Titel
Gletscher
(in Tirol [* 3] Ferner, in Glarus Firre, Firn, in Kärnten Keß, Käß, in den Tauern Kahr, franz. Glacier, in den Pyrenäen Serneille, ital. Ghiacciaja, Vedretto, norweg. Brae [Sneebrae, Jisbrae], isländ. Jökull), Eisströme, welche ihren seeartigen Ursprung in den Firnschneefeldern haben und sich langsam thalabwärts bewegen. Die Firnschneefelder (A der [* 1] Figur, S. 424) bilden sich in der Region des »ewigen Schnees« aus den atmosphärischen Niederschlägen, in den höchsten Thälern der Hochgebirge, unter großen nördlichen und südlichen Breiten im Innern des polaren Binnenlandes.
Thal

* 5
Thal.
Durch
Druck darüber ausgebreiteter neuer Schneefälle und durch Zusammensintern wird der zuerst lockere
Schnee
[* 4] in grobkörnigen
(Firn, névé) umgewandelt, und echte Firnfelder können sich mithin nur dort bilden, wo in hoch gelegenen Kesselthälern
die Schneemassen sich aufhäufen, während selbst hoch hinausragende, aber einzeln gestellte Gipfel keine
Firnfelder und deshalb auch keine Gletscher
besitzen. Im weitern Verlauf des
Prozesses vereist der grobkörnige Firnschnee mehr und
mehr in den tiefsten
Lagen des Firnfeldes, tritt als Gletschereis
an einer tiefsten
Stelle (Firnlinie) aus dem Firnschneesee
in Stromesform aus und fließt nun im engen Anschluß an die
Konfiguration des zu
Thal
[* 5] führenden Wegs,
mit ihm sich verbreiternd oder verengernd, und Bergriegel, welche quer durch das
Thal ziehen, übersteigend, langsam hinab.
Gletscher (Entstehung,

* 7
Seite 7.423.
Trotz mannigfacher Übergänge zwischen Firnschnee, Firneis und Gletschereis
sind die
Substanzen in ihren typischen
Varietäten
gut unterscheidbar und charakterisieren sich in erster
Linie durch einen abnehmenden
Gehalt an eingeschlossener
Luft. So fand Nicolet in 1 kg Firnschnee 64, in der gleichen
Menge weißen, blasenreichen Firneises 15 und im blauen, blasenfreien
Gletschereis
1
ccm
Luft. Das Gletschereis
hat eine von sonstigem, durch direktes Frieren aus
Wasser entstandenem
Eis
[* 6] verschiedene
Struktur. Unterwirft man ein
Stück Gletschereis
der Abschmelzung, so zerfällt dasselbe nach einiger Zeit in einzelne
Stücke,
welche nach der optischen Untersuchung kristallographische Individuen sind, aus denen also die Gletscher
masse in Aggregatform
zusammengesetzt ist. Die
Größe dieser Gletscher
körner schwankt selbst im einzelnen Gletscher, ist am obern Ende geringer als an den
tiefern
¶
mehr
Stellen, wo sie bei kleinern Gletschern
Walnußgröße, bei größern die eines Hühnereies erreichen, in einzelnen Fällen
selbst bis zu 10 cm und darüber anwachsen kann. Es ist behauptet worden, daß die Eiskörner eines Gletschers orientiert
seien, d. h. eine parallele Stellung ihrer optisch-kristallographischen Achsen zeigten; dem wird aber von neuern Forschern
allgemein widersprochen. Durch den Wechsel in der Beschaffenheit der Lagen, welche sich namentlich in dem obern Teil des Gletschers
als eine verschieden weit fortgeschrittene Umwandlung des Firns in Gletschereis charakterisiert, ist oben häufiger und deutlicher
als weiter thalwärts eine Schichtung im Eis des Gletschers nachweisbar.
