Titel
Gelenkentz
ündung
(Arthritis), die Entzündung der Gelenke und ihrer nächsten Umgebung, bietet hinsichtlich ihrer anatom. Eigentümlichkeiten, ihrer Intensität, ihres klinischen Verlaufs und ihrer Ausgänge die allergrößten Verschiedenheiten dar, je nachdem nur die Gelenkschleimhaut oder die Knochen [* 2] und Knorpel, [* 3] oder die Gelenkbänder, oder alle diese Teile zusammengenommen von der Entzündung ergriffen wurden.
Man unterscheidet deshalb gewöhnlich folgende Formen der Gelenkentz
ündung: 1) Die akute einfache oder seröse
Gelenkentz
ündung (Arthromeningitis oder Synovitis acuta serosa), deren Sitz vorwiegend die Synovial-
oder Gelenkschleimhaut ist und die mit einer gewissen Vorliebe die großen
Gelenke, namentlich das Knie-, Hüft-, Schulter-,
Fuß- und Ellbogengelenk befällt.
Ihre
Ursachen sind außerordentlich mannigfaltig. Zunächst sind es verschiedenartige örtlich
einwirkende mechan. Schädlichkeiten namentlich Quetschungen, Verstauchungen, Verrenkungen,
Wunden und andere Verletzungen der
Gelenke, die mehr oder minder schwere Gelenkentz
ündung zur Folge haben.
Weiterhin geben Erkältungen, insbesondere Durchnässungen und die Einwirkung von kalter Zugluft nach vorhergegangener Erhitzung
eine häufige
Ursache der akuten Gelenkentz
ündung ab; diese Form der Gelenkentzündung
nennt man meist die rheumatische.
(S.
Gelenkrheumatismus.) Auch manche Konstitutionskrankheiten, wie
Gicht,
Skrofulose,
Tuberkulose und
Syphilis, geben
in ihrem Verlaufe häufig Veranlassung zu heftigen
Entzündungen der Synovialschleimhaut. Ebenso kann der
Tripper unter Umständen
eine eigenartige Gelenkentz
ündung zur Folge haben. (S.
Tripper.)
Die Krankheit beginnt in der Regel mit Rötung und Schwellung der Gelenkschleimhaut, wozu sich sehr bald Schmerzen bei Bewegungen des Gelenks, ein mehr oder minder reichlicher Erguß von wässeriger seröser Flüssigkeit in die Gelenkhöhle und eine bald größere, bald geringere Anschwellung der ganzen Gelenkgegend gesellen; wird der Erguß bedeutend, so entsteht hierdurch das eigentümliche Gefühl der Schwappung oder Fluktuation im Gelenk. Fieber kann vorhanden sein, kann aber auch fehlen.
Reibung

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Reibung.
Wenn der Flüssigkeitserguß in die Gelenkhöhle nur gering ist, so fühlt und hört man häufig
bei
Bewegung des
Gelenks oder bei Druck auf dasselbe ein deutliches Knarren oder Knirschen, das durch die gegenseitige Reibung
[* 4] der rauhen Gelenkflächen zu stande kommt. Die Ausgänge dieser akuten serösen
Entzündung sind sehr verschieden; entweder
tritt vollständige
Heilung ein, indem die ergossene Flüssigkeit wieder aufgesaugt wird, oder die
Krankheit
geht in die chronische
Gelenkwassersucht (s. d.) über, oder sie führt zu tiefer greifenden Zerstörungen
der Gelenkknorpel, zur Verwachsung der Gelenkflächen und damit zu dauernder Gelenksteifigteit (s. d.),
oder endlich sie geht in akute eiterige Gelenkentz
ündung über und kann wie diese durch fortgesetzte
Eiter- und Säfteverluste
das Leben gefährden.
