Titel
Geistliche
Gerichtsbarkeit. Nicht nur in Disziplinarangelegenheiten, und zwar hier in viel größerm Umfang als die evangelische Kirche, sondern auch in Strafsachen und bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nimmt die katholische Kirche Jurisdiktionsbefugnisse in Anspruch. Der Bischof mit der aus seinen Räten gebildeten Behörde (Generalvikariat, Ordinariat, Offizialat, Konsistorium, Diözesangericht), der Erzbischof und der Papst oder der Beauftragte des letztern sind die Instanzen. Im einzelnen ist zu unterscheiden:
I. Kirchliche Disziplinargewalt und Kirchenzucht.
1) Über ihre Diener beanspruchte die katholische Kirche schon im 3. Jahrh. eine Disziplinargewalt wegen Vergehen im Amt oder unwürdigen Verhaltens; daran hielt in der Folge auch die evangelische Kirche fest. Die katholische Kirche wendete als Strafmittel an: körperliche Züchtigung, Einsperrung in ein Gefängnis (incarceratio), Verstoßung in ein Kloster (detrusio in monasterium), Geldstrafen, Strafversetzung oder Versetzung auf eine schlechtere Pfründe (translocatio), Entziehung des Benefiziums (privatio beneficii), Deposition, Degradation und Suspension auf unbestimmte Zeit.
Die evangelische Kirche kannte in erster Zeit nur Strafmittel innerhalb des kirchlichen Gebiets; später kommen auch weltliche Strafen, wie: Verweis, Geldstrafen, Suspension, Strafversetzung, unfreiwillige Emeritierung, vor. Die Ausübung der kirchlichen Disziplinargewalt wurde aber sehr früh der Aufsicht des Staats unterworfen. So hatte man in Frankreich das Rechtsmittel des Recursus ab abusu (Appel comme d'abus), welches in Art. 6 ff. der sogen. organischen Artikel zur Konvention vom dahin geregelt ward, daß jeder Interessierte in allen Fällen des Mißbrauchs seitens der kirchlichen Obern sich an den Staatsrat wenden durfte; der Begriff des Mißbrauchs (abus) war sehr ausgedehnt definiert.
Das bayrische Edikt vom regelt den Rekurs gegen den Mißbrauch, ebenso die Staatsministerialentschließung, den Vollzug des Konkordats betreffend, vom in Württemberg [* 2] bestand bis zum Gesetz vom der Rekurs gegen Mißbrauch, das erwähnte Gesetz aber bestimmt, daß Disziplinarstrafen gegen katholische Kirchendiener nur auf Grund eines geordneten prozessualischen Verfahrens verhängt werden dürfen, es verbietet die Freiheitsentziehung, beschränkt Geldbußen auf den Betrag von 40 Gulden und die Einberufung in ein Besserungshaus der Diözese auf die Dauer von sechs Wochen.
Verfügungen und Erkenntnisse der Kirchengewalt können gegen die Person oder das Vermögen nur von der Staatsgewalt vollzogen werden, und diese leiht den weltlichen Arm nur nach genauer, selbständiger Prüfung des Sachverhalts. Auch im Instanzenzug dürfen Disziplinarstrafsachen nicht vor ein außerdeutsches kirchliches Gericht gezogen werden. Das badische Gesetz vom enthält bezüglich des Vollzugs eine ähnliche Bestimmung wie das württembergische.
Das österreichische Gesetz vom bestimmt § 28 bezüglich des Recursus ab abusu, daß, wenn durch die Verfügung eines kirchlichen Obern ein Staatsgesetz verletzt wird, der hierdurch in seinem Recht Gekränkte sich an die Verwaltungsbehörde wenden kann, welche Abhilfe zu schaffen hat, sofern die Angelegenheit nicht auf den Zivil- oder Strafrechtsweg zu überweisen ist. Für die Durchführung kirchlicher Anordnungen und Entscheidungen wird staatlicher Beistand aber nur dann gewährt, wenn die staatlichen Grenzen, [* 3] die der Ausübung der Disziplinargewalt gezogen sind, innegehalten wurden.
Für Preußen [* 4] wurde durch die sogen. Maigesetze, die jedoch durch die Gesetze vom und wesentlich abgeschwächt worden sind, folgender Rechtszustand geschaffen: Während durch das Gesetz vom hinsichtlich aller Religionsgesellschaften die Anwendung von Straf- und Zuchtmitteln, welche in irgend einer Beziehung in die staatliche Sphäre hinübergreifen, verboten wurde, schützt das Gesetz vom über die kirchliche Disziplinargewalt insbesondere noch die Diener der privilegierten christlichen Kirchen.
