Gießen
,
[* 1] Hauptstadt der hess. Provinz Oberhessen, in anmutiger Lage am Einfluß der Wieseck in die Lahn, 166 m ü. M., Knotenpunkt der Linien Kassel-Frankfurt a. M. und Deutz-Gießen der Preußischen Staatsbahn sowie Gießen-Fulda und Gießen-Gelnhausen der Oberhessischen Eisenbahn; macht, obschon der älteste Stadtkern eng und winkelig erscheint, im ganzen durch zahlreiche Neubauten einen modernen Eindruck. Die alten Festungswerke wurden 1805 geschleift und in eine schöne Promenade, die sogen. Schoor, verwandelt. Die ansehnlichsten Plätze sind: der Brand, das Kreuz, [* 2] der Kirchen- und der Marktplatz;
von Gebäuden sind zu nennen: die alte Stadtkirche St. Pancratii, die neue kath. Kirche, die Synagoge, die Gebäude der Universität und verschiedener dazu gehöriger Anstalten, das ehemalige Schloß (jetzt Kanzleigebäude), der Justizpalast etc. Die Zahl der Einwohner beträgt (1885) mit Garnison (1 Infanterieregiment Nr. 116) 19,001, meist Evangelische.
Industrie und
Handel sind sehr rege. Hervorzuheben sind:
Tabaks- und Zigarrenfabrikation (3000
Arbeiter), Textilindustrie,
Bierbrauerei,
[* 3]
Eisengießerei
[* 4] und Maschinenfabrikation, Müllerei,
Korsett-, Geldschrank-,
Erdfarben-,
Lack- und Firnisfabrikation
etc.,
Mehl-,
Wein-,
Getreide-, Vieh- und Kolonialwarenhandel,
Ackerbau und
Viehzucht.
[* 5] In der Umgegend ist viel Bergwerksindustrie
und eins der bedeutendsten Braunsteinbergwerke der
Welt. Gießen
ist Sitz der Provinzialverwaltung von
Oberhessen,
eines
Kreisamtes, eines
Landgerichts (für die 20
Amtsgerichte zu
Alsfeld,
Altenstadt,
Büdingen,
Butzbach,
Friedberg
[* 6] in
Hessen,
[* 7] Gießen
,
Grünberg,
[* 8] Herbstein,
Homberg in
Oberhessen,
Hungen,
Laubach,
Lauterbach,
Lich,
Nauheim,
Nidda,
Ortenberg,
Schlitz,
Schotten,
Ulrichstein und
Vilbel),
einer Reichsbanknebenstelle, einer
Filiale der
Bank für Süddeutschland und einer
Handelskammer.
Unter den Lehranstalten der Stadt steht die vom
Landgrafen
Ludwig V. gegründete
Universität (Ludoviciana) obenan.
Die Zahl der Studierenden betrug 1885/86: 650. Mit ihr verbunden sind eine wertvolle
Bibliothek, ein
anatomisches Theater,
ein zootomisches und Veterinärinstitut, ein
chemisches Laboratorium, physiologisches und pharmakologisches
Institut,
Entbindungsinstitut, ein botanischer
Garten,
[* 9] verschiedene wissenschaftliche Sammlungen, ein
Kunst-,
Münz- und Antikenkabinett,
eine Sammlung von
Sanskrit- und Zendtypen, eine
Sternwarte
[* 10] etc. An sonstigen Lehranstalten besitzt ein
Gymnasium, ein
Realgymnasium
und eine Forstlehranstalt. - Der
Punkt, an welchem Gießen
liegt, ist eine charakteristische
Stelle des Lahnthals, durch welche
seit alten
Zeiten die große Völkerpassage aus der Wesergegend in das Untermain- und Rheingebiet hindurchzog,
und nach der
Menge germanischer Totenhügel, ausgegrabener
Aschenkrüge etc. zu schließen, war derselbe ein geweihter
Ort mit
[* 1]
^[Abb.:
Wappen
[* 11] von Gießen.]
¶
mehr
einem heiligen Hain und einer Priester- und Totenstätte der alten Katten. Später, aber ehe die Stadt bereits aufblühte, gruppierten
sich um das Thalbecken auch die Burgen
[* 13] mittelalterlicher Dynasten, unter deren Trümmern noch jetzt der Gleiberg, der Vetzberg
(1646 zerstört), der Staufenberg (mit ansehnlicher Ruine) und die ehemalige Deutsch-ordenskomturei Schiffenberg (letztere
vollständig erhalten) besonders hervortreten. Gießen
selbst (bei den Alten oft »Zu
den Gissen« genannt, wahrscheinlich von den zahlreichen Flüßchen, welche hier ihr Wasser in die Lahn »gießen«
) gehörte ursprünglich
zur Grafschaft Gleiberg, kam 1203 an den Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen,
[* 14] erhielt um die Mitte des 13. Jahrh. Stadtrecht und
ward 1265 mit der zugehörigen Grafschaft an Hessen verkauft.
Landgraf Philipp der Großmütige versah Gießen
1530-33 mit Festungswerken, die zwar 1547 auf Befehl Kaiser Karls v. geschleift,
doch 1560-64 wieder errichtet und 1571 noch erweitert wurden. Mit dem Aussterben der Marburger Linie fiel Gießen
1604 an Hessen-Darmstadt.
Während des Siebenjährigen Kriegs ward Gießen
1759 den Franzosen eingeräumt, welche es bis 1763 besetzt
hielten. Auch 1796 und 1797 wurde die Stadt wiederholt von den Franzosen besetzt.
Vgl. Buchner, Gießen
und seine Umgebung (Gieß.
1880);
Derselbe, Gießen
vor 100 Jahren (das. 1879);
Derselbe, Aus Gießens
Vergangenheit (das. 1886);
Kraft,
[* 15] Geschichte von Gießen
bis 1265 (Darmst.
1876);
Nebel, Geschichte der Universität Gießen
(Marburg
[* 16] 1829).