Gelenkrheu
matismus,
s. Rheumatismus.
Gelenkrheumatismus
2 Seiten, 1'621 Wörter, 12'439 Zeichen
Medicin — Specielle Pathologie — Knochen- und Muskelkrankheiten
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Gelenkrheumatismus,
s. Rheumatismus.
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Gelenkrheumatismus
(Rheumatismus articulorum, Rheumarthritis) nennt man alle diejenigen entzündlichen Gelenkaffektionen, die durch sog. rheumatische Einflüsse, d. h. durch direkte Einwirkung von Kälte, Nässe und Zugluft auf die äußere Haut [* 2] hervorgerufen werden. Man teilt die rheumatischen Gelenkkrankheiten in mehrere Gruppen, die sich wesentlich durch ihren Krankheitscharakter, Sitz und Verlauf sowie durch ihre Symptome und Komplikationen voneinander unterscheiden.
1) Der akute fieberhafte Gelenkrheu
matismus, die Fliegende Gicht oder das hitzige Gliederweh (Rheumatismus articulorum
acutus, Polyarthritis acuta) stellt eine fieberhafte, nicht selten langwierige Allgemeinerkrankung dar, die sich durch schmerzhafte,
oft von einem Gelenk zum andern überspringende Gelenkentzündungen sowie durch eine auffallende Disposition zur Miterkrankung
der serösen Häute des Körpers, vor allem des Herzens, zu erkennen giebt. Im frühesten Kindesalter und ebenso im Greisenalter
kommt der akute Gelenkrheu
matismus nur selten vor, am häufigsten werden Personen vom 15. bis zum 30. Lebensjahre von ihm befallen, und zwar
Männer nahezu gleich häufig wie Frauen, robuste und vollsaftige Menschen verhältnismäßig häufiger als schwächliche und
blutarme.
Wer die Krankheit einmal überstanden, wird besonders leicht, oft noch nach Jahren, von ihr wieder ergriffen.
Unter den Gelegenheitsursachen des akuten Gelenkrheu
matismus stehen Erkältungen obenan, insbesondere plötzliche
Abkühlungen des schwitzenden Körpers durch Zugluft oder kalten Regen, der längere Aufenthalt und namentlich das Schlafen
in feuchten Räumen, Arbeitslokalen, Neubauten u. dgl., und da die arbeitenden Klassen diesen Schädlichkeiten vorzugsweise
ausgesetzt sind, so werden sie auch häufiger als die wohlhabenden Stände vom hitzigen Gliederweh heimgesucht.
Nach den neuern Untersuchungen gewinnt es immer mehr den Anschein, als ob der akute Gelenkrheu
matismus auf einer Infektion mit niedersten Pilzkeimen
beruhte und somit zu den Infektionskrankheiten gehörte. Die meisten Erkrankungen fallen auf den Spätherbst und den Vorfrühling,
also auf die naßkalten und wechselnden Jahreszeiten,
[* 3] während im Sommer und Winter die Morbidität am
geringsten ist. Obwohl über die ganze Erde verbreitet, findet sich die Krankheit in den gemäßigten Klimaten doch häufiger
als in den heißen und den Polargegenden.
Bisweilen gehen dem Ausbruch des fieberhaften Gelenkrheu
matismus
einige Tage lang Vorboten voraus, die sich als allgemeines
Unbehagen, Abgeschlagenheit und Ziehen in den Gliedern, Frösteln und Appetitlosigkeit zu erkennen geben; in andern Fällen
fehlen solche Vorboten, und die Krankheit beginnt ganz unerwartet und plötzlich mit bald mäßigem, bald hohem Fieber, mit
Anschwellung und Schmerzen in einem oder gewöhnlich in mehrern Gelenken, und nicht selten erreichen diese
beiden Erscheinungen schon binnen wenigen Stunden eine bedeutende Höhe.