Viel markierter ist aber eine Blätterstruktur im Eis, die widersinnig zur Schichtung, wenn diese überhaupt nachweisbar ist, verläuft, also eine Art falscher Schieferung (s. d.), mit welcher sie auch hinsichtlich der Entstehung durch Druck identifiziert worden ist. Sie beruht auf einem Wechsel zwischen Blättern von blasenreichem, mehr an Firneis erinnerndem weißen Eis und solchen eines blasenfreien und dichtern blauen Eises. Da das letztere schwerer schmelzbar ist als das erstere, so entstehen an der Oberfläche des Gletschers durch stärkeres Abschmelzen des weißen Eises Rillen, welche, schwächer entwickelt, eine Art Moireezeichnung auf der Oberfläche hervorbringen, tiefer eingeschnitten, eine Sammelstelle für Staub und Sand abgeben können, so daß Schmutzstreifen sich bilden, die aber (nach Heim) von denjenigen scharf zu unterscheiden sind, welche oft in konvex nach unten gebogenen Kurven von variierenden Abständen über den Gletscher hinüberziehen. Sie sind Erzeugnisse der Gletscherstürze (s. unten) und bei dem treppenförmigen Abbrechen des Eises durch in die Stufenwinkel eingewehten Staub entstanden, welche dann nach der Regelation des Gletschers unterhalb des Bruches zunächst gerade Linien bilden und erst später infolge der stärkern Bewegung der Mittellinie des Gletschers (s. unten) kurvenartig ausbiegen.
Bern (Stadt; Geschicht

* 8
Bern.Gletscher, welche ihr Material aus nur einem Firnfeld beziehen, heißen einfache Gletscher (Rhônegletscher, Oberaargletscher in Bern), [* 8] zweifach oder mehrfach zusammengesetzte diejenigen, bei denen zwei oder mehrere Quellströme sich vereinen; der Fietscher in Wallis und der Vernaggtgletscher im Ötzthal seien als Beispiel für erstere, der Gorner Gletscher am Monte Rosa und der Aletschgletscher in Wallis für letztere angeführt. Auch ist man gewöhnt, die großen, ihr Eis tief ins Thal hinab liefernden Gletscher als solche erster Ordnung (nach Saussure) oder Thalgletscher (Hochstetter) von denen zweiter Ordnung (Hängegletscher, Hochgletscher, Jochgletscher nach Hochstetter), den kleinern, kürzern, welche nur hoch gelegene Felsenthäler ausfüllen, zu unterscheiden, wobei freilich viele verknüpfende Zwischenformen unterlaufen.
Endlich hält Heim drei Typen der Gletscher auseinander: die alpinen, zu denen auch die des Kaukasus, des Himalaja etc. zählen, langgestreckte Eisströme von verhältnismäßig geringer Breite [* 9] mit relativ nicht großen Firnfeldern als Ursprung;
die norwegischen, durch ungeheure, ganze Hochplateaus bedeckende Firnfelder, von denen eine Mehrzahl von Gletschern zu Thal wandern, ausgezeichnet, und die grönländischen, radial gegen das Meer ausstrahlende Abfuhrkanäle des sanft ansteigenden Eises des Binnenlandes (Inlandeis).
Windvogel - Winkel

* 10
Winkel.Der Winkel, [* 10] unter welchem der Weg, den die Gletscher einschlagen, geneigt ist, ist ein sehr verschiedener. Sind bei Hängegletschern Winkel selbst über 30° häufig, so ist das Bett [* 11] der erster Ordnung meist nur 5°-8°, wenig häufig 10°, ganz selten und gewöhnlich dann nur an einzelnen Stellen, an denen sich ganz analog zu den Wasserfällen Eisstürze (Rhônegletscher, Pasterze am Glockner) ausbilden, bis zu 30° geneigt. Bei den gewaltigen grönländischen Gletschern handelt es sich meist nur um einen Neigungswinkel von wenigen Minuten. Unebenheiten des Untergrundes führen zur Bildung von Querspalten und zwar Erhöhungen zu Tagesspalten, welche nach oben, Vertiefungen zu Grund spalten, welche nach abwärts weiter klaffen. Längsspalten entstehen bei Verbreiterungen des Bettes, und durch gleichzeitige Herausbildung von Längs- und Querspalten wird die Eismasse in säulenförmige Gestalten (Eisnadeln) zerspalten.
