend fest und dauerhaft sein. Man formt sie aus ¶
mehr
gebohrtem Holz (meist Linden- oder Weidenholz), aus Leder und zwar aus hartem wie halb weichem Leder und macht dann die Hülse eventuell verschnürbar, neuerdings aber ganz vorzugsweise aus Hartgummi. Zuweilen werden die Hülsen zur Erreichung größerer Festigkeit [* 8] noch mit Stahlschienen versehen, dagegen sind vollständige Metallhülsen gegenwärtig ganz außer Gebrauch gekommen.
2) Der Mechanismus verbindet teils die Hülsenteile miteinander, teils vermittelt er gewisse Stellungen und Drehbewegungen
derselben zu einander. Bei künstlichen
Beinen ist ein dreifacher Mechanismus erforderlich: für die Bewegung im Kniegelenk,
im Sprunggelenk und an den Zehen. Die Gelenke werden im allgemeinen durch ein Gewerbegelenk (Scharnier) nachgeahmt, welches
in der verschiedensten Weise zur Ausführung kommt. Besonders fest und dauerhaft muß der Kniegelenksmechanismus
gearbeitet sein. Seit Anwendung des Weichgummivorfußes bei der Konstruktion künstlicher
Beine durch den Amerikaner A. Marks
ist der Zehengelenksmechanismus ganz ausgeschlossen worden, und das künstliche
Bein besitzt nach dessen Konstruktion nur noch
ein Knie- und ein Fußgelenk.
3) Die Hilfsapparate dienen teils zur Befestigung des künstlichen
Gliedes am Amputationsstumpf oder am
Rumpf des Trägers, z. B. Beckengürtel, Achselträger etc., teils
nehmen sie den Stumpf auf und erhalten ihn in seiner Form, verhindern stärkere Verschiebung der Weichteile an demselben und
sollen ihn überhaupt vor Druck etc. schützen. Der letztere Bestandteil wird gewöhnlich in Form eines
gepolsterten, dem Stumpf angepaßten und mit weichem Leder überzogenen Trichters ausgeführt.
Aus der großen Zahl verschiedener Konstruktionen dürften folgende als die bewährtesten und renommiertesten hervorzuheben sein. Für die untern Extremitäten:
1) Das Anglesey-Pottsche Bein, von Pott in Chelsea 1816 für den Marquis v. Anglesey verfertigt, ist in England sehr verbreitet. Lindenholzkörper mit Stahlscharniergelenk. Preis in London [* 9] ungefähr 35 Pfd. Sterl. Gewicht des Beins, aus Holz gearbeitet, 3,70 kg; ein Bein dieser Konstruktion, aus Hartgummi von Leiter in Wien [* 10] gearbeitet, wog nur 2,75 kg. 2) Das Bein des Dr. Palmer aus Amerika, [* 11] von ihm selbst ersonnen und getragen, ausgezeichnet durch einen fein durchdachten, aber sehr komplizierten Mechanismus, daher kostspielig und häufiger Reparaturen bedürftig.
3) Das Bein von William Selpho in New York ist eine Verbesserung des Anglesey-Beins.
4) Das Bein des Dr. Douglas Bly, Sprunggelenk, durch eine frei bewegliche Kugel gebildet; von mancher Seite als vorzüglich bequem gerühmt, verlangt jedoch eine sehr zarte Behandlung und bedarf häufiger Reparaturen (s. unten). Preis 175 Doll. Ein solches Bein von 91 cm Länge wog 2,25 kg. 5) Das vom Mechanikus Beckmann in Kiel [* 12] nach Professor Esmarchs Angabe konstruierte Bein. Die Oberschenkelhülse ist ein Korb aus Stahlstangen, Kniemechanismus aus Holzteilen mit Stahlspirale hinten und Gummigurt vorn zur Regulierung der Streckung. Der Mechanismus des Sprunggelenks ist ein beschränktes Kugelgelenk, der Zehenmechanismus ein Scharnier mit zwei Spiralfedern. Gewicht 2,75 kg, Preis etwa 150 Mk. 6) Das Bein von A. Marks in Philadelphia [* 13] wird als dasjenige Ersatzglied angesehen, welchem die Zukunft gehört.
Holzhülse oder schnürbare Oberschenkellederhülse; eigentümlicher, sehr solider Kniegelenksmechanismus. Der Vorfuß besteht aus Weichgummi (India Rubber-Fuß), ist mit der Unterschenkelhülse durch einen fest stehenden Holzzapfen verbunden, und der Zehenmechanismus fällt ganz weg. Der Apparat ist sehr einfach, sicher und dauerhaft, muß aber aus dem besten Gummi verfertigt sein; Gewicht bis zu 3 kg, Preis 100 Doll. Für die obern Extremitäten gibt es noch zahlreichere Konstruktionen als für die Beine. Hervorzuheben sind:
1) Der künstliche
Arm für den Oberarmstumpf von Masters in London. Bewegliche Finger, der Daumen gegen den Zeigefinger durch
Feder stellbar. Sehr elegant, aber nur für den leichtesten Gebrauch geeignet; Gewicht 0,68 kg, Preis 225 Mk.
