Geier
(Vulturidae, hierzu Tafel »Geier«
),
[* 2]
Familie aus der Ordnung der Raubvögel, [* 3] große oder sehr große Vögel [* 4] mit langem, starkem Schnabel, welcher höher als breit, mehr als zur Hälfte mit einer Wachshaut bekleidet, gerade, an der Spitze plötzlich hakig übergebogen und am Schneidenrand seicht ausgebuchtet ist. Der Kopf ist mit Daunen bedeckt oder nackt, die Flügel sind lang, breit und abgerundet, und die vierte Schwinge ist in ihnen die längste; der Schwanz ist mittellang, zugerundet oder stark abgestuft.
Die
Füße sind mittelhoch, stark, von der
Ferse ab unbefiedert; die
Zehen sind zwar lang, aber schwach und nicht greiffähig
und mit kurzen, wenig gebogenen, stumpfen
Nägeln versehen. Die Weibchen sind größer als die Männchen.
Die Geier
sind die plumpsten aller
Raubvögel und stehen an geistiger Begabung weit hinter
Adlern und Edelfalken zurück; sie
sind scheu, jähzornig, feig, nicht unternehmend, leben zwar gesellig, aber nicht friedfertig, sind träge, roh und gewinnen
selten wirkliche Anhänglichkeit an ein andres Geschöpf.
Sie gehen meist schrittweise, fliegen langsam, aber mit ungemein großer Ausdauer und nähren sich fast ausschließlich von Aas, welches sie mit dem scharfen Auge [* 5] in weiter Entfernung erspähen. Sie finden sich überall in den wärmern Gegenden mit Ausnahme Neuhollands, innerhalb ihres Verbreitungskreises aber in der Ebene und auf den höchsten Gebirgen, schweifen weit umher und suchen ihre Nahrung zum Teil in den Städten, für welche sie in Südasien, Afrika [* 6] und Südamerika [* 7] geradezu charakteristisch sind.
Sie fressen ungemein gierig, so daß sie nach der Sättigung oft im Fliegen [* 8] behindert sind. Sie horsten gesellig auf Felsen, Bäumen oder auf der Erde und legen 1-2 gräuliche oder gelbliche, dunkler gefleckte Eier, [* 9] welche wahrscheinlich von beiden Eltern ausgebrütet werden. Das nach mehreren Wochen auskriechende Junge ist äußerst gefräßig und wird erst nach mehreren Monaten selbständig. Es wird von den Alten sorgsam behütet, gegen den Menschen aber kaum ernstlich verteidigt.
In der Gefangenschaft sind Geier
leicht zu erhalten und haben wiederholt Anstalten zur
Fortpflanzung gemacht.
Der Gänsegeier
(Gyps fulvus
Gm., s. Tafel), 1 m lang, 2,6 m breit, mit gestrecktem, schlankem,
relativ schwachem
Schnabel, langem, gänseartigem, gleichmäßig starkem, spärlich mit weißen, flaumartigen
Borsten besetztem
Hals und niedrigen
Füßen. Die
Federn der
Halskrause und des
Nackens sind in der
Jugend lang und flatternd,
dunkel fahlbraun, im
Alter zerschlissen und haarartig,
¶
mehr
weiß oder gelblichweiß; das übrige Gefieder ist sehr gleichmäßig licht fahlbraun, auf der Unterseite dunkler als auf der Oberseite, jede einzelne Feder lichter geschaftet. Die Flügeldeckfedern bilden eine lichte Binde auf der Oberseite, die Schwingen erster Ordnung und die Steuerfedern sind schwarz, die Schwingen zweiter Ordnung graubraun, fahl gerandet; das Auge ist lichtbraun, die Wachshaut dunkel blaugrau, der Schnabel rostfarben, der Fuß hell bräunlichgrau.
Der Gänsegeier
findet sich in Siebenbürgen, Südungarn, in Krain,
[* 11] Kärnten und im Salzkammergut,
[* 12] auf der Balkanhalbinsel,
[* 13] in
Spanien,
[* 14] Sardinien,
[* 15] Sizilien,
[* 16] Nordafrika, Westasien bis zum Himalaja und verfliegt sich bisweilen nach Deutschland,
[* 17] lebt gesellig,
läuft und fliegt sehr gut, ist äußerst jähzornig und tückisch und greift angeschossen den Menschen
an. Vom Aas frißt er besonders die Eingeweide,
[* 18] soll sich aber auch über kranke oder sonst wehrlose Tiere hermachen. Er bildet
Nistansiedelungen auf Felsen, und das Weibchen legt ein weißes, stark nach Moschus riechendes Ei,
[* 19] welches es gemeinsam
mit dem Männchen bebrütet.
In der Gefangenschaft bleibt der Gänsegeier
tückisch und bissig. In Ägypten
[* 20] dienen Schwung- und Steuerfedern zu Schmuck-
und Wirtschaftsgegenständen. In Kreta und Arabien soll der Balg als Pelzwerk
[* 21] benutzt werden. Die Gattung der Schopfgeier
(Vultur
L.) ist charakterisiert durch den kräftigern Leib, den kürzern, stärkern Hals, größern Kopf mit kräftigerm
Schnabel und breitere Flügel. Der Kopf ist mit kurzem, krausem, wolligem Flaum bedeckt, welcher am Hinterkopf einen Schopf bildet.