Solange die Kranken ruhig und unbewegt liegen, pflegt der Schmerz erträglich zu sein, aber jeder Versuch, das Gelenk zu bewegen, ja selbst die leiseste Berührung desselben steigert den Schmerz derartig, daß die Kranken oft laut aufschreien oder wimmern und sich nicht eher wieder beruhigen, als bis das Glied [* 4] wieder vollkommen ruhig und bequem gelagert ist. An den befallenen Gelenken ist zunächst nur eine ödematöse Schwellung der Weichteile, Hitze und meist leichte Hautrötung zu bemerken; an den größern Gelenken folgt dann gewöhnlich eine bald nur mäßige, bald beträchtliche Ausschwitzung in die Gelenkhöhle mit deutlich schwappendem Flüssigkeitserguß.
Der Grad der Gelenkschwellung und die Heftigkeit der Schmerzen stehen nicht immer in geradem Verhältnis; oft sind die Schmerzen äußerst heftig, während man die Anschwellung kaum bemerkt, und umgekehrt. Die großen Gelenke, namentlich die Knie-, Fuß-, Hand-, Ellbogen- und Schultergelenke, werden am häufigsten befallen, aber auch die kleinen Gelenke bleiben durchaus nicht verschont. Die tiefen und straffen Gelenke verursachen die quälendsten Schmerzen, so die Hüften, die Wirbelgelenke und die Schambeinfuge. Die Zahl der befallenen Gelenke ist verschieden; selten ist anfangs nur ein Gelenk ergriffen, meist sind es drei bis vier, in schweren Fällen sind mitunter fast alle Gelenke Sitz der Krankheit. Gewöhnlich werden neue, anfangs verschont gebliebene Gelenke von der Entzündung ergriffen, während die zuerst befallenen bereits in der Heilung begriffen sind.
Fast immer werden die Kranken von einer anhaltenden übermäßigen Schweißbildung befallen,die nicht selten ein ausgedehntes und lästiges Schweißfriesel auf der Haut hervorruft. Entsprechend dem Fieber und der vermehrten Schweißabsonderung ist der Durst der Kranken beträchtlich, ihre Harnsekretion sehr vermindert, der Harn selbst hochrot, stark sauer, beim Stehen einen reichlichen ziegelmehlartigen Niederschlag bildend. Die Verdauung ist fast immer gestört, der Appetit fehlt gewöhnlich gänzlich, die Zunge ist weiß oder gelblich schleimig belegt, der Geschmack pappig, bisweilen gallig; öfters ist Brechneigung und fast regelmäßig Stuhlverstopfung vorhanden.
Unter den Komplikationen des akuten Gelenkrheu
matismus stehen hinsichtlich ihrer Häufigkeit und Gefährlichkeit die Entzündung des Herzfleisches,
der innern Herzhaut und des Herzbeutels obenan, die entweder an sich direkt lebensgefährlich werden oder dauernde schwere
Folgezustände, insbesondere chronische Herzklappenfehler, hinterlassen können. (S. Herzentzündung.)
Mitunter treten im Verlaufe eines akuten Gelenkrheumatismus
auch schwere Hirnsymptome, wie Delirien, Schlafsucht, Krämpfe, selbst vorübergehende
tobsuchtähnliche Anfälle auf, die einen tödlichen Ausgang der Krankheit herbeiführen können. Die Dauer des akuten Gelenkrheumatismus
beträgt
in leichtern Fällen etwa 14 Tage, in schwerern viele Wochen. Als günstige Zeichen
¶
sind das Aufhören des Fiebers, die Abschwellung der Gelenke, die Verminderung der Schweißbildung und eine normale Harnbeschaffenheit zu bezeichnen.
