Germanisches
Altertum, in der Kulturgeschichte Bezeichnung desjenigen Zweiges dieser Wissenschaft, der die Zustände bei den Germanen (s. d.) der Urzeit, bis auf Karl d. Gr. nach den privaten und öffentlichen Seiten behandelt. Grundlegend für unsere Kenntnis von dem ist die Schilderung der ältesten Zustände in der «Germania» [* 2] des Tacitus (s. d.); ihre wichtigste Ergänzung findet sie in den Schilderungen Cäsars und denjenigen, welche die Schriftsteller namentlich des 4. bis 6. Jahrh. von den Goten, Alamannen, Franken u. s. w. machten, die bis zur Gründung ihrer Staaten auf röm. Boden in wesentlich den gleichen Verhältnissen fortlebten, in denen Cäsar und Tacitus die Germanen fanden.
Ferner sind Waffen, [* 3] Geräte und andere Reste des Lebens, Altertümer im engern Sinne, erhalten und mehrfach gesammelt und beschrieben worden. Auch die ältesten Gesetze, namentlich die Lex Salica, sodann die Weistümer über Marknutzungen u. s. w. enthalten noch vieles, was zum Verständnis der Angaben des Tacitus und anderer Alten dient. Schon zur Zeit des Arminius waren die Germanen seßhaft, trieben Ackerbau und hatten feste Ordnungen für Ehe und Recht; aber der Tag verzehrte den Erwerb, es wurden noch nicht erhebliche Arbeitsresultate in Besserung des Ackers, in Straßen und Häusern angesammelt; deshalb löste sich das Volk noch leicht vom Lande, wenn irgend ein Anstoß dazu drängte.
Wie die Wanderungen uns nicht über die Seßhaftigkeit täuschen, so darf die Bedeutung des Geschlechts im Staat nicht dazu verlocken, die Verfassung dieser Zeit als Geschlechterstaat zu bezeichnen. Das Recht der Geschlechter fand an den Ordnungen des Staates eine scharfe Grenze. Auch zu Tacitus' Zeit ergriff der Staat den Mann unmittelbar, nicht durch die Familie. Der Knabe wurde in bestimmtem Alter (etwa im 12. Jahre) aus der Gewalt der Familie entlassen und dem Staat unterstellt. Die Gewalt des Hauses und die Gewalt des Staates wurden als Gegensätze gefühlt, die sich gegenseitig ausschlossen. Die Familie hatte die Gewalt über die Kinder und die Frauen, der Staat über die Männer; jene Gewalt war mundium (die Munt), diese lex.
Von den Ständen bildeten die Masse des Volks die Freien, die Frilinge oder Kerle, unter ihnen stand der Unfreie, über sie erhob sich der Adel. Die Unfreien zerfielen in Knechte und Freigelassene, doch waren letztere nicht zahlreich, und ihre Lage unterschied sich thatsächlich meist nur wenig von der der Knechte. Der Knecht war rechtlos wie das Tier oder die Sache, der Herr konnte ihn töten, wenn er wollte; doch war seine Lage gewöhnlich nicht allzu hart, denn einfacher und roher konnte seine Wohnung und Speise nicht wohl sein als die der Freien es war; nur das unterschied die Knechte, daß sie im Gebrauch der Waffen, auch wohl in der Tracht, namentlich des Haares, gewissen Beschränkungen unterlagen und daß sie das Feld bebauen, das Vieh hüten u. s. w. mußten, während der Herr im Nichtsthun den Tag hinbrachte.
Knechtschaft entstand regelmäßig aus Gefangenschaft und durch Geburt von unfreien Eltern. Kinder des Herrn mit einer Sklavin konnte der Vater wie seine echten Kinder halten. Der umgekehrte Fall kam nicht vor. Eine freie Mutter konnte von einem Knecht keine Kinder gewinnen, sie verfiel sonst der schmählichsten Todesstrafe. Denn ein Weib galt nicht selbst als Herrin; sie war in fremder Gewalt, in der des Familienhaupts. Die Zahl der Unfreien wechselte mit dem Kriegsglück, aber regelmäßig hatten nur wenige Familien eine größere Zahl.