Hinterhals und einige Stellen des Vorderhalses sind nackt; eine bis an den Hinterkopf reichende Halskrause besteht aus kurzen,
breiten, kaum zerschlissenen Federn. Der Kuttengeier
(Mönchsgeier, grauer, brauner, gemeiner Geier
, Vultur
cinereus Tem., s. Tafel), der größte Vogel Europas, ist 1,16 m lang, 2,3 m breit, gleichmäßig dunkelbraun;
das Auge ist braun, Schnabel und Wachshaut blau, der Fuß fleischfarben, die nackte Stelle am Hals ist licht blaugrau, ein nackter
Ring ums Auge violett. Er findet sich in Südeuropa, Slawonien, Kroatien und in den Donautiefländern, in
Asien
[* 22] bis China
[* 23] und Indien und in den Atlasländern sowie an einem Teil der afrikanischen Westküste, verfliegt sich auch bis
Deutschland.
Seine Haltung ist edler, adlerartiger als die des vorigen; er frißt hauptsächlich Muskelfleisch, verschlingt Knochen
[* 24] und
ergreift auch lebende Säugetiere. Er horstet einzeln auf Bäumen und legt ein weißes Ei. Der Schmutzgeier
(Aas-, Maltesergeier
, ägyptischer, heiliger Geier, Alimosch, Henne der Pharaonen, Neophron percnopterus Gray, s. Tafel), 70 cm lang,
1,6 m breit, mit kurzem, kräftigem Leib, etwa kopflangem, starkem, geradem, an der Spitze stark gekrümmtem Schnabel, langen,
ziemlich spitzen Flügeln, in denen die dritte Schwinge die längste ist, langem, abgestuftem Schwanz und
mittelhohem, starkem, an der Ferse unbefiedertem Fuß.
Das Gefieder ist am Hinterhals verlängert, Gesicht [* 25] und Kopf sind nackt. Die Färbung ist schmutzig weiß, Hals und Oberbrustgegend mehr oder weniger dunkelgelb, Handschwingen schwarz, Schulterfedern gräulich; das Auge ist rotbraun oder licht erzgelb, der nackte Kopf, der Kropfflecken und der Schnabel orangegelb, letzterer an der Spitze hornblau, der Fuß hellgrau. Er findet sich als Zugvogel in Südeuropa, auch in der Schweiz, [* 26] selten in Deutschland, häufig und als Standvogel in fast ganz Afrika, West- und Südasien. Er meidet den Wald, fliegt sehr schön, lebt gesellig, ist friedfertig, wenig scheu, ruht auf Felsen und Gebäuden, nicht auf Bäumen, nährt sich von Menschenkot, Abfällen der Schlächtereien und Aas und wird dadurch für die afrikanischen und asiatischen Städte ein großer Wohlthäter. Er wird dort nicht verfolgt, kommt deshalb auch sorglos in größte Nähe des Menschen und begleitet die Karawanen tagelang.
Bisweilen ergreift er auch kleine Säugetiere (Mäuse) und Vögel, Kriechtiere und frißt Eier. Er horstet in kleinen Gesellschaften
an steilen Felswänden, auch auf alten Gebäuden, Pagoden etc. und legt 1-2 gelblichweiße, lehmfarben oder braun gefleckte
Eier. In der Gefangenschaft wird er zahm wie ein Hund. Sein Bildnis findet sich auf altägyptischen Bauwerken
(s. unten). Der Kappengeier
(Neophron pileatus Burch.), 68 cm lang, 1,7 m breit, mit etwas kürzerm Schnabel, gerade abgestutztem
Schwanz, am Scheitel, Wangen und Vorderhals nackt, gleichmäßig dunkel erdbraun, an Hinterkopf und Hals gräulichbraun, am Kopf
schmutzig weiß, Handschwingen und Steuerfedern braunschwarz, am nackten Kopf bläulichrot, mit braunem
Auge, hornblauem, an der Spitze dunklerm Schnabel, violetter Wachshaut und hell bleigrauen Füßen. Er bewohnt Mittel- und Südafrika,
[* 27] lebt gesellig, verkehrt wie ein halbes Haustier in den Ortschaften, nährt sich, wie der vorige, von Kot und allerlei Abfällen,
raubt niemals lebende Tiere, ruht nachts auf Bäumen fern von menschlichen Wohnungen, lebt sehr gesellig
und nistet in großen Ansiedelungen in Wäldern auf Bäumen. Das Weibchen legt nur ein grauweißes, lehmrot geflecktes Ei,
welches, wie es scheint, von beiden Geschlechtern ausgebrütet wird. Dieser Geier
wird ebensowenig verfolgt wie der
vorige. Der Lämmer- oder Bartgeier (s. d.) gehört einer andern Familie an, und noch ferner steht den Geiern
der Kondor (s. d.).
Der Geier spielt in der Mythologie oft eine ähnliche Rolle wie der Adler. [* 28] Der indische Geier Gatayu weiß alles Vergangene und alles Zukünftige, weil er die ganze Erde durchmessen hat. Er kämpft mit den Ungeheuern und ist den Herden und den Göttern freundlich gesinnt. Nach Herodot war der Geier dem Herkules befreundet, er kündigt dem Romulus, Cäsar und Augustus die Alleinherrschaft an. Verbrannte Geierfedern vertreiben Schlangen, [* 29] erleichtern die Geburtswehen. Die Gefräßigkeit des Geiers wurde bei den Alten sprichwörtlich, er wittert Leichname, sogar schon vor dem Tod, und daher wurden hungrige Erben Geier genannt. Bei den Germanen galt er für ein böses Prinzip (daher die Verwünschung). Bei den Ägyptern war er Symbol der Sonne, [* 30] und weil sie glaubten, daß es unter den Geiern nur Weibchen gebe, die vom Ostwind befruchtet würden, war er das Symbol der Mutter und der Göttin Neith geheiligt, welche mit einem Geierkopf abgebildet wurde.