Gemmi
(Kt. Wallis, Bez. Leuk u. Kt. Bern, Amtsbez. Frutigen). 2329 m. Passübergang, zwischen den Plattenhörnern (2622, 2848. 2859, 2837 m; Ausläufer des Rinderhorns) und dem Daubenhorn (2952 m; osö. Vorberg des Wildstrubel), in der Hauptkette der Berner Hochalpen. Verbindet die Station Leuk-La Souste der Simplonbahn über Leukerbad und Kandersteg mit der Endstation Frutigen der Thunerseebahn (Spiez-Frutigen); Strecke Leukerbad-Kandersteg 14 km = 5½ Stunden.
Gute Fahrstrassen von Leuk bis Leukerbad und Frutigen bis Kandersteg, Saumweg zwischen Leukerbad und Kandersteg. Vom grossen Dorf Leukerbad aus zieht der Saumweg zunächst durch Alpweiden, steigt über Schutthänge an und erreicht dann den Fuss der mächtigen, scheinbar unzugänglichen Felswand, über welcher sich die Passhöhe öffnet. Zuerst geht es im Zickzack durch eine wilde Schlucht aufwärts bis zu einer etwa in halber Höhe im Felsen befindlichen Höhle, an der noch die letzten Ueberreste einer Leiter hängen und die entweder als ehemalige Einsiedelei, als Zufluchtsort, oder auch als Zoll- oder Aufsichtsposten gedeutet wird; von da an kommen zunächst zahlreiche in den Fels gehauene hehren, dann einige schmale Rasenbänder, neuerdings Felswand, darauf eine einstige Schutzhütte und endlich die Passhöhe, auf der der Gasthof Wildstrubel steht.
Dieser früher nur selten von Touristen begangene Pfad ist seither bedeutend verbessert und an manchen Stellen sogar mit Ruhebänken versehen worden. Ein ziemlich merkwürdiges altes Reglement enthält die Bestimmungen für den Transport von nicht marschfähigen Reisenden im Tragsessel auf der Walliser Seite des Passes zwischen Leuk und Passhöhe und schreibt u. A. vor, dass für jede Person über 10 Jahren 4 Träger notwendig seien, die aber bei einem grössern Körpergewicht des zu Tragenden auf 6 und bei ganz ausserordentlich schweren Personen auf Anordnung der Behörde bis auf 8 Träger im Maximum vermehrt werden müssten. Ferner war es verboten, während des Abstieges von der Passhöhe bis zum Fuss der grossen Felswand auf dem Maultier zu reiten. Der Gasthof auf der Passhöhe (mit Postablage) ist zur Zeit der Hochsaison oft vollständig besetzt, da er ausgezeichnete und bequeme Gelegenheit zu einer Reihe von Hochtouren bietet (Besteigung von Wildstrubel, Schneehorn, Rinderhorn und Balmhorn; Uebergang über das Lämmernjoch zur Lenk und über Tierhörnlipass, Rote ¶
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Kumme, Ueschinenthäligletscher und Engstligengrat nach Adelboden; dieser letztgenannte Weg ist in neuester Zeit beträchtlich
verbessert worden, erfordert für die Strecke Hotel Wildstrubel-Adelboden 5 Stunden und wird seiner wiederholt sich bietenden
prachtvollen Aussicht wegen stark begangen). In dem auf der nördlichen Abdachung der Gemmi
eingeschnittenen Hochthälchen
in grossartig wilder Lage der 1,8 km lange kleine Daubensee (2214 m). W. der Passhöhe öffnet sich das
vom Lämmerngletscher (SO.-Hang des Wildstrubel) herabsteigende und vom Lämmernbach (Zufluss zum Daubensee) entwässerte kleine
Lämmernthal.
Von der Passhöhe an wendet sich der Gemmiweg
, im SO. von den Plattenhörnern und vom Rinderhorn überragt, nach NO., folgt
dem O.-Ufer des Daubensees, geht an dem über einem kleinen See stehenden Gasthaus Schwarenbach vorbei,
steigt dann ab, überschreitet die hier weit nach N. übergreifende Kantonsgrenze des Wallis
und durchzieht der Länge nach die
von den Gletscherlawinen der Altels (besonders 1895) schrecklich verwüstete grosse Alpweide der sog. Spitalmatte.
Nachdem der Weg, weiterhin hoch über dem linken Ufer des Schwarzbaches sich haltend, den Punkt Zum Stock
erreicht hat, öffnet sich von rechts das zwischen die gewaltigen Felswände des Balm- u. Doldenhorns tief eingeschnittene
Gasterenthal; endlich steigt man «In den Kehren» über eine Reihe von Strassenschlingen rasch zum breiten Thalboden von Kandersteg
ab, der weithin mit zahlreichen Häusern und Hütten übersät ist. Hier endigt der eigentliche Gemmiweg
,
der nun von der thalauswärts führenden Strasse abgelöst wird.
