Gioberti
(spr. dscho-), Vincenzo,ital. Philosoph und Politiker, geb. zu Turin, [* 2] studierte daselbst Theologie und Philosophie und wurde 1825 Priester und Professor der Philosophie, 1831 Hofkaplan bei dem Kronprinzen Karl Albert, 1833, der Teilnahme an den Bestrebungen des «Jungen Italien» [* 3] verdächtigt, verhaftet und nach viermonatiger Haft verbannt. Er lebte 1834–48 meist in Brüssel [* 4] als Lehrer an einem Privatinstitut und veröffentlichte eine Reihe von philos.
Schriften, in denen er den Ontologismus im Gegensatz zu dem Psychologismus von Descartes als das richtige und allein kath. System verteidigte und u. a. Lamennais und A. Rosmini Serbati bekämpfte. Einige seiner Schriften wurden von den Brüsseler Nuntien Fornari und Pecci (dem spätern Leo XIII.) belobt. 1843 wurde ihm eine Professur zu Pisa, [* 5] 1845 von dem spätern Kardinal Wiseman eine in dem kath. Kollegium zu Oscott angeboten. Mehr Aufsehen als seine philos. Schriften erregte sein polit.
Hauptwerk:
«Del primato degli Italiani» (2 Bde., Brüss.
1841), worin er die Idee der Wiederherstellung der
Größe und Macht
Italiens
[* 6] durch ein reformiertes Papsttum und eine Einigung
der ital.
Staaten zu einem
Staatenbunde unter dem Vorsitz des Papstes und unter Waffenschutz des Königreichs
Sardinien
[* 7] entwickelte.
In den «Prolegomeni al Primato» (Lausanne
[* 8] 1845) führte er die Idee
einer kirchlichen
Reform weiter aus und bezeichnete die
Jesuiten als Hindernis derselben. Auf die
Angriffe der
Jesuiten Curci
und
Francesco
Pellico (eines
Bruders des Dichters) antwortete er mit dem Werke: «Il
Gesuita moderno» (5 Bde., Lausanne 1846 u. ö.;
deutsch von
Cornet, 3 Bde., Lpz. 1849) und
mit der «Apologia del Gesuita moderno con alcune considerazioni intorno al risorgimento
italiano» (1848). Als Gioberti
1848 nach
Italien zurückkam, wurde er in mehrern
Städten begeistert empfangen, hatte in
Rom
[* 9] mehrere
Audienzen bei
Pius IX.,
war in
Turin im Aug. 1848 kurze Zeit Unterrichtsminister, vom bis Ministerpräsident,
vom 30. März bis 7. Mai Minister ohne
Portefeuille, dann bis 1851 Gesandter in
Paris.
[* 10]
Hier blieb er in freiwilliger Verbannung bis zu seinem Tode Der «Gesuita moderno» wurde 1849 gleichzeitig mit zwei Schriften von A. Rosmini auf den Index gesetzt; nach dem Erscheinen des Buches «Del rinnovamento civile d’Italia» (2 Bde., Tur. 1851),
worin er die weltliche Herrschaft des Papstes scharf angreift, wurden von der Inquisition seine sämtlichen Werke verboten. Nach seinem Tode sind noch 11 Bände «Opere inedite» (Tur. 1856–63) erschienen, u. a. «Filosofia della rivelazione» (ebd. 1856) und «Della riforma cattolica della chiesa» (ebd. 1857). In den nachgelassenen philos. Schriften, namentlich der «Protologia», hat er den Ontologismus aufgegeben und ein dem Pantheismus sich annäherndes System entwickelt. Eine Gesamtausgabe seiner Werke wurde 1877 in 36 Bänden vollendet. –
Vgl. Massari, Vita di
V. Gioberti
(Flor. 1848);
ders., Ricordi biografici e
carteggio di
V. Gioberti
(3 Bde.,
Tur. 1860–63);
Berti,
Di V. Gioberti
riformatore politico e ministro, con sue lettere inedite (1881);
K. Werner, Die ital. Philosophie des 19. Jahrh., Bd. 2 (Wien [* 11] 1885).