Gewohnheitsrecht,
im weitern Sinn s. v. w. ungeschriebenes Recht oder der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen, welche ohne das ausdrückliche Gebot der gesetzgebenden Gewalt bestehen; im engern, eigentlichen Sinn aber die Gesamtheit solcher Rechtsnormen, welche unmittelbar in dem Bewußtsein eines ganzen Volkes leben und darum als direkt aus dessen Willen herfließend anzusehen sind. Unter Gewohnheit versteht man hier im allgemeinen die aus mehrmaligen und längere Zeit hindurch geübten Handlungen hervorgehende Gleichförmigkeit derselben. Diejenigen solcher Gewohnheiten nun, welche eine bindende Rechtsnorm zur Folge haben, heißen Rechtsgewohnheiten, die auf diesem Wege gebildete Rechtsnorm selbst aber ist ein Gewohnheitsrecht. Das Gewohnheitsrecht ist darum rechtsverbindlich, weil es auf der allgemeinen Rechtsüberzeugung beruht, deren Geltendmachung der Richter sich ebensowenig entziehen kann wie der Anwendung eines logischen Gesetzes. Die wiederholte Übung ist nur ein Zeichen der Existenz eines Gewohnheitsrechts. Im gemeinen Recht ist die Eigenschaft der Rechtsgewohnheiten als Rechtsquelle ausdrücklich anerkannt und ihnen die Wirksamkeit und Kraft der von der bestehenden gesetzgebenden Gewalt ausgegangenen gesetzlichen Vorschriften (vis legis) beigelegt. Man teilt die Gewohnheit ein in
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einführende (consuetudo introductiva s. constitutiva), d. h. eine solche, welche eine neue, noch nicht bestandene Rechtsnorm einführt, und in abändernde (consuetudo abrogatoria), d. h. eine solche, welche das bestehende Recht abändert. Letztere kann ihre Wirkung aus zweierlei verschiedene Arten äußern, nämlich entweder im Weg eines bloßen Aufhebens, Entwöhnung (desuetudo), oder im Weg der Einführung einer entgegengesetzten Gewohnheit (consuetudo correctoria). Jede Gewohnheit kann ihre bindende Kraft und Wirksamkeit nur auf denjenigen Kreis oder diejenige Klasse von Personen erstrecken, für welche sie sich unter dem Dasein ihrer rechtlichen Erfordernisse gebildet hat. Sie kann daher je nach dem äußern Umfang ihrer Entstehung in geographischer Hinsicht bald als gemeine, bald als partikuläre, bald nur als lokale Gewohnheit erscheinen und ebenso bald für alle, bald nur für gewisse Klassen von Personen bestehen. Innerhalb des Kreises aber, auf welchen sich ihre Wirksamkeit bezieht, hat sie die volle Gültigkeit eines ausdrücklichen Gesetzes und zwar nicht bloß für solche Rechtsfälle, die von den geschriebenen Gesetzen nicht entschieden werden, sondern auch als abändernde Gewohnheit in den beiden vorhin bezeichneten Arten. Eine Ausnahme erleidet das letztere dann, wenn die abzuändernde Rechtsnorm auf einem absolut gebietenden oder verbietenden Gesetz beruht, indem durch Gewohnheit eine einem solchen Gesetz entgegenstehende Rechtsnorm nicht gebildet werden kann. Damit eine Gewohnheit rechtsverbindliche Kraft erhalte, ist erforderlich: daß sie nicht unvernünftig sei; daß sie längere Zeit hindurch beobachtet worden sei; daß dies mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit, also weder zufällig noch aus irgend einem andern Grund, geschehen sei; daß eine Mehrheit von Handlungen vorliege, und daß endlich die Gewohnheit ununterbrochen beobachtet worden sei. Einige Rechtslehrer fordern noch landesherrliche Genehmigung, andre den Ablauf der Verjährungszeit. Es sind jedoch diese Erfordernde in den Gesetzen nicht begründet, und ebensowenig bedarf es zur gesetzlichen Kraft eines Gewohnheitsrechts des Umstandes, daß vor den Gerichten bereits auf dieselbe erkannt worden sei. Heutzutage pflegen Gewohnheitsrechte am häufigsten im Staats- und Völkerrecht zu entstehen. Jedoch haben die neuern Kodifikationen, wie das preußische allgemeine Landrecht, der Code Napoléon und das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, gegenüber dem Gewohnheitsrecht eine abwehrende Stellung eingenommen. Am weitesten geht das bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen, welches das Gewohnheitsrecht überhaupt nicht als Rechtsquelle anerkennt, und selbst das allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch läßt das Gewohnheitsrecht nur beschränkt zu. Auf dem strafrechtlichen Gebiet kann Gewohnheitsrecht nur noch in der Gestalt des Gerichtsgebrauchs zur Geltung kommen. Vgl. Puchta, Das Gewohnheitsrecht (Erlang. 1828-37, 2 Tle.); Brinckmann, Das Gewohnheitsrecht (Heidelb. 1847); E. Meier, Die Rechtsbildung in Staat und Kirche (Berl. 1861); Adickes, Zur Lehre von den Rechtsquellen (Kassel 1872); Schwanert, Gesetz und Gewohnheit (Rostock 1873); Sturm, Gewohnheitsrecht und Irrtum (Kassel 1884).