Bewegung der Gletscher.
Die Schnelligkeit der thalwärts gerichteten Bewegung ist, weil von mannigfachen Faktoren abhängig, eine sehr verschiedene. Großer Nachschub aus bedeutendem Firnfeld, größere Neigung des Terrains, höhere Temperatur während des Sommers wirken beschleunigend, der Mangel dieser Bedingungen verlangsamend auf die Bewegung ein. Ferner haben die einzelnen Punkte eines und desselben Gletschers nicht gleichförmige Bewegung. Im Oberlauf wandert der Gletscher schneller, im Unterlauf langsamer und, ganz analog einem Wasserlauf, in der Mitte schneller als an den Rändern. In toten Winkeln kann Stillstand, ja selbst ein lokales Aufwärtswandern eintreten, während die angeblich beobachtete Bewegung einzelner Teile des freien Gletschers bergauf wohl nur auf Beobachtungsfehlern beruht. Die folgende Tabelle gibt zunächst Zahlen für den mittlern täglichen Fortschritt einiger G.:
Unteraargletscher | 0.140-0.211 Meter |
Mer de Glace, Montblanc, Mittel von 1788 bis 1832 | 0.321 " |
Pasterze (Tirol) | 0.06-0.43 " |
Tunsbergdalsgletscher (Norwegen) | 0.087-0.395 " |
Lodalbrae (Norwegen) | 0.102-0.654 " |
Torsukatak (Grönland) | 6,150 " |
Jakobshavngletscher (Grönland) | 15.0-22.46 " |
Ferner fügen wir zur Charakteristik der Differenz in der Rand- und Mittenbewegung folgende von Agassiz und seinen Genossen auf dem Unteraargletscher gewonnene Zahlen bei:
Entfernung von der Mittellinie Meter | Jährl. Mittel 1842-45 Meter | |
---|---|---|
nach dem nördlichen, linken, Ufer | 682 | 3.0 |
653 | 5.6 | |
608 | 20.7 | |
533 | 48.7 | |
459 | 55.3 | |
308 | 62.8 | |
158 | 67.4 | |
22 | 70.0 | |
nach dem südlichen, rechten, Ufer | 292 | 64.1 |
406 | 47.6 | |
532 | 39.8 | |
622 | 11.9 | |
682 | 1.6 | |
Mittl. Bewegung des Gletschers: | - | 38.34 |
Gletscher (Bewegung, u

* 13
Seite 7.424.Wie aus der Tabelle ersichtlich, zeigen die grönländischen Gletscher nach Hellands Untersuchungen eine ganz abnorme Geschwindigkeit, und doch sind sie, wie oben gesagt wurde, nur wenig geneigt. Der enorme Nachschub aus den Vorräten des Inlandeises ist es hier, welcher als beschleunigende Kraft [* 12] wirkt. ¶
mehr
Ganz besonders hervorgehoben zu werden verdienen die Beobachtungen, welche seitens der Schweizer Regierung und der Schweizer naturwissenschaftlichen Gesellschaft seit 1874 am Rhônegletscher angestellt werden. Aus farbigen Steinen hergestellte Linien durchschneiden den an mehreren Stellen und geben, alljährlich kontrolliert, ein getreues Bild der Bewegungsdifferenzen in verschiedener Höhe und Breite des Gletschers.