Die Behandlung des akuten Gelenkrheumatismus
verlangt, auch in den anscheinend leichten Fällen, vor allen Dingen
durchaus absolute Ruhe und Schonung der affizierten Gelenke durch Bettruhe, zweckmäßige Lagerung, nötigenfalls selbst Fixierung
durch leichte Pappwatteverbände, sowie gleichmäßigem Warmhalten durch leichte Umhüllungen mit Werg,
Watte, Flanellbinden u. dgl.; in manchen Fällen leisten zwar kalte Umschläge und Eisbeutel unleugbar gute Dienste,
[* 6] aber im
allgemeinen werden dieselben von den meisten Kranken weniger gut als die trockne Wärme
[* 7] vertragen.
Gegen übermäßige Schmerzen erweisen sich schmerzlindernde Einreibungen (Chloroformliniment, Ichtyol,
Petroleumäther, Elaylchlorür) sowie Einspritzungen von zweiprozentiger Carbolsäurelösung unter die Haut der Gelenkgegend,
unter Umständen auch die örtliche Anwendung der Elektricität und vor allem Morphiuminjektionen nützlich. Von den innern
Heilmitteln haben sich neuerdings die Salicylsäure, das salicylsaure Natron, das Antipyrin und Phenacetin als vortreffliche
Mittel gegen den akuten Gelenkrheumatismus
vielfach bewährt; auch das Salol und das Salipyrin,
das Exalpin und das salzsaure Phenocoll wirken oft günstig.
Solange das Fieber währt, ist eine entsprechend schmale Diät zu wählen (s. Fieber); als Getränk reicht man dem Kranken Wasser, Selters- oder Sodawasser, Citronenlimonade u. dgl. Wenn nach dem Schwinden der akuten Krankheitserscheinungen reichlichere Gelenkausschwitzungen zurückbleiben, so wende man Jodpinselungen, komprimierende Verbände, in hartnäckigen Fällen Massage an. Während der Genesung hüte sich der Kranke, das Bett [* 8] zu früh zu verlassen und vorzeitige Gehversuche anzustellen, da hierdurch leicht Rückfälle hervorgerufen werden. Überhaupt meide er nach überstandener Krankheit noch lange Zeit hindurch Erkältungen und übermäßige Anstrengungen, trage wollene Unterkleider, sorge für sonnige und trockne Wohn- und Schlafräume und suche sich allmählich und mit der gehörigen Vorsicht durch kalte Bäder und Abreibungen gegen die Witterungseinflüsse abzuhärten.
2) Der akute fieberlose Gelenkrheumatismus
(Monarthritis acuta rheumatica) ist eine durch rheumatische Einflüsse hervorgerufene, fieberlos
verlaufende, entzündliche Gelenkaffektion, die immer nur rein örtliche, keinerlei Allgemeinerscheinungen
verursacht, gewöhnlich nur ein Gelenk und zwar mit einer gewissen Vorliebe das Schulter-, Knie-, Fuß- oder Handgelenk befällt,
und unter dem Bilde einer einfachen Gelenkentzündung (s. d.) verläuft. Die Behandlung besteht im Fixieren des Gelenks durch
geeignete Verbände, in der Anwendung von trockner Wärme und von Hautreizen, im weitern Verlaufe im Gebrauch
der Massage und in vorsichtigen passiven Bewegungen.
3) Der chronische Gelenkrheumatismus
(Rheumatismus articulorum chronicus, Rheumarthritis chronica) stellt eine
sehr schleichende und langwierige, fieberlose, infolge rheumatischer Schädlichkeiten entstehende Gelenkentzündung dar, die
meist nur ein einzelnes oder nur eine geringe Zahl von Gelenken ergreift, nicht wie der akute Gelenkrheumatismus
von einem
Gelenk auf das andere überspringt und niemals Herzaffektionen zur Folge hat. Er entwickelt sich entweder durch Vernachlässigung
und unzweckmäßiges Verhalten aus den beiden vorigen Formen, oder tritt,
was das häufigere ist, von Haus aus als chronische
Entzündung auf.