2) Die akute eiterige Gelenkentzündung
(Arthromeningitis oder Synovitis acuta prorulenta), auch wohl als Gelenkempyem
oder als
Gelenkeiterung
(Arthropyosis, Pyarthros) bezeichnet, entwickelt sich entweder durch Vernachlässigung und andere ungünstige
Umstände aus der vorigen oder tritt gleich von Anbeginn an als eiterige
Entzündung im Verlaufe schwerer
Infektionskrankheiten,
namentlich der Pyämie, des
Kindbettfiebers, der
Pocken,
Masern, des
Scharlachs und des
Typhus, auf; auch
kann jede
Gelenkwunde (s. d.), wenn der atmosphärischen Luft mit ihren Fäulniserregern
der Zutritt zur Gelenkhöhle offen steht, schwere, selbst lebensgefährliche
Gelenkeiterungen zur Folge haben.
Gelenkentzündung

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Seite 57.732.Die Symptome sind ungleich bedrohlicher als bei der serösen Form. Unter mehr oder weniger hohem Fieber, selbst Schüttelfrösten, wird das Gelenk außerordentlich schmerzhaft, sodaß der Kranke bei der geringsten Bewegung laut aufschreit, die Haut [* 5] über dem Gelenk ist gerötet, teigig angeschwollen und hinterläßt bei Fingerdruck eine seichte Grube; im weitern Verlauf tritt entsprechend der meist reichlichen Eiteransammlung in der Gelenkhöhle eine auffallende Anschwellung der ganzen Gelenkgegend hinzu, und frühzeitig pflegen sich gewisse eigentümliche fehlerhafte Stellungen der Gelenke auszubilden. Gewöhnlich hält der Kranke das entzündete Gelenk ängstlich in einer sog. Mittellage, d. h. in halber Beugung, [* 6] bei welcher die um das Gelenk herumliegenden Bänder und Muskeln [* 7] ¶
mehr
sich im Gleichgewicht [* 9] befinden und so die Spannung und damit auch der Schmerz am geringsten ist, und jeder Versuch, diese Lage zu verändern, ruft die heftigsten Schmerzen und krampfhafte Muskelkontraktionen hervor. So können Fieber, Schmerzen und Schlaflosigkeit wochenlang andauern und die Kräfte des Kranken auf das äußerste erschöpfen. Bei guter Konstitution und günstigen Verhältnissen tritt schließlich doch noch Genesung ein, indem der in der Gelenkhöhle angesammelte Eiter allmählich resorbiert wird.
Bei ungünstigem Verlauf dagegen kann der Eiter die Gelenkkapsel und die umgebenden Weichteile durchbohren, sich einen Weg
nach außen bahnen (sog. Gelenkabsceß) und langwierige erschöpfende Säfteverluste zur Folge haben oder
ausgedehnte Zerstörungen der knöchernen Gelenkteile verursachen und durch eintretende Eitervergiftung des Blutes das Leben
des Kranken auf das höchste bedrohen. Solchen übeln Ausgängen der eiterigen Gelenkentzündung
läßt sich häufig
nur durch rechtzeitige Vornahme chirurg. Eingriffe, insbesondere der operativen Entfernung der erkrankten Gelenkenden, vorbeugen.
(S. Resektion.) Die schwersten Formen der akuten Gelenkeiterung sind die akuten (septischen) Verjauchungen
der Gelenke mit oder ohne Entwicklung von Fäulnisgasen, welche in wenigen Tagen durch Blutvergiftung zum Tode führen, wenn nicht
früh genug durch ausgiebige Eröffnung resp. Resektion des Gelenks oder durch Abnahme (Amputation, Exartikulation) des betreffenden
Gliedabschnittes das Leben des Kranken erhalten wird.
3) Die chronische seröse Gelenkentzündung
(Arthromeningitis s.
Synovitis chronica serosa), welche entweder nur reichliche, meist schmerzlose Wasseransammlung im Gelenk (s. Gelenkwassersucht)
oder außer dieser auch noch entzündliche Wucherungen und Schrumpfungen der Gelenkkapsel und der übrigen Gelenkbänder zur
Folge hat. (S. Gelenkrheumatismus.)
