Germanen
oder Garmanen ist ein kelt.
Name und bedeutet wahrscheinlich Grenznachbarn. Zwei kelt.
Völker führten diesen
Namen, einerseits ein kleines Völkchen im südl.
Spanien,
[* 3] andererseits eine Gruppe belg.
Völker an der mittlern Maas (Tungri,
Eburones, Caerosi, Condrusi, Segni, Paemani). Von diesen vermutlich im 2. Jahrh.
v. Chr. aus Westfalen
[* 4] und der heutigen rechtsrhein.
Rheinprovinz
[* 5] eingewanderten kelt.
Stämmen übertrugen die
Kelten den
Namen Germanen
auch auf ihre weitern Grenznachbarn jenseit des
Rheins, die nachmaligen
Deutschen, welche die Sitze der belgischen Germanen
eingenommen hatten, und weiterhin auf die
Vorfahren der
Deutschen überhaupt.
Zwischen 90 und 73
v. Chr. wurde den
Römern der
Name in dieser Anwendung bekannt. Sie griffen ihn auf zur
Bezeichnung des großen Volk
sstammes, den man noch heute Germanen
nennt, nämlich der
Vorfahren der
Deutschen, Friesen, Engländer
und Skandinavier. Der griech. Geographie waren die Germanen
als besonderer Volk
sstamm
noch unbekannt geblieben; man wußte sie von den
Kelten nicht zu scheiden oder bezeichnete sie als Skythen.
Erst
Cäsar erkannte mit Sicherheit den sprachlichen und ethnogr.
Gegensatz der
Kelten und Germanen
, wenn auch noch spätere Geographen und Geschichtschreiber (wie einige Gelehrte der Neuzeit)
beide Volk
sstämme nicht streng auseinander gehalten haben. In der That ist kein Zweifel, daß die ein besonderes
Volk für
sich bilden, mit seiner besondern Eigenart und
Sprache.
[* 6] Die
vergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrh.
hat den
Beweis geführt, daß die
Sprache der Germanen
zwar der der
Kelten verwandt ist, aber dieser nicht näher steht als der
Sprache
der
Römer,
[* 7] Griechen,
Perser,
Inder,
Slawen und Litauer.
Alle diese
Völker sind nach Ausweis ihrer
Sprache
Glieder
[* 8] der großen indogerman. Völkerfamilie (s.
Indogermanen).
Wann und wo sich die Germanen
von dem indogerman. Urvolk
losgelöst haben, läßt sich nicht mehr ermitteln. Als
älteste
Heimat der Germanen
läßt sich nur das
Flußgebiet der Oder und Weichsel bestimmen. Westlich der
Elbe sowie in Süddeutschland,
Böhmen
[* 9] und Mähren haben mindestens bis zur Mitte des ersten Jahrtausends
v. Chr. kelt.
Stämme gesessen
und zwar in den
Niederlanden, in der Rheinprovinz, in Westfalen und Hannover
[* 10] belg.
Stämme, in Mitteldeutschland wolkische
Stämme (Volcae).
Allmählich sind diese weiter westwärts gewandert und die Germanen
haben im Laufe der zweiten Hälfte des ersten
Jahrtausends
v. Chr. teils friedlich die von jenen verlassenen Sitze östlich des Rheins und nördlich
der Donau eingenommen, teils haben ihre Waffen
[* 11] die
Kelten zurückgedrängt. Um 325
v. Chr. fand der griech. Forschungsreisende
Pytheas (s. d.) Germanen
bereits an der Elbemündung vor. Während als
Vorläufer der Goten die
Basternen
(Bastarner) und
Skiren bereits zu Beginn des 2. Jahrh.
v. Chr. von Galizien
aus an das
Schwarze
Meer vordrangen und die
Cimbern und
Teutonen zu Ausgang des 2. Jahrh.
v. Chr. von der Nordseeküste nach
Frankreich
und Oberitalien
[* 12] zogen, erfolgte der Hauptvorstoß der in südwestl.
Richtung. Um die
Mitte des 1. Jahrh.
v. Chr. drangen die Germanen
über den Rhein vor, und nur
Cäsars taktische
Erfolge, insbesondere sein entscheidender
Sieg über
Ariovist (s. d.) verhinderten, daß sich die Germanen
dauernd in
Gallien als
Herren niederließen. Seitdem gelang es der röm. Kriegskunst drei Jahrhunderte lang die Germanen
auf
die Wohnsitze östlich des Rheins und Neckars zu beschränken. Nachdem der
Plan der Unterwerfung der Germanen
durch
die
Schlacht im
Teutoburger
Walde gescheitert war, mußten sich die
Römer auf die Verteidigung der Rhein- und Donaulinie beschränken
und errichteten vom rechten Rheinufer bis zur obern Donau einen großartigen durch Kastelle geschützten Grenzwall (limes),
den sog.