Auch Handel wurde mit Sklaven getrieben. Die Stellung des Adels war verschieden nach den Stämmen und Zeiten, aber allgemein gilt, daß die höhere Ehre, die dem Adel überall, und die Vorrechte, die ihm hier und da zustanden, die Freiheit und Bedeutung der Gemeinfreien nicht gefährden konnten; sie waren weder waffenlos noch wirtschaftlich abhängig. Das Heer war das Volk, der Acker gehörte der Gemeinde, und wer Genosse der Gemeinde war, hatte auch Teil am Acker. Privatbesitz am Acker kennt weder Cäsar noch Tacitus noch die Lex Salica, aber schon zu Tacitus' Zeit waren nicht die Geschlechter, sondern die Dorfgemeinden die Eigentümer des Ackers. Es gab eine engere und eine weitere Markgenossenschaft.
Wald und Weide [* 4] waren noch im Mittelalter mehrern Dörfern, bisweilen der ganzen Hundertschaft, ja dem Gau gemeinsam, aber die Feldmarken waren den Dörfern ausgeschieden. Die Feldgenossen waren die Dorfgenossen. Soviel Bauern da waren, in soviel Anteile wurde der Acker geteilt. Die wirtschaftliche Selbständigkeit der Familie ruhte auf dem Besitz an Vieh, Sklaven und Gerät, und an dem Haus mit der Hofstelle, wenn diese aus der gemeinen Mark ausgeschieden war.
Der Ackerbau war eine rohe Feldgraswirtschaft. Hatte der Boden eine oder einige Ernten abgegeben, so blieb er als «Dreesch» liegen, bis er sich wieder erholt hatte. Man baute Hafer, [* 5] Gerste, [* 6] Weizen, dazu einige Gemüse und Flachs. Die Viehzucht [* 7] hatte größere Bedeutung als der Ackerbau, und die Jagd mußte noch einen erheblichen Beitrag zum Unterhalt liefern. An Haustieren hatten die Germanen Pferde, [* 8] Rindvieh, Schafe, [* 9] Schweine, [* 10] an Geflügel namentlich Gänse. Große Sorgfalt wendeten sie auf ihre Jagdtiere; verschiedene Arten von Hunden und Falken, auch gezüchtete Hirsche [* 11] werden erwähnt.
Milch, Käse, Brei und Brot, [* 12] vor allem Fleisch bildeten die Nahrung, Bier und Met das Getränk. Ihre Kleidung war von selbstgemachtem Woll- oder Linnenstoff oder aus Tierfellen. Die Männer trugen als oft einziges Gewand einen anliegenden Rock, als Umhang ein Stück groben Wollzeugs oder ein Fell. Der Frauenrock war ohne Ärmel, der Mantel am liebsten von Leinwand. Eine Spange heftete den Umhang zusammen. So blieb die Tracht auch in den folgenden Jahrhunderten. Der sächs. und langobard. Männerrock war länger als der fränkische. Um die Hüften schloß sich der Gürtel. [* 13] Reichere trugen Schuhe. Die Tracht des Haares war nach den ¶
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Stämmen verschieden. Die Kunst des Webens übten die Frauen und erreichten nicht selten darin einen höhern Grad von Fertigkeit. Schmieden war noch kein Handwerk, sondern eine seltene Kunst. Metallwaffen aus Bronze [* 15] oder Eisen [* 16] galten als etwas Kostbares. Der gemeine Mann bediente sich noch meist aus Holz [* 17] und Stein hergestellter Waffen und Geräte; auch die Lanzen hatten nur kurze Eisenspitzen. Das Hans war meist ein rohes Blockhaus, einen einzigen Raum umschließend, daneben eine durch Dünger gegen Frost geschützte kellerartige Winterstube. Durch den Verkehr mit den Römern lernten die Germanen Geld und Wein kennen sowie andere Bedürfnisse und die Mittel sie zu befriedigen.