Die Gemmi
ist ein sehr alter Passweg und soll nach Heierli schon in der Bronzezeit begangen worden sein. Der Name erscheint
in der Form «Curmilz» zum erstenmal in einer Urkunde
von 1252, die das zwischen der Stadt Bern und dem Bischof von Sitten geschlossene Bündnis betrifft und unter anderem bestimmt,
dass alle ausgebrochene discordia (Meinungsverschiedenheit) in plano de Curmilz (Gemmi
)
sive in Senenz (Sanetsch) geschlichtet
werden solle. Daraus folgt, dass damals schon die Grenze des Wallis
nach N. bis zur heutigen Spitalmatte übergegriffen
hat. (Vergl. Gremaud, Jean. Documents relatifs à l'histoire du Valais I in Mémoires et docum.; p. p. la Soc. d'hist. de la
Suisse rom. vol. 29; ferner Fontes rerum Bernensium. Vol. II).
Vermutlich war auch schon zu jener Zeit die Spitalmatte mit Leuk und dem Rhonethal durch einen Weg verbunden.
In einer eine Grenzstreitigkeit zwischen den Gemeinden Leuk und Frutigen betreffenden Urkunde von 1318 ist die Rede von einem
auf Boden von Leuk stehenden hospitale (Hospiz) in monte de Curmyz. (Vergl. Gremaud. A. a. O. III, Vol. 31). Dieser alte Name
Curmilz oder Curmyz ist vom latein. culmen (= Gipfel, Höhe) herzuleiten und wurde von den Bewohnern von
Les Bois (dem heutigen Leukerbad) der Gesamtheit der das Thal im N. abschliessenden Bergmassen beigelegt. Als «Gemmi»
erscheint
der Pass schon auf der von dem Zürcher Konrad Türst 1495-97 hergestellten Schweizerkarte mit dem Vermerk: gat
ganz hin uf bis uf die höche der Gemmi
, aber wohl XI M. Schritt. Die Karte von Aegidius Tschudi (1538) nennt ihn die Gämmi.
In seiner Cosmographia universalis (ed. lat. 1550) sagt Sebastian Münster: Ab oppido quoque Leuck, per thermas Leucenses,
via est valde frequens versus Bernam.
Mons quem trajicere oportet est altissimus, quem Gemmi
vocant, de quo infra copiosius, quia hune
ipsum ascendi. (Deutsche Ausgabe 1598: Es hat auch ein starcken Passz von Leuck neben dem Leucker Bad auff Bern,
uber den Berg Genuni
genannt, von dem ich hie unden sagen will, dann ich bin jhn auffgestigen). Und später bei Anlass der
Schilderung seines Ueberganges über den Pass von Leukerbad aus: Undique fere consurgunt in coelum montes et horrenda saxa,
qui locum istum sic claudunt, ut nullibi pateat exitus sine ingenti labore et sudore, praeterquam ad oppidum Leug, ut jam
diximus, ad quod inter montes lenis et perpetuus est descensus. Ad occidentem thermarum eri-
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guntur saxa in coelum, quae sine mentis stupore, ob eorum altitudinem, praecipitia et scissuras inspici nequeunt. Aliqua
etiam sic hiant perinde ac si minentur ruinam, oppressura omnia quae sunt in subjecta planicie. Retorquentur autem ab occidente
in septentrionem, suntque intercisa magnis hiatibus et scissuris, per quos iter est inventum, auf magis
hominum labore factum, per quod magno sudore et labore ascenditur, vocaturque eo loco saxosus ille mons Gemmi.
Ascendit iter
recta in altum in modum fere cochleae, habens perpetuas ambages et flexuras parvas ad laevam et dextram, estque iter valde
angustum et periculosum, maxime ebrijs et his qui vertigine Laborant.
Quocunque enim demittuntur oculi, apparet chaos immensae profunditatis, quam egre etiam intueri possunt hi qui robustiori
sunt capite. Gerte ego non ascendi hunc montem citra tremorem ossium et cordis. (Deutsch: ... Gegen Mitnacht kehren sich
die Felsen herumb, haben viel schrunden und enge Klüfften, durch welche ein Weg gefunden ist, in dem
man mit grosser müh hinauff kommen mag, und heisst der Feiss am selbigen ort der Gemmi.
Dieser Weg geht nicht stracks hinauff,
dann es were unmüglich solcher weiss zuersteigen, sondern krümpt sich hin und wider zur Lincken und zur Rechten mit kleinen
unnd gantz schmalen Gängen: so einer neben dem Weg hinab siehet, kompt jhm ein grawsame tieffe entgegen,
die kaum ohn schwindel des Haupts mag angeblickt werden. Ich weiss wol da ich auss dem Bad auff den Berg stig, den zu besichtigen,
zitterten mir mein Hertz und Bein).