Die Schädlichkeiten, welche den chronischen Gelenkrheumatismus
hervorrufen, bestehen nicht, wie
bei dem akuten, in einmaliger starker Abkühlung der Körperoberfläche, sondern meist in oft wiederholter Einwirkung von
Kälte oder Nässe auf den Organismus. Dem entsprechend kommt der chronische Gelenkrheumatismus
vorwiegend bei den
niedern Volksklassen vor und wird am häufigsten durch das Bewohnen kalter und feuchter Räume, durch Hantieren im
Wasser, Stehen auf feuchtem Boden u. dgl. hervorgerufen, weshalb Wasserarbeiter, Wasch- und Scheuerfrauen,
Tagelöhner, Dienstmädchen und verwandte Berufsklassen mit besonderer Vorliebe von der Krankheit heimgesucht werden.
Auch darin unterscheidet sich der chronische Gelenkrheumatismus
vom akuten, daß er nicht wie dieser das jüngere,
sondern im Gegenteil vorwiegend das höhere Lebensalter (vom 40. bis zum 60. Lebensjahre) befällt. Die
hauptsächlichsten Kennzeichen bestehen in mehr oder weniger heftigen, hinsichtlich ihrer Intensität sehr schwankenden Gelenkschmerzen,
welche bei rauher und stürmischer Witterung gewöhnlich ausfallend gesteigert werden, bei warmem und beständigem Wetter
[* 9] hingegen oftmals ganz verschwinden, in einer bald nur mäßigen, bald beträchtlichen Anschwellung der Gelenke,
einer gewissen Steifigkeit und Unbeholfenheit des betreffenden Gliedes, und bei längerm Bestehen des Leidens in gewissen Formveränderungen
der befallenen Gelenke, in denen man häufig infolge der Rauhigkeit ihrer Gelenkflächen bei Bewegungen ein knarrendes oder
knackendes Geräusch vernimmt. Auf das Allgemeinbefinden äußert der chronische Gelenkrheumatismus
meist keine nachteiligen
Wirkungen; manche Kranke ertragen ihr Leiden
[* 10] 20, selbst 30 Jahre hindurch bis zum Tode.
Bei der Behandlung des chronischen Gelenkrheumatismus spielen die Hautreize (Einreibungen mit spirituösen Mitteln, Jodtinktur, heiße Douchen u. dgl.) eine wichtige Rolle, deren Wirkung durch die Anwendung trockner Wärme (Einwicklung in Werg, Watte, Gichtpapier, Flanellbinden) wesentlich unterstützt wird. Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Anregung der Hautthätigkeit wie des gesamten Stoffwechsels durch warme Bäder, durch deren methodische Anwendung in vielen Fällen nicht nur Linderung der Schmerzen, sondern auch eine mehr oder minder vollständige Rückbildung der Gelenkverdickungen erzielt wird.
Die Bäder können als einfache Warmwasserbäder, Solbäder, Irisch-Römische und Russische [* 11] Dampfbäder angewendet werden; in hartnäckigen Fällen ist es dienlich, nach dem Bade die Hauttranspiration durch Einwicklung in wollene Decken zu steigern. Von den natürlichen Bädern haben die indifferenten Thermen von Teplitz, Gastein, Wildbad und Warmbrunn, die Schwefelbäder von Aachen [* 12] und Burtscheid, die Solbäder von Wiesbaden, [* 13] Kreuznach [* 14] und Reichenhall besondern Ruf. In hartnäckigen Fällen von chronischem Gelenkrheumatismus wirken oft auch Moorbäder und heiße Sandbäder vortrefflich. Auch die Elektricität, insbesondere der konstante Strom, wird häufig mit Vorteil gegen rheumatische Gelenkleiden benutzt, ebenso die Massage (s. d.). -
Vgl. Hartmann, Der akute und chronische Gelenkrheumatismus (Stuttg. 1874);
Pagenstecher, Gicht und Rheumatismus (3. Aufl., Lpz. 1888).