Pfahlgraben (s. d.). Diesen dauernd zu durchbrechen gelang den Germanen
erst
im 3. Jahrh. n. Chr. und seitdem nahmen sie allmählich
das linke Rheinufer in
Besitz und breiteten sich über das ganze europ. Römerreich bis nach
Afrika
[* 13] hin aus. (S.
Völkerwanderung.)
Nachdem die Germanen
die
Erben der röm.-christl. Kultur geworden waren, vermochten sie ihr Volkstum
und ihre
Sprache nur da zu bewahren,
wo sie in größern
Massen angesiedelt waren, nämlich, von
Skandinavien abgesehen, in
Deutschland
[* 14] und England.
Sonst sind sie romanisiert worden. Andererseits haben sie innerhalb ihres engern Gebietes sich die unterworfenen Reste der
Kelten und
Romanen assimiliert (s.
Deutsches Volk 3, Bd. 5, S. 95 a). Die Nordgermanen
besaßen
ursprünglich nur die dän.
Inseln und die südl.
Küsten von
Schweden
[* 15] und
Norwegen und haben erst allmählich
die finnisch-lappischen Urbewohner
Skandinaviens in den hohen Norden
[* 16] zurückgedrängt.
(Über die Ausbreitung der
Deutschen s.
Deutsches Volk 4, Bd. 5, S. 96 a.)
Auch auf die roman. Nationen haben die Germanen einen bestimmenden Einfluß ausgeübt,
die
Franken und
Normannen auf die Nordfranzosen, die
Burgunden auf die Südfranzosen, die Westgoten auf die
Spanier, die
Sweben
auf die Portugiesen, die
Ostgoten und die Langobarden auf die
Italiener.
Solange es für das deutsche Volk noch keinen Namen gab (s. Deutsch), nannten es die der antiken Bildung teilhaftigen Gelehrten und Staatsmänner wohl Germanen, und bis auf den heutigen Tag wird der Name noch zuweilen in diesem engern Sinne gebraucht (engl. German). Im allgemeinen aber ist es jetzt feststehender Sprachgebrauch, die Deutschen (einschließlich der Niederländer), Friesen, Engländer und Skandinavier unter dem Namen Germanen zusammenzufassen. Diese Anwendung des Namens ist eine gelehrte.
Das in vorgeschichtlicher Zeit vereinigte Volk hat sich selbst nie so genannt. Denn bereits zur Zeit, als die in die Geschichte eintraten, im 1. Jahrh. v. Chr., waren sie in verschiedene Stämme gespalten, jeder mit einem besondern Namen, und jeder Stamm fühlte sich als ein Volk für sich. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit war den Germanen damals schon abhanden gekommen, trotzdem sie alle dieselbe Sprache redeten und an dieselben Götter glaubten. Erst als die Völkerwanderung ihnen die röm. Welt eröffnete, deren Herren sie wurden, finden sich bei geistig hochstehenden german. Staatsmännern Spuren des Bewußtseins eines über dem Stammesbewußtsein stehenden Germanentums. Das ging jedoch nicht weiter und fand politisch ebensowenig Ausdruck, wie etwa heutzutage von einem Schweden, Norweger, Dänen, Engländer, Niederländer und Deutsche [* 17] umfassenden german. Nationalbewußtsein, einem Pangermanismus die ¶
0862a Germanien [* 19] im 2. Jahrhundert nach Christus ¶
mehr
Rede sein kann; in dieser Beziehung könnte man besonders die verwandtschaftlichen Sympathien der deutschen Nordseeschiffer, zumal der Hamburger, für die Engländer vergleichen.
Heute giebt es drei große german. Volk
sstämme ^[richtig: Volksstämme:] die mit finn.-lappischen Stämmen vermischten Skandinavier
oder Nordgermanen (zerfallend in Schweden, Dänen, Norweger und Isländer);
die mit den kelt. Britten (Kymren, Schotten und Iren) vermischten Engländer und die mit romanisierten Kelten (in West- und Süddeutschland) und Slawen (in Ostdeutschland) vermischten Deutschen, zu denen auch die Niederländer gehören und denen sich die Friesen assimiliert haben.
Diese Dreiteilung hat sich durch die geschichtlichen Verhältnisse der german. Völkerwanderung herausgebildet. Vor derselben zerfielen die in zwei besondere große Gruppen: die Westgermanen (Deutsche, Friesen und Engländer) einerseits und die Ost- und Nordgermanen andererseits. Von den westgerman. Stämmen sind nur die nach Italien [* 21] gewanderten Langobarden gänzlich romanisiert worden. Die ostgerman. Gruppe existiert heute nicht mehr: die ihr angehörenden Goten, Gepiden, Rugier, Vandalen und Burgunden sind in den roman. Nationen aufgegangen.
Die Grenze zwischen West- und Ostgermanen bildete zu Beginn unserer Zeitrechnung etwa die Wasserscheide der Elbe und Oder. Beide Hauptstämme unterschieden sich schon zu Beginn unserer Zeitrechnung nicht unerheblich durch ihre Mundart, ihre Kleidung und Bewaffnung, ihre Bauart, Verfassung u. a. m. Wichtiger noch war der Unterschied, daß die Westgermanen dem Bereich der röm. (vor Cäsar der kelt.) Kultur angehörten, die Ostgermanen aber unter dem Einfluß der griech. Kultur standen.
