Titel
Girardin
(spr. schirardäng), 1) Cecile Stanislas Xavier, Graf von, franz. Politiker, geb. zu Lunéville, bildete sich nach den Lehren [* 2] Rousseaus, trat im 16. Jahr als Kadett in ein Dragonerregiment und avancierte bald zum Kapitän. Ein begeisterter Anhänger der Revolution, ward er in Senlis als Abgeordneter des dritten Standes in die Nationalversammlung gewählt. Als Mitglied der Gesetzgebenden Versammlung hielt er sich anfangs zur äußersten Linken, näherte sich aber allmählich aus Furcht vor der Anarchie der Rechten und verteidigte das konstitutionelle Königtum.
Deshalb von den Jakobinern bedroht, übernahm er eine Sendung nach London [* 3] und verbarg sich nach seiner Rückkehr im Januar 1793 bei einem Verwandten zu Sézanne, ward aber entdeckt und verhaftet. Erlernte im Gefängnis das Tischlerhandwerk, bis der Sturz Robespierres ihm die Freiheit wiedergab. In Ermenonville, wohin er sich später zurückzog, machte er die Bekanntschaft Joseph Bonapartes, erhielt durch diesen nach dem 18. Brumaire das Amt eines Präfekten im Departement Oise und darauf eine Stelle im Tribunat. 1806 begleitete er Joseph Bonaparte nach Neapel, [* 4] wo er den Befehl über ein Bataillon und nach der Belagerung von Gaeta den Rang eines Obersten erhielt.
Zum Brigadegeneral befördert, ging er 1808 mit
Joseph nach
Spanien,
[* 5] ward nach seiner Rückkehr Mitglied des
Gesetzgebenden
Körpers und 1812
Präfekt des
Departements der untern Seine.
Da er die
Abdankung
Napoleons mit unterzeichnet hatte,
behielt er sein
Amt nach der ersten
Restauration, ward freilich, der Verbreitung einer
Schmähschrift gegen die königliche
Familie beschuldigt, nach der zweiten Rückkehr der
Bourbonen entsetzt, jedoch 1819 als
Präfekt des
Departements
Côte d'Or wieder
angestellt.
Weil er, gleichzeitig vom
Departement der untern Seine in die
Kammer gewählt, sich zur
Opposition
hielt und namentlich gegen die
Ausnahmegesetze beim
Tode des
Herzogs von
Berri kämpfte, verlor er 1820 seine Präfektenstelle
wieder. Dagegen behielt er seinen
Platz in der
Kammer auf der äußersten
Linken bis 1826; er starb Girardin
schrieb:
»Mémoires, journal et souvenir« (Par. 1828, 5 Bde.).
2)
Alexandre,
Graf von,
Bruder des vorigen, geb. nahm an den
Feldzügen
Napoleons I. mit Auszeichnung
teil und ward 1814 Divisionsgeneral.
Später von entschieden royalistischer
Gesinnung, ward er
Oberjägermeister
Karls X. Nach
der
Julirevolution lebte er zurückgezogen und starb Girardin
veröffentlichte unter anderm:
»Mémoire sur
la situation politique et militaire de l'Europe« (1844).
3) Erneste Stanislas,
Graf von, franz. Kammermitglied, ältester Sohn von Girardin
1),
Besitzer von
Ermenonville, geb.
stand erst in Militärdiensten, saß seit 1830 zweimal als Deputierter des
Departements
Charente in der
Kammer, wo er mit der
liberalen
Minorität stimmte. Bei den
Wahlen des
Jahrs 1842 fiel er hauptsächlich auf Betrieb
Guizots durch,
welcher persönlichen Groll gegen ihn hegte. 1848 und 1849 war er für das
Departement
Charente Mitglied der
Konstituante und
Legislative, wo er zu der gemäßigten
Partei gehörte. Am ernannte ihn
Ludwig
Napoleon zum
Senator.
Er starb in
Paris.