Johannes Stumpf beschreibt in seiner Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Chronik (Zürich
1548) die Gemmi
wie folgt:
Es ist ein vast hoher und grausamer berg, doch zimlich wandelbar, also dass man mit Rossen darüber wol faren mag. Ganz im
Sinne seiner Zeit leitet der Zürcher Josias Simler in seiner Vallesiæ Descriptio (1574) den Namen der Gemmi
a gemitu, d. h.
von dem Gestöhne und den Seufzern derjenigen her, die diesen hohen und mit beständigen Gefahren drohenden
Pass übersteigen müssen; er fügt hinzu, dass Alle, die an solche Abgründe nicht gewöhnt seien, beim Aufstieg zu
Pferd oculos propter vertiginem capitis velare coguntur. J. J. Scheuchzer, der die Gemmi
1705 und 1709 überschritt, hat
mehrere Ansichten des Passweges gezeichnet und veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass der ursprüngliche Weg nicht über
die nö. von der Gemmi
gelegene sog. Alte Gemmi
führte (wie dies eine alte Ueberlieferung will).
Diese Ansicht wird bestätigt durch die von Rev. W. A. B. Coolidge in der Walliser Monatsschrift veröffentlichten Originalberichte über die vorgenommenen Wegverbesserungen, die u. a. auch erzählen, dass der Weg so schlecht gewesen sei, dass ein Pferd nur eine halbe Last (un demi-voyage) über den Pass zu tragen vermocht habe und dass jede über den Pass getriebene Kuh von einem Manne habe begleitet werden müssen. Im Jahre 1739 entschloss man sich, den Weg zu verbessern, zu welchem Zwecke zunächst im ganzen Wallis freiwillige Gaben gesammelt wurden. Da der erste Unternehmer, der Tiroler Anton Lang, den an ihn gestellten Anforderungen nicht Genüge leistete, wurde er noch im gleichen Jahr 1739 durch seinen Landsmann Christ. Rudolph ersetzt. 1740 arbeiteten an dieser Wegkorrektion beständig je 55-80 Mann, doch zog sich deren Vollendung des schlechten Wetters wegen bis 1741 hinaus. 1742 und 1743 folgten noch einige kleinere Ergänzungsarbeiten; 1742 baute man das Wirtshaus Schwarenbach, das schon am durch eine Lawine zerstört, aber an anderer Stelle sofort wieder durch einen Neubau ersetzt wurde.
Wenig n. vom Gasthaus Schwarenbach liegt die grosse Alpweide der Spitalmatte, die am und neuerdings am durch ungeheure Eislawinen von der Altels her schrecklich verwüstet worden ist. Am Abstieg gegen Leuk bezeichnet ein an der Felswand stehendes Steinkreuz die Stelle, wo 1861 die Baronin d'Herlincourt in den Abgrund gestürzt ist. Früher pflegten sich die Bewohner der umliegenden Thalschaften auf der Passhöhe zeitweise zur Abhaltung von Ringkämpfen und anderen Belustigungen zu versammeln.
Von besonderem Interesse ist die Gemmi
auch in geologischer Beziehung. Hier steigt die zunächst nach S. abtauchende Muldenbiegung
der Wildstrubelfalte wieder auf, lässt den tertiären Muldenkern zu Tage anstehen und geht auf die n.
Flanke der Kette über. Damit überkippt die Falte an der n. Abdachung des kristallinen Finsteraarmassives, das vom Lötschenpass
an die ursprüngliche sedimentäre Decke überlagert und gegen O. zu mehr und mehr ansteigt. Die Erosion hat dann aus
den wenig widerstandsfähigen Schichten des Muldenkerns die Senke der Gemmi
derart herausgearbeitet, dass der den Pass im
NW. begleitende Kamm aus dem Neocom des Gewölbeschenkels, der SO.-Grat dagegen aus der Schichtenreihe des Muldenschenkels
(Neocom, Jura und Trias) besteht. Das Ganze ruht auf kristalliner Unterlage und ist stark zerknittert und vielfach
gefaltet.
Gegen Ende Juni bedeckt sich die Passsenke der Gemmi
, namentlich die Strecke zwischen Schwarenbach und dem Hotel Wildstrubel,
mit einem prachtvollen Blumenteppich, dem eine grosse Anzahl von alpinen Pflanzenarten eingewoben sind. Von deren bemerkenswertesten
nennen wir Anemone baldensis, Ranunculus parnassifolius, Lychnis alpina, Salix caesia und S. myrsinites, Crepis pygmaea,
Alsine laricifolia, Oxytropis lapponica. Alle diese sonst der S.-Kette eigenen Arten finden sich hier, weil die klimatischen
Verhältnisse auf der Gemmi noch unter dem Einfluss derjenigen des Rhonethales stehen.
[Eug. De La Harpe.]