Geistliches Lied
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Geistliches
Lied
bezeichnet die Hauptart der lyrischen Dichtungsgattung. Es ist im allgemeinen als diejenige
poetische Form zu charakterisieren, in welcher die Empfindung des Dichters am unmittelbarsten und einfachsten zum lautlichen
Ausdruck (im Wort) gelangt, daher keine Art der Poesie ein so inniges Verhältnis zur Musik (dem lautlichen Ausdruck im Ton) hat
als das Lied
(Wortgesang). Im eigentlichsten Sinn begreift das Lied
nur solche Dichtungen, die sich als durchaus
singbar darstellen und, gleichsam auf den Gesang angewiesen, erst durch diesen zu vollständiger Wirkung gelangen, oder solche,
die einen Reichtum an musikalischen Elementen gewissermaßen in sich tragen und darum der Unterstützung durch die wirkliche
Tonkunst weniger bedürfen. Zu den die Ergänzung durch die Musik entschieden erfordernden Liedern
gehören
alle echten Volkslieder; als Muster der letzterwähnten selbständigen Art sind die besten Lieder
Goethes zu betrachten.
Regelmäßige Merkmale des eigentlichen Liedes
sind ferner: Einfachheit des Strophenbaues und das Vorwiegen stimmungsvoller
Empfindung vor der Schärfe der Gedanken. Je mehr die Reflexion
[* 3] in einem lyrischen Gedicht hervortritt, um so
weniger entspricht es dem Charakter des Liedes.
So mannigfaltig die Bewegungen des menschlichen Gemüts sind, so mannigfaltig
sind auch die Weisen, in welchen das Lied
erklingt. Unter den Einteilungen derselben je nach der Verschiedenheit der Richtungen,
in welchen sich die dichterische Empfindung bewegt, ist eine der durchgreifendsten die Unterscheidung des
Liedes
in das geistliche
und weltliche.
Jenes zerfällt wieder in das Kirchenlied und das geistliche
Lied
im weitern Sinn. Wesentliches Erfordernis des Kirchenliedes
ist Sangbarkeit u. Volkstümlichkeit. Es hat die Bestimmung für den Gottesdienst der Gemeinde und erfüllt seinen Zweck dann
am vollkommensten, wenn es den religiösen Empfindungen den erbaulichen Ausdruck gibt, der möglichst wenig
rein individuelle Beziehungen enthält. Solche Lieder
traten in deutscher Sprache
[* 4] zuerst im 13. Jahrh. auf; das echte deutsche
Kirchenlied aber wurde erst durch Luther ins Leben gerufen, und das Beste und Meiste von dieser Art des geistlichen Liedes
hat
überhaupt das Reformationszeitalter hervorgebracht (s. Kirchengesang und Kirchenlied).
Seit dem 17. Jahrh. hat das Kirchenlied nicht mehr recht gedeihen wollen, und selbst Gellerts beim Gottesdienst vielgesungene
Lieder
gehören wie alle verwandten Dichtungen der neuern Zeit, dem geistlichen
Lied
nur im weitern Sinn an. Die Anfänge des
letztern (in deutscher Zunge) reichen in die Zeit des beginnenden Minnegesanges, aus der wir von dem Kürenberger,
von Sperrvogel u. a. geistliche
Dichtungen in Liedform
besitzen. Reichlicher tritt das geistliche
Lied im 14. und 15. Jahrh.
auf.
Der fruchtbarste geistliche
Liederdichter des 15. Jahrh. war Heinrich von Laufenberg. Zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs
ragen als Verfasser geistlicher
Lieder die Katholiken Johann Scheffler (Angelus Silesius) und Fr. Spee hervor.
In der neuern und neuesten Zeit sind als bedeutendste Dichter in gleichem Gebiet außer Gellert zu nennen: Klopstock, Hermes,
[* 5] Hiller, Claudius, Lavater, Kosegarten, Schenkendorf, Arndt, Novalis, Albertini, Knapp, Spitta, Sturm, Gerok sowie die Frauen Luise Hensel
und Annette v. Droste-Hülshoff.
Das weltliche Lied tritt in den mannigfaltigsten Gattungen auf, unter denen das Liebeslied numerisch weit überwiegt. Neben ihm begegnen wir am häufigsten Trink-, Tanz-, Vaterlands-, Natur-, Wiegenliedern etc. In Deutschland [* 6] erscheint das Lied in Blüte [* 7] seit dem 13. Jahrh. Die Erzeugnisse des Minnegesanges gehören der Mehrheit nach der Gattung des Liedes an; dagegen ist den Meistersängern die Fähigkeit, wirkliche Lieder zu dichten, gänzlich abhanden gekommen, und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gelang es nur wenigen Kunstdichtern, den echten Liederton zu treffen.
Von ihnen sind Paul Fleming, Simon Dach, [* 8] Hagedorn, J. G. ^[Johann Georg] Jacobi mit besonderer Auszeichnung zu erwähnen. Im Volk selbst aber hat auch während der Zeit des Verfalls der Kunstpoesie die Freude am weltlichen und der schöpferische Trieb zur Hervorbringung des Volksliedes (s. d.) fortgedauert, und wir besitzen in den vortrefflichen Sammlungen von Arnim und Brentano, Uhland, Erk, Simrock, Soltau, Liliencron u. a. einen Schatz köstlicher Volkslieder, wie ihn keine andre Nation aufzuweisen hat.