[* 6]
4) Jean Pierre Louis, Chemiker, geb. ¶
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zu Paris, trat 1821 in das pharmazeutische Laboratorium [* 8] der Hospitäler von Paris, 1825 in das Laboratorium von Thénard und erhielt 1828 die Professur der angewandten Chemie in Rouen. [* 9] Hier richtete er auch einen Kursus der angewandten Chemie für Arbeiter ein und veröffentlichte diese Vorlesungen als »Leçons de chimie élémentaire appliquée aux arts industriels« (1837; 6. Aufl. 1880, 5 Bde.). 1838 wurde er zum Professor der Agrikulturchemie an der auf seinen Antrieb gegründeten École d'agriculture ernannt. 1848 begann er seine Vorlesungen über den Dünger im Departement Niederseine und übte einen großen Einfluß auf die Fortschritte der Kultur in der Normandie. 1858 folgte er einem Ruf nach Lille [* 10] und wurde dann Rektor der Akademie zu Clermont. Er schrieb: »Éléments de minéralogie appliquée aux sciences chimiques« (Par. 1826, 2 Bde.);
»Nouveau manuel de botanique« (das. 1827);
»Considérations générales sur les volcans« (Rouen 1830);
»Du sol arable« (2. Aufl., Par. 1842);
»Des fumiers et autres engrais animaux« (7. Aufl. 1875);
»Résumé des conférences agricoles sur les fumiers« (3. Aufl. 1854);
»Moyens d'utiliser le marc de pommes« (4. Aufl. 1854);
»Des marcs dans nos campagnes« (Rouen 1854);
»Traité élémentaire d'agriculture« (3. Aufl. 1874, 2 Bde.);
»Chimie générale et appliquée« (1868-1869, 4 Bde.).
5) Delphine Gay, Madame Emile de, franz. Dichterin, geb. zu Aachen,
[* 11] Tochter der Schriftstellerin
Sophie Gay, machte sich schon in ihrem 17. Jahr als Dichterin (auch durch ihre Schönheit) bekannt und erhielt von der Akademie
einen Preis. Seit 1831 mit Emile de Girardin
verheiratet, starb sie in Paris. Ihr Ruf gründete sich
namentlich auf ihre Poesien, die als »Essais poétiques« (Par.
1824-26, 2 Bde., u. öfter) erschienen.
Außerdem schrieb sie Romane (»Le
[* 12] lorgnon«, »Contes d'une vieille fille«, »Le marquis de Fontanges«, »Marguerite«) und Theaterstücke
(»Judith«, »Cléopâtre«, »Lady Tartufe«, »Le chapeau de l'horloger« u. a.).
Großen Erfolg hatten ihre »Lettres parisiennes«, die sie unter dem Namen eines Vicomte de Launay 1836-48
in der »Presse«
[* 13] veröffentlichte. Ihre »Œuvres complètes« erschienen 1860 bis 1861 in 6 Bänden.
Vgl. Imbert de Saint-Amand,
Madame de Girardin
(Par. 1874).
6) Emile de, franz. Publizist, geb. in der Schweiz
[* 14] als illegitimer Sohn von Girardin
2), hieß bis 1827 Delamothe
und ward 1847 von seinem Vater anerkannt. Er erhielt auf einem Pariser Collège seine Bildung, ward 1823 im Kabinett des Generalsekretärs
der königlichen Museen angestellt und einige Jahre später Kunstinspektor im Ministerium des Innern. Litterarisch machte er
sich zuerst bekannt durch den Roman »Émile«, worin er seine Herkunft und die Geschichte seiner Kindheit
berichtet, sowie durch Gründung mehrerer Blätter, des »Voleur« (1828) und der »Mode« (1829),
denen nach der Julirevolution das »Journal des connaissances utiles« (1831) und das »Musée des familles« (1832) folgten. Gleichzeitig beteiligte er sich bei verschiedenen industriellen Unternehmungen und Spekulationen, die zum Teil einen übeln Nachklang für ihn hatten. 1834 zum Abgeordneten in die Kammer gewählt, that er sich als eifriger Ministerieller hervor und gründete das Journal »La Presse« als Organ der Hofpartei und der Konservativen, dessen Schmähungen ihn in einen Zweikampf mit dem Redakteur des »National«, Armand Carrel (s. d.), der im Duell blieb, verwickelten.
Für sein Journal bezog er vom Hof die [* 15] reichlichste Unterstützung und wurde durch Kabinettsbefehl von allen Untersuchungen, in welche ihn seine Aktienschwindeleien verflochten, freigesprochen; ministeriellem Einfluß verdankte er auch 1838 seine Wiederwahl in die Kammer. Nach den Februartagen 1848 schloß er sich der republikanischen Partei an und verteidigte anfangs die provisorische Regierung, die er aber gleich wieder bekämpfte, da sie seine Dienste [* 16] nicht annahm.
Obwohl er die Kandidatur Ludwig Napoleons zur Präsidentschaft zuerst offen empfohlen, bekämpfte er auch diese bald wieder,
da der Prinz auf das politische Programm Girardins
nicht eingehen wollte. Er warf sich nun entschieden
in die Arme des Sozialismus und gehörte, als er nach vielen vergeblichen Bemühungen 1850 vom Departement Niederrhein in die
Nationalversammlung gewählt worden war, der äußersten Linken, der Bergpartei, an, die er aber bereits im August ebenfalls
wieder verließ.