Die in § 2-10 enthaltenen allgemeinen Bestimmungen verfügen hinsichtlich des
Verfahrens, daß in allen
Fällen die
Entscheidung
schriftlich unter Angabe der
Gründe zu erlassen und der Beschuldigte immer zu hören ist; bezüglich
der
Strafgewalt werden körperliche
Züchtigung,
Geldstrafen über 90
Mk. oder über den Betrag eines einmonatlichen Amtseinkommens
hinaus und jede andre Art von Freiheitsentziehung als durch Verweisung in die sogen. Demeritenanstalten
für unzulässig erklärt. In § 24 ff. endlich nimmt der
Staat auch für sich eine
Disziplinargewalt über
Kirchendiener in Anspruch, welche die auf ihr
Amt oder ihre geistlichen
Amtsverrichtungen bezüglichen Vorschriften der Staatsgesetze
oder die in dieser Hinsicht von der Obrigkeit innerhalb ihrer gesetzlichen
Zuständigkeit getroffenen
Anordnungen so schwer
verletzen, daß ihr Verbleiben im
Amt mit der öffentlichen
Ordnung unverträglich erscheint.
Der zur Aburteilung hierüber sowie über die Berufung an den Staat eingesetzte besondere Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten ist jedoch durch das Gesetz vom wieder aufgehoben worden. Außerdem sind die weitern Gesetze vom (Reichsgesetz), betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern, und vom (preußisches Gesetz) über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer von Wichtigkeit. In der evangelischen Kirche sind die Disziplinarbefugnisse der Oberkirchenräte, Konsistorien und Kultusministerien durch die Kirchenordnungen geregelt.
2) Auch über Laien verhängt die Kirche Disziplinarstrafen, Zensuren, Zuchtmittel. Hierher gehören: die Exkommunikation (excommunicatio) oder der Kirchenbann, welcher in den kleinen (e. minor) und den großen (e. major) zerfällt;
der kleine Kirchenbann begründet die Unfähigkeit, ein kirchliches Amt zu erlangen, und schließt sowohl vom Empfang der Sakramente als auch von der Spendung derselben aus;
die Folgen des großen Bannes sind: die Ausschließung von den Gnaden und Rechten der Kirche;
Verlust des Rechts auf christliches Begräbnis, des Rechts (bei kirchlichen Gerichten), als Richter, Kläger, Zeuge, Notar, Advokat und Prokurator zu fungieren;
Unfähigkeit, kirchliche Ämter zu erlangen;
auch sollen die übrigen Gläubigen jedweden bürgerlichen Verkehr und Umgang mit dem Exkommunizierten abbrechen;
ferner das Interdikt, welches entweder ein lokales, d. h. Einstellung aller öffentlichen kirchlichen Funktionen in einem bestimmten Bezirk, jetzt außer Gebrauch gekommen (der letzte Fall war die Interdizierung der Republik Venedig [* 5] durch Paul V., 1606), oder personales ist, welches gewisse Klassen von Personen, den Klerus oder die Einwohner eines Ortes oder auch nur eine Person (als mildere Form der Exkommunikation), betrifft;
sodann die ¶
mehr
Suspension, die nur auf Geistliche Anwendung findet. Früher hat die katholische Kirche auch gegen Laien Gefängnisstrafen und
Geldbußen verhängt. Die evangelische Kirche kannte ursprünglich nur den kleinen Bann, erst später auch den großen: Bußübungen,
Versagung des christlichen Begräbnisses und gewisser Auszeichnungen, selbst Geldbuße und Leibesstrafen. Schon im Mittelalter
trat indessen die Notwendigkeit ein, dem Mißbrauch der kirchlichen Straf- und Zuchtmittel entgegenzutreten.