Die vollendetsten Schöpfungen im Bereich des Kunstliedes sind Goethes Lieder, die an Innigkeit, melodischer Klangfülle, herzbewegender Einfachheit und formeller Vollendung nicht nur in der deutschen, sondern in der Litteratur aller Völker ihresgleichen suchen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. fand das Lied besondere Pflege bei den Angehörigen des Göttinger Dichterbundes, namentlich durch Hölty, Voß, Bürger (Molly-Lieder) u. a.; daneben sind als treffliche Liederdichter aus gleicher Zeit zu nennen: Matth. Claudius, Salis, Maler Müller u. a. Schillers ganze Dichternatur war der Gattung des echten Liedes abgewendet. Herrliche, vorzüglich durch volksmäßigen Charakter ausgezeichnete Lieder verdanken wir den ¶
Jüngern der sogen. romantischen Schule, vor allen Brentano, Arnim und Eichendorff. Die stürmischen Tage der Freiheitskriege riefen die Gesänge von Arndt, Schenkendorf und Körner hervor, die, von Mund zu Mund getragen, die vaterländische Begeisterung auf das mächtigste entzünden halfen und nährten. Von den Poeten der Neuzeit errangen in der Gattung des Liedes den höchsten Preis: Uhland und Heine. Vortreffliches leisteten außer ihnen besonders Rückert, Justinus Kerner, Wilhelm Müller, Egon Ebert, Hauff, Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Geibel, Lenau, Mosen, Mörike, Reinick, Storm, Kopisch, Scheffel, Rud. Baumbach u. a.
Das Lied in musikalischer Bedeutung ist die Verbindung eines lyrischen Gedichts mit Musik, wobei an Stelle des gesprochenen Worts das gesungene tritt, indem die der Sprache eignen musikalischen Elemente des Rhythmus und Tonfalls zu wirklicher Musik, zur rhythmisch geordneten Melodie gesteigert werden. Das musikalische ist entweder Strophenlied, bei welchem sämtliche oder eine Anzahl Strophen des Gedichts nach derselben Melodie gesungen werden, oder durchkomponiert, wobei jede Strophe in andrer, dem Inhalt derselben entsprechender Weise komponiert wird.
Die Geschichte des musikalischen Liedes weist bisher drei Blüteperioden auf, die erste zur Zeit der Minnesänger und Troubadoure, von welcher nur wenig übriggeblieben ist, die zweite im 15.-16. Jahrh., der wir eine fast überreiche Litteratur verdanken, und die dritte im 19. Jahrh. Die Lieder des 16. Jahrh. sind durchweg in mehrstimmigen, meist 2-4stimmigen Sätzen auf uns gekommen; die vielfach etwas lasciven Dichtungen bergen doch einen reichen Schatz von echter Lyrik, und die Musik ist das für unsre Zeit Gefälligste und Ansprechendste, was jene Zeit aufzuweisen hat.
Der Satz ist im Anschluß an die kurzweiligen, volksmäßigen Strophen des Textes deutlich gegliedert, und die modernen Tonarten sind bereits ziemlich scharf ausgeprägt. Besonders gilt das von den hierher gehörigen deutschen Kompositionen, die meist als »Frische teutsche Liedlein«, »Newe gute Liedlein«, »Gassenhäwerlin«, »Reutterliedlein« etc. bezeichnet sind.
Vgl. Böhme, Altdeutsches Liederbuch (Leipz. 1877), wo außer den Texten auch viele Melodien mitgeteilt sind.
Originale Liederbücher des 16. Jahrh. weist beinahe jede größere Bibliothek auf; einige Neuherausgaben veranstaltete die Gesellschaft für Musikforschung. Nachdem sich seit 1600 der begleitete Sologesang in neuer Weise entwickelte (s. Oratorium und Oper), dauerte es doch geraume Zeit, ehe derselbe auch die schlichte Form des Liedes mit neuem Leben erfüllte. Zwar trat an die Stelle des mehrstimmigen Liedes bald das einstimmig mit Instrumentalbegleitung gesetzte (Ode genannt); doch unterschied sich dasselbe zunächst nicht wesentlich von den bereits im 16. Jahrh. nicht seltenen Bearbeitungen mehrstimmiger Sätze für eine Stimme mit Laute oder Klavier. Das Absterben der echten Lyrik in der Poesie mußte verhängnisvoll auch für die Liedkomposition werden. Erst als das Genie Goethes eine neue Epoche der lyrischen Dichtung heraufbeschwor, indem er die Form des Volksliedes bewußt nachbildete und damit den Komponisten (Zelter, Reichardt) die rechten Wege wies, brach ein neuer Morgen an. Doch bedurfte es der speziell für das Lied begabten Naturen eines Schubert und Schumann, um den Gehalt der Goetheschen Lyrik ganz zu erschließen und endlich den herrlichen Liederfrühling zu zeitigen, der in den Liedern eines Jensen, Franz, Brahms etc. noch heute fortblüht.
Vgl. Schneider, Das musikalische Lied in geschichtlicher Entwickelung (Leipz. 1863-65, 3 Bde.);
Reißmann, Geschichte des deutschen Liedes (2. Aufl., Berl. 1874);
Kade, Die deutsche weltliche Liedweise in ihrem Verhältnis zu dem mehrstimmigen Tonsatz (Mainz [* 10] 1874). -
Lied ohne Worte ist die seit Mendelssohn sehr gebräuchliche Benennung für kürzere melodiöse Instrumentalstücke aller Art (früher Spielarie genannt).