Die Ehe ward in bestimmten Formen geschlossen, unter denen die Zahlung einer Summe (d. h. eine Anzahl von Kühen oder anderm Vieh) an den Vater oder Vormund die wichtigste war. Das Mädchen ging aus der Gewalt der einen Familie in die der andern über. Der Mann konnte mehrere Frauen haben, hatte aber regelmäßig nur eine in rechter Ehe geworbene Frau. Bei einigen Stämmen durfte die Frau nach dem Tode des Mannes nicht wieder heiraten; bei den Herulern sollen sie sich auf dem Grabe ihres Mannes erhängt haben.
Der Abschluß der Ehe, die Übergabe der Braut, fand im Kreise [* 18] der Verwandten (der Sippe) statt, nicht in der Gerichts- oder Landesversammlung. Die Toten wurden in ältester Zeit begraben, später (schon im 1. Jahrh. n. Chr.) verbrannt, und zwar Vornehme oft mit Kleidung, Waffen und andern Beigaben. (Vgl. Weinhold, Die heidn. Totenbestattung in Deutschland, [* 19] Wien [* 20] 1859.) Tempel [* 21] hatten die Germanen nur wenig, meist verehrten sie die Götter in heiligen Hainen und auf Bergen; [* 22] ein Baum, eine Quelle, [* 23] ein heiliges Symbol (ein Holz, ein Stein, ein Schwert) galt wohl als Sitz des Gottes. Es wurden Opfer gebracht und nicht selten auch Menschenopfer; bezeugt sind sie bei den Cimbern und Teutonen und bis ins 8. Jahrh. Es gab Priester und Priesterinnen, aber keinen Priesterstand und keine Priesterherrschaft. (S. Deutsche Mythologie.) [* 24]
Die Staaten waren klein, die Gewalt lag in der Versammlung der Freien. An der Spitze standen Fürsten, die entweder den Titel Könige führten oder den minder glänzenden eines Führers und Richters (princeps, judex). Der König konnte hoffen, daß sein Sohn ihm einst folge, aber er folgte nur durch Wahl und Anerkennung der Gemeinde. Könige und Fürsten oder auch sonst an Ruhm und Reichtum hervorragende Männer sammelten eine Schar (s. Gefolge) freier Männer um sich, mit denen sie zusammen lebten.
Das Gefolge oder Gesinde (so bei den Langobarden) schuldete Gehorsam, hatte neben dem Führer zu kämpfen und sein Los zu teilen, wäre es auch Tod oder Gefangenschaft. Grundsatz des Rechtslebens war: Selbsthilfe des Geschädigten oder Fordernden, aber in vom Staate gebotenen Formen. Das Gericht war die versammelte Gemeinde, der Richter war Vorsitzender; der Kläger machte nicht Anzeige bei dem Richter, damit dieser den Schuldigen lade, sondern hatte ihn selbst zu laden.
Das Urteil war kein Urteil über die Sache, sondern darüber, wer den Beweis für seine Behauptung zu erbringen habe und durch welche Beweismittel. Diese waren entweder der Eid mit Eideshelfern (s. d.) oder das Gottesurteil, im besondern das des Zweikampfes. Die Strafen waren Bußen, d. i. Geldstrafen. Mord kam nicht vor Gericht. Der Mord erzeugte die Pflicht der Rache für die Verwandten, aber der Mord des Rächers erzeugte neue Rachepflicht. Um so einem endlosen Morden vorzubeugen, sind schon früh Formen ausgebildet worden, in denen dem Morde Sühne geschafft werden konnte. Der Staat begann so der Rache Schranken zu ziehen, namentlich die verletzte Familie zu zwingen, die vom Thäter gebotene Sühne anzunehmen. Doch fallen davon nur die Anfänge in diese Periode. -
Vgl. Gaupp, Die german. Ansiedelungen und Landteilungen in den Provinzen des röm. Westreiches (Bresl. 1844);
L. Lindenschmit, Handbuch der deutschen Altertumskunde (Bd. 1, Braunschw. 1880-90);
J. ^[Jakob] Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer (Gött. 1828; 3. Ausg. 1881);
Germanisches
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte
(neue Aufl., 8 Bde., Kiel
[* 25] 1874-85);
Weinhold, Altnordisches Leben (Berl. 1856);
Germanisches
Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. (2 Bde., Lpz.
1880-81).
(Vgl. auch die Bd. 5, S. 44 a angeführte Litteratur.)