Die letztere Einwirkung ist durchgreifender gewesen, weil die Handelsbeziehungen der griech. Kaufleute in Olbia (heute Odessa), [* 22] welche den ostpreuß. Bernstein [* 23] von den Goten bezogen, in eine ältere Zeit hinaufreichen. So finden wir denn, daß im 5. und 6. Jahrh. n. Chr. die ostgerman. Goten und die ihnen stammverwandten Völker gesitteter waren, geistig höher standen und empfänglicher waren, die antike Bildung in sich aufzunehmen, als die wildern und rohern westgerman. Stämme. Über die einzelnen west- und ostgerman. Stämme und ihre Wohnsitze sowie über die Abgrenzung der Skandinavier von den Ostgermanen s. Westgermanen und Ostgermanen. Über öffentliche und private Zustände vgl. Germanisches Altertum.
Körperliche Merkmale der Germanen sind blondes Haar [* 24] und blaue Augen und ein größerer und kräftigerer Körperwuchs als bei den Mittelmeervölkern. In Deutschland ist der blonde Typus entschieden der vorherrschende, besonders in Norddeutschland, am geringsten im Oberelsaß und in Ostbayern. Die Blondheit der Skandinavier ist noch kein Beweis der Reinheit der Rasse, weil auch die Finnen flachsblond sind. In Britannien läßt sich noch vielfach der hochgewachsene blonde Angelsachse von dem kleinen und dunkeln anglisierten Kelten scheiden.
Ähnlich in Deutschland (s. Deutsches Volk 2 und 3, Bd. 5, S. 94 b und 95 a). Im allgemeinen aber überwiegen Mischformen. Hinsichtlich der Schädelform scheint sich die Rasse verändert zu haben. Wenigstens haben die Friesen, die nebst den Dänen von allen german. Stämmen sich am reinsten erhalten haben, nach neuern Messungen meist mittelköpfige Schädel, die obendrein noch zur Kurzköpfigkeit hinneigen und sehr niedrig sind: das gerade Gegenteil von den langköpfigen Schädeln der fränk. und alamann.
Reihengräber aus der Zeit der Völkerwanderung. Während bei den Friesen auf 100 Schädel 51 Mittel-, 31 Kurz- und nur 12 Langköpfe kommen, hat man berechnet, daß unter 100 dän. Schädeln 57 Lang-, 37 Mittel- und 6 Kurzköpfe sind. In Deutschland herrscht im Norden der mittelköpfige Typus vor mit Neigung zur Langköpfigkeit, im Süden der kurzköpfige. (S. Deutsches Volk 3.) Wahrscheinlich repräsentiert schon der Urgermane und selbst der Urindogermane keinen anthropologisch reinen Rassentypus, sondern einen Mischtypus.
Vgl. J. ^[Johannes] Ranke, Somatisch-anthropol.
Beobachtungen (in A. Kirchhoffs «Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung», S. 329-380, Stuttg. 1889).
Wie viele Menschen heute rein german. Abstammung sind, läßt sich auch nicht annäherungsweise mehr bestimmen. Jedenfalls ist die Zahl der Entgermanisierten unvergleichlich geringer als die der Angehörigen anderer Nationen, welche eine german. Sprache angenommen haben, besonders wenn man an die Ausbreitung der engl. Sprache denkt. (S. Germanische Sprachen.)
Litteratur. K. Zeuß, Die Deutschen und die Nachbarstämme (Münch. 1837);
J. ^[Jakob] Grimm, Geschichte der deutschen Sprache (2 Bde., Lpz. 1848; 4. Aufl., ebd. 1880);
Ch. Brandes, Das ethnogr.
Verhältnis der Kelten und Germanen (ebd. 1857);
H. Künßberg, Wanderung in das german. Altertum (Berl. 1861);
Germanen Weber, Germanien in den ersten Jahrhunderten seines geschichtlichen Lebens (ebd. 1862);
Watterich, Der deutsche Name Germanen und die ethnogr.
Frage vom linken Rheinufer (Paderb. 1870);
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde (Bd. 1-3 und Bd. 5, Berl. 1870-92; Bd. 1, 2. Aufl., ebd. 1890);
L. Erhardt, Älteste german. Staatenbildung (Lpz. 1879);
Germanen Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. (2 Bde., ebd. 1880-81);
W. Arnold, Deutsche Urzeit (3. Aufl., Gotha [* 25] 1881);
Dahn, Geschichte der deutschen Urzeit (2 Bde., Gotha 1883-88);
K. Lamprecht, Deutsche Geschichte (Berl. 1891 fg.);
R. Much, Deutsche Stammsitze.
Ein Beitrag zur ältesten Geschichte Deutschlands [* 26] (Halle [* 27] 1892).
(S. auch Germania [* 28] und Germanisches Altertum.)