Über die letzten Ursachen der Bewegung der Gletscher gehen die Ansichten auseinander. Während ältere Forscher sie nur auf die Ausdehnung [* 14] zurückführen wollten, welche das Wasser beim Gefrieren erfährt, und im G. selbst einen ewigen Wechsel zwischen Auftauen und Gefrieren voraussetzten, stehen sich jetzt im wesentlichen zwei Theorien gegenüber: einige Forscher (Hugi, Forel) finden die Ursache ausschließlich in der Vergrößerung der den Gletscher zusammensetzenden Eiskörner durch Ankristallisieren von Infiltrationswasser (thermische Theorie), die Mehrzahl (unter andern Tyndall, Forbes, Helmholtz, Heim, Pfaff) rekurrieren auf die eigentümlichen Plastizitätsverhältnisse, welche das Eis nach den Untersuchungen von Helmholtz, Tyndall u. a. in der Nähe des Schmelzpunktes zeigt, und führen auf diese im Verein mit Schwerewirkung das Fortschreiten zurück, das demnach am besten mit der Bewegung einer dickflüssigen Masse auf geneigter Ebene zu vergleichen wäre (mechanische od. Schweretheorie). Hinzu kommt, daß unter hohem Druck der Gefrierpunkt des Wassers sinkt; tiefer gelegene Eisteile des Gletschers können deshalb auch bei einer Temperatur unter 0° schmelzen; hierbei wird das gebildete Wasser ausgepreßt und dadurch eine Volumverminderung erzeugt, welche das Nachrücken höher gelegener Eismassen zur Folge hat.
Wage - Wagen

* 15
Wage.Vermindert wird der Gletscher zunächst durch oberflächliche Abschmelzung in Gegenden und zu Zeiten, wo und wann eine höhere Temperatur als 0° herrscht. Das dabei gebildete Wasser versinkt teils in Haarspalten, teils in größern Schlöten (Gletschermühlen, moulins) bis zum Untergrund, auf dem es sich unter dem Gletscher thalabwärts bewegt, bis es am Gletscherthor (B der [* 13] Figur), am untern Ende des Gletschers, als Gletscherbach (C der [* 13] Figur) hervortritt. Diese seine untere Grenze findet der Eisstrom dort, wo die Abschmelzung durch die im Thal herrschende höhere Temperatur dem Nachschub an Eis die Wage [* 15] hält, ein Punkt, welcher ausnahmslos tief unter der Schneelinie des betreffenden Territoriums liegt. Als Beispiel diene folgende Zusammenstellung (nach Heim):
Breite | Schneegrenze Meter | Untere Gletschergrenze Meter | |
---|---|---|---|
Justedalsbraeer (Norwegen) | 61° 38' Nord | 1300 | 50 |
Felsengebirge (Nordamerika; ob echte G.?) | 52° " | ca. 3000 | ca. 2000 |
Altai | 51° " | 2200 | 1250 |
Tátra (Ungarn) | 49° 10' " | 2180 | 2115 |
Tiroler Zentralalpen | 47° " | 2820 | 1550 |
Hohe Tauern | 47° " | 2860 | 1700 |
Schweizer Zentralalpen | 47° " | 2750-2800 | 983-1000 |
Montblanc | 46° 45' " | 2860-3100 | 1100 |
Kaukasus | 43° " | 2900-3600 | 1930 |
Pyrenäen | 42° 30'-43° | 2700-2800 | 2200 |
Karakorum | 35° 20' Nord | 5670 | 3011 |
Himalaja | 28° " | 4800 | 2865 |
Chilenische Andes | 35° Süd | 2580 | 2100 |
Neuseeland | 43° 36' " | 2300 | 210-845 |
Patagonien | 46° 50' " | ? | 0 |
Feuerland | 54° " | 1070 | 0 |
Die untere Grenze der Gletscher ist keine unveränderliche. Die warme Jahreszeit schiebt sie hinauf, in der kalten wandern sie weiter thalwärts. Außer diesen jährlichen Schwankungen sind aber auch große Perioden
[* 13] ^[Abb.: Ideale Gletscherlandschaft (nach Simony). A Firnschneefelder, B Gletscherthor, C Gletscherbach; a Seitenmoränen, b Gufferlinie, c Gletschertisch, d Endmoräne.] ¶