2) Der künstliche Arm für den Vorderarmstumpf, ebenfalls von Masters, wiegt 0,57 kg und kostet 170 Mk. 3) Der künstliche
Arm von Fichot in Paris
[* 14] für den Ober- und Vorderarmstumpf. Finger unbeweglich bis auf den Daumen, welcher durch Weichgummistreifen
an den Zeigefinger angezogen, durch eine über den Oberarm zur andern Schulter gehende Darmsaite abgezogen
(gespreizt) wird. Gewicht 0,68 kg bei 72 cm Länge, Preis 60 Mk. 4) Der Arm von Werber in Paris. Finger unbeweglich, nur der Daumen
wird vermittelst einer Feder angedrückt u. durch eine Darmsaite abgezogen. Gewicht 0,57 kg bei 76 cm Länge, Preis 120 Mk.
5) Der Arm von Weber-Moos in Zürich
[* 15] für den Vorderarmstumpf. Finger an der Mittelhand in Halbbeugung, federnd, Daumen nicht feststellbar.
Gewicht 0,57 kg, Länge 42 cm, Preis 127 Mk. An den künstlichen Händen wird häufig eine Vorrichtung zum Einstecken des Messers
oder der Gabel angebracht. Der in der Abbildung
[* 4]
(Fig. 1) beigefügte Ersatz des Oberarms wird mit Gurten
an der Schulter befestigt.
Die Hülsen für Ober- und Vorderarm bestehen aus leichtem Holz, welches durch Stahlschienen größere Festigkeit erhält. Der Ellbogen ist wie ein Scharnier beweglich, ebenso die einzelnen Finger, das Handgelenk ist frei drehbar, und alle diese Gelenke werden durch Federn in ihrer Stellung erhalten. Dieser künstliche Arm ist deutsches Fabrikat und kostet ca. 150 Mk. [* 4] Fig. 2-4 stellen einen von Charrière ersonnenen künstlichen Vorderarm dar. Der Apparat wird an dem Oberarmstumpf durch eine mit Schnürlöchern versehene Armschiene A befestigt und durch eine am obern Teil befindliche Schlinge am Herabrutschen verhindert. Der Vorderarm besteht aus präpariertem Leder und hat am Handgelenk zwei Scharniere, welche die Beugung [* 16] der Hand gestatten. Eine am Vorderarm bei C befestigte Darmsaite g zieht diesen an, indem sie ihren Stützpunkt an der Armschiene bei a nimmt. Das Beugen
[* 4] ^[Abb.: Fig. 1. Künstlicher Oberarm.] ¶
mehr
des Ellbogens und der Hand geschieht durch Erheben des Stumpfes. Bei dieser Bewegung wird eine zweite Schnur D angezogen, die bei E exzentrisch an dem Ellbogenscharnier befestigt ist, das andre Ende derselben ist mit einer starken Spiralfeder versehen und in der Hand bei F befestigt, beim Anziehen der Schnur wird diese im Faustgelenk gebeugt. Sobald jedoch der Zug an der hinter der Schulter befestigten Schnur nachläßt, richtet sich der Vorderarm durch die Kraft [* 18] zweier hinter dem Ellbogen befindlichen Federn wieder gerade.
Gleichzeitig mit dem Vorderarm wird auch die Hand gestreckt und zwar durch den Zug
einer schwächern Spiralfeder, die sich
außerhalb der Hand bei H und am Vorderarm bei J ansetzt. Das Auswärts- und Einwärtsrollen (Pronations- u. Supinationsbewegung)
wird durch Druck auf die Knöpfchen l hervorgebracht. Den sehr komplizierten Mechanismus des Streckens und Beugens der einzelnen
Fingerglieder
erläutern
[* 17]
Fig. 3 und 4.
[* 17]
Fig. 5 und 6 zeigen das Bein des Dr. Bly im Vertikaldurchschnitt.
Das Enkelgelenk wird durch eine Glaskugel B gebildet, welche sich in einer Höhlung von vulkanisiertem Kautschuk dreht. Die Kautschukfedern S vertreten die Muskulatur des Unterschenkels und laufen in vier Saiten C aus, deren Spannung durch die Schraubenmuttern N beliebig geregelt wird, und deren vier untere Ausläufer in [* 17] Fig. 6 C sichtbar sind. Das Kniegelenk wird durch einen achsenartigen Bolzen gebildet und durch die auf der Platte D angebrachte Feder E bewegt, während die Schnur H diese Bewegungen regelt, welche durch die Stange F vermittelt werden.
Die Federn, welche aus vulkanisiertem Kautschuk, wie die Eisenbahnwagenfedern, gefertigt sind, haben gegen Metallfedern [* 19] den Vorzug der großen Dauerhaftigkeit und bringen, wenn das Gewicht des Körpers beim Gehen auf dem künstlichen Bein geruht hat, durch die darauf folgende Ausdehnung [* 20] den künstlichen Fuß ohne Anstrengung nach vorn in die richtige Stellung.
Vgl. Fritze, Arthroplastik, oder die sämtlichen bisher bekannt gewordenen künstlichen Hände und Füße (Lemgo 1842, 26 Tafeln);
Martin, Essai sur les appareils prothétiques des membres inférieurs (Par. 1849);
Beaufort, Recherches sur la prothèse des membres (das. 1867);
Daul, A. Marks' k. Glieder
, mit Kautschukfüßen und -Händen (Philad. 1871);
E. Meyer, Über künstliche Beine (Berl. 1871);
Karpinski, Studien über k. Glieder
, (im Auftrag des preußischen Kriegsministeriums
bearbeitet, das. 1881, mit Atlas).
[* 21]
^[Abb.: Fig. 2-4. Charrières künstlicher Vorderarm. [* 17] Fig. 5 u. 6. Blys künstliches Bein.]