4) Die chronische deformierende Gelenkentzündung
(Arthritis chronica deformans), eine außerordentlich schleichend und
langwierig verlaufende Gelenkkrankheit, die namentlich dem höhern Lebensalter eigen ist und schließlich sehr auffallende
Formveränderungen und Verunstaltungen sowie sehr beträchtliche Funktionsstörungen im erkrankten Gelenk zur Folge hat. Die
Krankheit beginnt in der Regel damit, daß der Knorpelüberzug der Gelenke erweicht, zerfasert wird und endlich vollständig
zu Grunde geht, sodaß die Gelenkflächen rauh und uneben werden und nicht mehr gehörig aufeinander
passen. Im weitern Verlaufe findet sodann gewöhnlich vom Rande der Gelenkflächen her eine krankhafte Wucherung und Neubildung
von höckerigen oder stalaktitenförmigen Knorpel- und Knochenauswüchsen statt, durch welche die Gelenkenden unförmlich verdickt,
schwer beweglich und gänzlich verunstaltet werden, und da weiterhin auch die Gelenkkapsel stellenweise
verdickt und verknöchert und auf ihrer Innenseite mit zahllosen zottenförmigen Wucherungen besetzt ist, so wird schließlich
das ganze Gelenk vollkommen steif und unbrauchbar.
Gang (Geologie)

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Gang.Sehr häufig ist das Hüftgelenk der Sitz dieser deformierenden Entzündung, in welchem Falle sie als Hüftleiden der Greise (Malum coxae senile) bezeichnet wird, doch werden oft genug auch die Schulter, die Knie, der Ellbogen, sowie die Finger- und Zehengelenke von ihr befallen. Zu den ersten Symptomen dieses Gelenkleidens gehören ein dumpfer, nicht eben heftiger Schmerz und eine gewisse Kraftlosigkeit und allmählich zunehmende Steifigkeit des erkrankten Gelenks, wozu sich bald bei Bewegungen infolge der Unebenheit der Gelenkflächen ein deutliches rauhes Knarren und Knacken im Gelenk gesellt. Am frühen Morgen sowie nach längerer Ruhe sind die Steifigkeit und die Schmerzen am schlimmsten; ist das Gelenk einmal im Gang, [* 10] so pflegen beide allmählich nachzulassen.
Wenn die Krankheit an der Hüfte entwickelt ist, so tritt bald leichtes Hinken ein, das nach und nach zunimmt,
weil der Schenkelknochen infolge der allmählichen Abschleifung des Schenkelkopfes und der Gelenkpfanne nach und nach kürzer
wird, bis endlich das Gehen ganz unmöglich ist. Der Verlauf der deformierenden Gelenkentzündung
ist immer ein sehr langwieriger und
erstreckt sich gewöhnlich über mehrere Jahrzehnte; eine wirkliche Heilung tritt niemals ein, höchstens
wird im günstigsten Fall ein Stationärbleiben der Krankheit beobachtet, sodaß sie von einem gewissen Stadium an keine weitern
Fortschritte macht. Über ihre Ursachen ist wenig Sicheres bekannt; sie kommt viel häufiger bei Männern als bei Frauen vor
und ist wohl meist eine Teilerscheinung des eintretenden Altersmarasmus. Bisweilen werden Erkältungen
als Ursache von den Kranken angeschuldigt; mitunter sieht man auch das Leiden
[* 11] nach übermäßigen Anstrengungen oder im Anschluß
an eine erlittene Quetschung oder sonstige Verletzung des Gelenks sich entwickeln.
5) Die chronische fungöse Gelenkentzündung
(Arthritis chronica fungosa), eine bösartige Gelenkkrankheit, bei der sich die Innenfläche
der Gelenkschleimhaut mit schwammigen, allmählich das ganze Gelenk zerstörenden Granulationen überzieht und die deshalb
auch als Gliedschwamm (s. d.) bezeichnet wird; sie ist vorwiegend tuberkulöser Natur.