Infolge seiner Wahl zum Deputierten hatte er die Redaktion der »Presse« an Nefftzer abgetreten; darauf nahm er 1850 und 1851 teil an den Friedenskongressen zu Frankfurt [* 17] und London. Nach dem wurde er auf unbestimmte Zeit aus Frankreich verbannt und lebte in Brüssel, [* 18] erhielt aber schon im Februar 1852 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren, wo er die oberste Redaktion der »Presse« wieder übernahm, bis er sie 1856 um 800,000 Frank an die Bankiers Millaud u. Komp. verkaufte.
Vor dem italienischen Krieg empfahl er eine nationale und liberale Politik, welche Frankreich die Rheingrenze und Freiheit im Innern verschaffen sollte. Trotz dieses liberalen Scheins diente seine Thätigkeit doch der Verherrlichung des Kaisertums, das nach seiner Darstellung mit der wahren Freiheit sich recht gut vertragen könne. Als es ihm gleichwohl nicht gelang, das gewünschte Portefeuille zu erhalten, kehrte er 1862 zu der publizistischen Thätigkeit zurück, leitete wieder bis 1866 die »Presse« und gründete 1867 die imperialistische »Liberté«, welche er zu maßlosen Hetzereien gegen Preußen [* 19] benutzte.
Unter dem Ministerium Ollivier verkaufte er die »Liberté«, abermals um einen hohen Preis, und zog sich in der sichern Aussicht, zum Senator gewählt zu werden, von der publizistischen Thätigkeit zurück; doch gelangte seine Wahl nicht mehr zur Veröffentlichung. Während des Kriegs 1870 erreichten seine Auslassungen gegen Preußen die Höhe eines geradezu wahnwitzigen Paroxysmus. Noch vor der Belagerung von Paris sich nach Limoges zurückziehend, gründete er hier das Journal »La Défense nationale«, ließ dann seit April 1871 »L'Union française« erscheinen, worin er die Idee einer Umgestaltung Frankreichs in eine Föderativrepublik vertrat, erwarb späterhin das »Journal officiel« und übernahm im November 1874 die Direktion der »France«. Hier trug er 1877 wesentlich zum Sturz der reaktionären Regierung vom 16. Mai bei, gewann sich dadurch eine neue Popularität und wurde im 9. Wahlbezirk von Paris als Nachfolger Grévys in die Deputiertenkammer gewählt. Im J. 1881 verzichtete er auf eine Wiederwahl und zog sich reich und mit dem Ruf des größten französischen Publizisten der Gegenwart ins Privatleben zurück. Er starb in Paris.
Von seinen zahlreichen Schriften heben wir noch hervor: »Études politiques« (2. Aufl. 1849);
»De l'instruction publique en France« (neue Ausg. 1842);
»De la liberté de la presse, etc.« (1842);
»Les Cinquante-deux« (1848, 13 Bde.);
»La politique universelle, décrets de l'avenir« (Brüssel 1852, ¶
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4. Aufl. 1854);
»La séparation de l'Église et de l'État« (1861);
»Paix et liberté« (1864);
»Les droits de la pensée« (1864);
»Force ou richesse« (1864),
»Le succès« (1866);
»La voix dans le désert« (1868);
»Le gouffre« (1870);
»Hors de Paris« (Bordeaux [* 21] 1870),
»L'Union française, extinction de la guerre civile« (1871);
»L'homme et la femme, l'homme suzerain, la femme vasalle, réponse à l'homme-femme de Mr. Dumas fils« (1872);
»Grandeur ou décline de la France« (1876);
»La question d'argent« (1877);
»L'égale de l'homme« (wieder über die Frauenfrage, 1880, eine Entgegnung auf Dumas' »Les femmes qui tuent, etc.«) etc. Eine Auswahl seiner Journalartikel erschien gesammelt unter den Titeln: »Questions de mon temps« (1858, 12 Bde.) und »Questions philosophiques« (1868).
Auch mehrere Lustspiele hat Girardin
verfaßt, z. B. »Le
supplice d'une femme« und »Les deux soeurs« (beide 1865 aufgeführt,
das erstere mit ungeheuerm Erfolg, das letztere mit ebenso vollständigem Fiasko),
»Le mariage d'honneur« (1866),
»Les hommes sont ce que les femmes les font« (1868) u. a. -
Verheiratet war Girardin
1831-55 mit der Dichterin Delphine Gay (s. oben Girardin
5), darauf mit Wilhelmine Brunold, Gräfin Tieffenbach,
der Stieftochter des Prinzen Friedrich von Nassau, von der er sich jedoch 1872 wieder trennte.
7) François Auguste Saint-Marc, franz. Publizist, s. Saint-Marc Girardin.