Germanische
Volksrechte nennt man die ältesten Rechtsaufzeichnungen der german.
Völker.
Bei den deutschen
Stämmen entstanden
sie seit dem 5. Jahrh. und hießen Leges barbarorum, im Gegensatz zu den
für die röm.
Bevölkerung
[* 2] einzelner german.
Staaten bestimmten Leges Romanae, z. B. Lex Romana Wisigothorum, Lex Romana Burgundionum.
Zum größten
Teile enthalten die Germanische Volksrechte
nur die schriftliche, aber amtliche Fixierung des von dem
Stamme geübten Gewohnheitsrechts,
zum
Teil aber auch neue Rechtsnormen, da neuentstandene Bedürfnisse eine gesetzliche Regelung erheischten.
Nur die angelsächs. und nordgerman.
Volksrechte sind in der Landessprache, die übrigen in zumeist barbarischem Latein aufgezeichnet.
Die Germanische Volksrechte
kommen auch da, wo sie aus der
Initiative und einem starken Einflusse der Könige hervorgehen, unter Mitwirkung
des
Volks zu stande. Bei der Abfassung der
Volksrechte tritt die Thätigkeit rechtskundiger, erfahrener
Männer hervor, welche das geltende Gewohnheitsrecht weisen und formulieren, in der Gerichtsversammlung darüber Vortrag
halten und ihre
Vorschläge einem Beschlusse der Gerichtsgemeinde unterstellen. Den Anstoß zur Aufzeichnung des
Rechts hat
wohl die Bekanntschaft mit
Römern und dem röm.
Rechte gegeben. Das Bedürfnis nach einer solchen wurde
sodann hervorgerufen durch die
Bildung der neuen
Stämme, durch die Einführung des
Christentums, durch Umgestaltung der polit.
und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie Einverleibung ins Frankenreich, Ausbildung der königl.
Gewalt,
¶
mehr
Veränderung der Grundbesitz- und Münzverhältnisse. Die Germanische Volksrechte
sind Stammesrechte, nicht Landrechte. Sie haben Geltung für
alle Stammesgenossen, welche auch außerhalb ihres Stammesgebietes nach ihrem angeborenen Rechte beurteilt werden (sog. Personalitätsprincip).
Ihrem Umfang und Inhalt nach sind die Germanische Volksrechte
sehr verschieden. Den größten Raum nehmen die Bestimmungen über
Strafrecht ein, oft nur Verzeichnisse von Bußzahlen, daneben fallen die Vorschriften über das gerichtliche
Verfahren ins Gewicht, das Staatsrecht ist nur in wenigen Volksrechten berücksichtigt, das Privatrecht nur dürftig behandelt.
Es war keine erschöpfende Kodifikation.
Durch die Verwandtschaft der Stämme ergeben sich nähere Beziehungen einzelner Volksrechte zueinander. Zu den deutschen Volksrechten gehören folgende: Das alamannische, in zwei Rechtsaufzeichnungen, von denen die älteste, der sog. Pactus Alamannorum, in fünf Bruchstücken erhalten, dem Ende des 6. oder Anfang des 7. Jahrh. entstammt, die zweite, die Lex Alamannorum, ein auf einer Stammesversammlung unter Herzog Landfrid (gest. 730) erlassenes Gesetz ist, welches in drei Abteilungen Bestimmungen über kirchliche Verhältnisse, über den Herzog und über verschiedene Verhältnisse enthält; die ältere Ausgabe von Merkel («Monumenta Germaniae», Leges III) ist ersetzt durch eine neue kritische von K. Lehmann («Monumenta Germaniae», Leges V in 4o); ferner die Lex Salica (s. Salisches Gesetz), Lex Ribuariorum und Lex Francorum Chamavorum (s. Ribuarisches Gesetz), Lex Baiuvariorum (s. Bayrisches Volksrecht), Lex Wisigothorum, Lex Romana Wisigothorum (s. Gotische Gesetzgebung), Lex Burgundionum und Lex Romana Burgundionum (s. Burgundisches Gesetz), Lex Frisionum (s. Friesisches Recht), Lex Saxonum (s. Sächsisches Volksrecht), Lex Angliorum et Werinorum (s. Thüringisches Volksrecht), Edictus Langobardorum (s. Langobardisches Recht), Edictum Theodorici (s. Gotische Gesetzgebung).
Unter den Germanische Volksrechte
sind noch zu nennen die angelsächs. Gesetze,
von denen die ältesten aus den Königreichen Kent von Ethelbert (um 600), Hlothar, Eadric und Withräd (673-696) und aus
Westsachsen von Ine (Ende des 7. Jahrh.), sehr umfangreich, auch für die spätere Gesetzgebung
von Bedeutung, und von Alfred (871-901) stammen, während in der Zeit des konsolidierten Reichs noch Gesetze
der Könige aus dem angelsächs. Geschlecht, Edwards I., Ethelstans, Edwards, Edgars,
Ethelreds (901-1016) folgen (s. Angelsächsische Sprache und Litteratur, Bd. 1, S. 620 a), und die nordgerman. Volksrechte (s.
Nordisches Recht). -
Vgl. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, I (Braunschw. 1860);
Brunner, Deutsche [* 4] Rechtsgeschichte (Lpz. 1887), I, §§. 36 fg.; R. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte (ebd. 1880), §. 31.