Bett

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Bett. Hinsichtlich der Behandlung einer jeden Gelenkentzündung
ist als oberster Grundsatz festzuhalten, daß das erkrankte
Gelenk vor allen Dingen absoluter Ruhe und Schonung bedarf. Bei jeder heftigern Gelenkentzündung
gehört
der Kranke deshalb durchaus von Anbeginn an in das Bett
[* 12] und das erkrankte Glied
[* 13] muß vollkommen unbeweglich in horizontaler,
möglichst gestreckter Lage gehalten werden; die letztere muß durch eine geeignete Unterstützung der entzündeten Extremität
vermittelst kleiner Polster, Kissen, Spreusäckchen u. dgl., unter Umständen durch einen angelegten Papp-,
Gips- oder andern immobilisierenden Verband
[* 14] gesichert werden.
Bei manchen Formen der Gelenkentzündung
erweist sich auch die sog. permanente Extension,
bei der vermittelst geeigneter Verbandvorrichtungen und angebrachter Gewichte ein gleichmäßig andauernder Zug
auf die erkrankten
Gelenkflächen ausgeübt wird, von vorzüglicher Wirkung. Sind die Entzündungserscheinungen sehr heftig, so ist die energische
und andauernde Anwendung der Kälte in der Form von Eisbeuteln ganz unerläßlich. Bei sehr heftigen
Schmerzen sind mitunter Morphiumeinspritzungen sowie Einreibungen mit Chloroform, Elaylchlorür und andern schmerzlindernden
Mitteln nicht zu entbehren.
Gelenkführung - Gelenk

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Seite 57.733.
Wenn die entzündlichen Symptome sich gemindert haben, so kann man bei serösen Gelenkentzündung
den Versuch machen, durch eine gleichmäßige
Kompression des Gelenks vermittelst elastischer Binden die Aufsaugung der ausgeschwitzten Flüssigkeit zu
beschleunigen. Eventuell wird das im Gelenk befindliche Exsudat durch Punktion oder Incision entfernt. Bei der eiterigen Gelenkentzündung sind
unter Umständen gewisse chirurg. Eingriffe (tiefe Einschnitte, Punktionen, die Resektion der erkrankten
¶
mehr
Gelenkenden u. a.), die aber stets unter den strengsten antiseptischen Verhaltungsmaßregeln auszuführen sind, erforderlich. Gegen die nach intensivern Gelenkentzündung zurückbleibende Gelenksteifigkeit erweisen sich rechtzeitige passive Bewegungen sowie die Vornahme der Massage (s. d.), gegen den oft hochgradigen Muskelschwund außerdem die Anwendung der Elektricität nützlich. Haben sich im Verlaufe einer länger währenden Gelenkentzündung abnorme Winkelstellungen oder gar Verwachsungen der Gelenkenden gebildet, so muß zunächst in der Chloroformnarkose die gewaltsame Beugung oder Streckung (brisement forcé) des Gelenks vorgenommen und sodann durch allmählich gesteigerte passive Bewegungen die normale Beweglichkeit des Gelenks wieder angestrebt werden. Freilich ist bei diesen Bewegungsversuchen die größte Vorsicht geboten, damit nicht durch zu frühzeitige Vornahme derselben der entzündliche Prozeß von neuem wieder angefacht werde.
Glieder, künstliche

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Glieder.Viel weniger günstig sind die Heilerfolge bei der deformierenden Gelenkentzündung, bei der im günstigsten Falle nur ein Stillstand, niemals eine wirkliche Heilung der Krankheit erzielt werden kann. Derartige Kranke müssen sich vor anhaltendem Stehen und allen übermäßigen Anstrengungen, ebenso aber auch vor absoluter Ruhe und Schonung hüten, denn je weniger ein deformiertes Gelenk geübt wird, um so schwieriger und schmerzhafter werden seine Bewegungen; ein mäßiger Gebrauch und eine schonende Übung der Glieder [* 16] in Verbindung mit zweckmäßiger Massage sind bei diesem Gelenkleiden am dienlichsten. Während der Nacht sind die kranken Glieder warm einzuhüllen; auch ist der öftere Gebrauch warmer, nicht zu heißer Bäder, und zwar ebenso wohl der sog. indifferenten Thermen (Wildbad, Gastein, Wiesbaden), [* 17] wie einfacher warmer Wasser- oder Solbäder anzuempfehlen.
Über die Behandlung der fungösen Gelenkentzündung s. Gliedschwamm.