In Sachsen,
[* 7] Brandenburg,
[* 8] Bayern,
[* 9] Frankreich, England wurden teils die kirchlichen Urteilssprüche allgemein der staatlichen Bestätigung
(placet) unterworfen, teils die Verhängung gewisser Kirchenstrafen, namentlich der Exkommunikation, gegen landesherrliche
Beamte für nichtig erklärt. Im Deutschen Reiche galt der bereits erwähnte Recursus ab abusu, und gegen
geistliche
Obere wurden wegen Übergriffe der geistlichen Gerichte in weltliche Sachen oder unzulässiger Verhängung von Kirchenstrafen
Geldbußen, Temporaliensperren, Absetzungen, auch Gefängnisstrafen ausgesprochen. - Das bayrische Religionsedikt vom und
die Entschließung des Staatsministeriums vom das Edikt für die oberrheinische Kirchenprovinz vom
die sächsische Verfassungsurkunde vom kennen ebenfalls den Recursus ab abusu; das badische Gesetz vom und
das württembergische vom erfordern: das erstere die Vollzugsreiferklärung durch die Staatsbehörde, das letztere,
daß der Bestrafte mit dem Vollzug durch die Kirchengewalt einverstanden sei.
Ausführlicher ist das preußische Gesetz vom über die Grenzen des Rechts zum Gebrauch kirchlicher Straf- und Zuchtmittel. Es verbietet (§ 1) alle Straf- und Zuchtmittel, welche ihrer Natur nach in das staatliche Gebiet hinübergreifen, während es anderseits das Prinzip anerkennt, daß die Handhabung einer berechtigten Zucht- und Strafgewalt den Religionsgesellschaften freistehen soll. Aber auch die Anwendung der zulässigen Zuchtmittel ist durch § 2 und 3 für den Fall untersagt, daß sie dafür verhängt werden, weil die Unterthanen ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachgekommen sind oder nachkommen wollen. Durch § 4 endlich wird verhütet, daß durch die Art und Form der Bekanntmachung oder Vollziehung einer gesetzmäßig verhängten Strafe eine Minderung, bez. Kränkung der Ehre des Bestraften herbeigeführt werde. Das Gesetz vom erklärt jedoch ausdrücklich, daß die Versagung kirchlicher Gnadenmittel unter die Bestimmungen des Gesetzes vom nicht falle.
II. Kirchliche Gerichtsbarkeit in Strafsachen. Zuerst über Geistliche, später auch über Laien beanspruchte
die katholische Kirche eine Kriminalgerichtsba
rkeit zunächst wegen gemeiner kirchlicher Verbrechen (delicta ecclesiastica
communia), besonders: Ketzerei, Apostasie, Simonie, sodann wegen besonderer Verbrechen der Geistlichen und endlich wegen sogen.
gemischter Verbrechen (delicta mixta), wozu Gotteslästerung, Zauberei, Kirchenschändung, Meineid, Zinswucher, Fleischesverbrechen
gezählt wurden.
III. Die Zivilgerichtsbarkeit sprach die katholische Kirche an über Geistliche, welche im Deutschen Reich
einen privilegierten Gerichtsstand vor den geistlichen
Gerichten erlangt hatten; aber auch hinsichtlich der Laien wurden Alimentensachen,
Ehesachen, Gelübde, Verlöbnisse etc. vor geistliche
Gerichte gezogen, und auch in der evangelischen Kirche entwickelte sich
eine geistliche Gerichtsba
rkeit, welche sich
namentlich in Ehesachen bis in die neuere Zeit
erhielt. In Deutschland
[* 10] wurden die Rechte der geistlichen
Gerichtsbarkeit in Strafsachen wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
durch das Gerichtsverfassungsgesetz beseitigt, welches (§ 15) ausdrücklich bestimmt, daß die Gerichte Staatsgerichte sind,
daß die Ausübung einer geistlichen Gerichtsbarkeit in weltlichen Angelegenheiten ohne bürgerliche Wirkung sein und dies
insbesondere für Ehe- und Verlöbnissachen gelten soll.
Vgl. München, [* 11] Das kanonische Gerichtsverfahren (2. Aufl., Köln [* 12] 1874, 2 Bde.);
Schulte, Über Kirchenstrafen (Berl. 1872);
Friedberg, [* 13] Die Grenzen zwischen Staat und Kirche (Tübing. 1872);
Droste, Kirchliches Disziplinar- und Kriminalverfahren gegen Geistliche (Paderb. 1882);
Trusen, Preußisches Kirchenrecht (Berl. 1883);
Hinschius' Ausgaben der preußischen Kirchengesetze (4 Bde., das. 1873-86);
Höinghaus, Die kirchenpolitischen Gesetze in ihrer jetzigen Gültigkeit, 1871-86 (das. 1886).