Gewerbekra
nkheiten.
Als Gewerbekra
nkheiten bezeichnet man nicht eine besondere
Reihe von
Krankheiten, welche etwa
nur bei gewissen
Klassen von Gewerbtreibenden vorkämen, auch nicht alle
Krankheiten, von welchen überhaupt
Handwerker befallen
werden, sondern diejenigen, welche erfahrungsgemäß häufig bei einem oder dem andern Betrieb vermöge der damit verbundenen
dauernd einwirkenden Schädlichkeiten auftreten. Die Gewerbekra
nkheiten sind daher immer chronische
Leiden,
[* 2] wobei höchstens die bei Bürstenmachern, Haararbeitern, Produktenhändlern, Schlächtern und
Gerbern vorkommenden
Milzbrandansteckungen eine Ausnahme machen, sofern man diese hierher rechnen wollte.
Den Gewerbekra
nkheiten wird von der öffentlichen
Gesundheitspflege die größte
Aufmerksamkeit zugewandt, da durch gesetzliche
Verordnungen
manche der in
Frage kommenden Schädlichkeiten beseitigt oder doch wesentlich eingeschränkt werden können.
Das Gebiet der Gewerbekra
nkheiten ist sehr groß und durchaus nicht scharf abgegrenzt. Die Schädlichkeiten beruhen
1) in Einwirkung auf den ganzen
Organismus. So sind die
Bergleute durch ihren
Beruf gezwungen, fern vom Tageslicht bei mangelhafter
Luft jahrein jahraus zu arbeiten, was zur
Folge hat, daß dieselben fast nie das blühende Aussehen eines
Landarbeiters haben und durchschnittlich kein hohes
Lebensalter erreichen, namentlich zur
Schwindsucht neigen. Die
Schneider,
Schuhmacher und viele Büreaubeamten leiden wegen sitzender Lebensweise an Verdauungsstörungen,
Verstimmung,
Hämorrhoiden
etc. Die Lokomotivführer sind den gröbsten Temperaturschwankungen und starker Zugluft ausgesetzt,
wodurch
Erkältungen und chronischer
Muskel- oder
Gelenkrheumatismus bei ihnen als Gewerbekra
nkheiten auftreten.
2) Die Schädlichkeiten wirken von außen auf ein Organ, so leiden z. B. die Feuerarbeiter in Hochöfen häufig an chronischen Augenentzündungen, dasselbe Übel stellt sich neuerdings heraus bei Arbeitern in Fabriken elektrischer Lampen; [* 3] die Färber und zahlreiche Arbeiter in chemischen Fabriken sowie Arbeiter, welche die nackte Haut [* 4] dauernd der Sonne [* 5] aussetzen, bekommen chronische Hautausschläge u. dgl. Die Steinmetzen atmen in Masse den Staub der Gesteine [* 6] ein, welcher sich in Form schlammiger, später harter Massen in den Lungen ablagert, chronische Reizungen verursacht und oft zu Lungenschwindsucht führt. Ähnlich verhält es sich bei Grubenarbeitern mit Kohlenstaub, bei Schmieden und Schlossern mit Eisenstaub (vgl. Staubeinatmungskrankheiten).
3) Der
Gewerbebetrieb erfordert besondere und abnorme Leistungen von einem bestimmten Körperteil und bedingt so
Krankheiten
desselben. Die Sattler und
Schuhmacher, welche den
Leisten stets fest gegen die
Brust anstemmen, ziehen sich oft tiefe
Eindrücke
und
Verkrümmungen des
Brustbeins zu; an den
Stellen, an welchen beim
Reiten die Oberschenkel dem
Sattel anliegen,
an welchen schwere
Lasten auf der
Schulter getragen werden, bilden sich chronische
Entzündungen, zuweilen
Verknöcherungen aus;
Überbürdung jugendlicher
Arbeiter zieht
Verkrümmungen der
Wirbelsäule nach sich, besonders ist, wenn die
Last vorn getragen
wird, Einwärtskrümmung (Lordosis) die
Folge. Zu den gewöhnlichen Gewerbekra
nkheiten der
Musiker, welche
Blasinstrumente
spielen, gehört das
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Lungenemphysem.
4) Schädlichkeiten werden in den Körper aufgenommen. Hierbei ist oft schwer zu entscheiden, wieviel von schädlichen Gasen oder Dämpfen oder einer mit giftigen Staubteilen geschwängerten Luft durch die Lungen und wieviel etwa durch Verschlucken vom Magen [* 8] und Darm [* 9] her aufgenommen wird. Bei den reinen Gaseinatmungskrankheiten (s. d.) überwiegt jedenfalls der erste, bei der chronischen Bleivergiftung der Maler, Schriftsetzer und Schriftgießer wahrscheinlich der zweite Weg der Aufnahme.
Hierher gehören die chronischen Quecksilbervergiftungen bei Arbeitern in Spiegelfabriken, chronische Kupfervergiftungen bei
Verarbeitung von Kupferoxyd und Kupfersalzen, chronische Arsenikvergiftung bei Tapetenfabrikation und Verarbeitung arsenhaltigen
Bleies, Zinnes und andrer Metalle. Eine ausschließlich als Gewerbekra
nkheit bekannte Krankheit ist die chronische
Phosphorvergiftung, welche in den 60er Jahren sehr häufig in Schwefelholzfabriken vorkam, nun aber durch strenge sanitätspolizeiliche
Vorschriften und wohl noch mehr wegen Einführung der phosphorfreien schwedischen Zündhölzer fast verschwunden ist. Es
ist erwiesen, daß Schlächter, die häufig rohes Fleisch kosten, an Trichinen und Eingeweidewürmern erkranken; allein
hier verwischt sich die Grenze der Gewerbekra
nkheiten und geht in ein Gebiet über, das man allenfalls als Kulturkrankheiten bezeichnen
könnte, wie die Übel, die sich aus schlechter und unzureichender oder einseitiger Kost ergeben, die in Gefängnissen vorkommen,
wozu dann alle Folgen übergroßer Arbeit und Überanstrengung des Gehirns, der Augen, der Stimme (beim Kommandieren)
hinzugerechnet werden könnten.
Vgl. Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter (Leipz. 1871-78, 2 Tle.);
Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygieine ^[richtig: Gewerbe-Hygiene] (Berl. 1876);
Layet, Gewerbepathologie (deutsch, Erlang. 1877);
Merkel und Hirt, Gewerbekrankheiten
(3. Aufl., Leipz.
1882).