Gehirn
[* 2] (Anthropologisches). Sowohl hinsichtlich der Gesamtmasse des
Gehirns als bezüglich des
Hirngewichts und der
Entwickelung der Hirnwindungen lassen sich zwischen den menschenähnlichen
Affen
[* 3]
(Anthropoiden) und dem
Menschen sowie zwischen verschiedenen
Menschenrassen
[* 4] erhebliche Unterschiede nachweisen. Das durchschnittliche Hirngewicht
des Europäers beträgt nach v.
Bischoff für die
Männer 1362 g, für die
Weiber nur 1219 gehirn.
Aus den
Broca-Topinardschen Untersuchungen
ergibt sich, daß beim
Menschen das männliche
Geschlecht das durchschnittliche
Maximum seines
Gehirns mit 1419 g
zwischen 30 und 35
Jahren, das weibliche
Geschlecht die völlige
Entwickelung seines
Gehirns mit 1217 g schon zwischen 25 und 30
Jahren
erreicht.
Dagegen beträgt das mittlere Hirngewicht des männlichen
Negers nur 1244 g, dasjenige des
Schimpanse 350 bis 400 gehirn.
Während
das
Gewicht des erwachsenen Schimpansegehirns
zum Gesamtkörpergewicht im
Verhältnis von 1:70 bis 80 steht, beträgt das besagte
Verhältnis beim
Menschen nur 1:35 bis 40. Bei jungen Individuen tritt der Unterschied weniger hervor, indem das Hirngewicht
zum Körpergewicht beim jungen
Schimpanse sich wie 1:25, beim menschlichen
Kinde sich wie 1:18 verhält.
Damit stimmt auch die
Thatsache, daß die Menschenähnlichkeit des jungen
Anthropoiden eine weit größere ist als diejenige
des erwachsenen
Tieres. Der
Mensch besitzt nicht, wie früher allgemein angenommen wurde, das größte Gehirn
, sondern wird von
einer Anzahl kleinerer
Tiere (z. B. kleinerer
Affen und
Singvögel) in der relativen und vom
Elefant
[* 5] und
Walfisch in der absoluten
Größe des
Gehirns übertroffen. Wenn hier und da bei geistig hervorragenden
Menschen kein sehr bedeutendes
und bei
Angehörigen von geistig wenig entwickelten
Menschenrassen ein ziemlich großes Hirngewicht angetroffen wird, so beruht
dies darauf, daß Beziehungen zwischen dem Hirngewicht und dem Gesamtkörpergewicht bestehen, und daß
durch die energische Muskelaktion der von der
Jagd lebenden oder nomadenhaft umherschweifenden niedern
Menschenrassen die Bewegungszentren
des
Gehirns geübt werden und an
Volumen zunehmen. Auch ist es wahrscheinlich, daß bei
¶
mehr
verschiedenen Rassen und Individuen Unterschiede in der Dichtigkeit der Hirnmasse vorhanden sind. Daß bei geistig hervorragenden Personen nicht immer ein bedeutendes Hirngewicht nachgewiesen werden konnte, erklärt sich in vielen Fällen dadurch, daß dieselben zur Zeit ihres Todes bereits in höherm Alter sich befanden, wo die Hirnmasse im Schwinden begriffen ist. Wenn aber auch die Gesamtmasse und das Gesamtgewicht des Gehirns nicht immer dem Grade der Intelligenz der betreffenden Individuen genau entspricht, so steht doch die Entwickelung des Vorderhirns (Vorderlappen des Großhirns), des Sitzes der höhern geistigen Funktionen, zur geistigen Befähigung in direkter Beziehung.
Entsprechend dem verschiedenen Grade der geistigen Entwickelung beim Anthropoiden, Naturmenschen und Kulturmenschen
ist auch die Entwickelung der grauen Hirnsubstanz (Hirnrinde), die in der größern oder geringern Ausbildung der großen Windungszüge
(Konvolutionen) und der kleinen Hirnwindungen (gyri) zum Ausdruck kommt, eine verschiedengradige. Rudolf Wagner hat an den Gehirnen
von Gauß und Dirichlet zuerst nachgewiesen, daß das Gehirn
von geistig hervorragenden Männern charakterisiert
ist durch die verwickelte Anordnung und Asymmetrie der Gyri der beiden Hirnhälften.
Die von Owen aufgestellte Behauptung, daß das menschliche in den hintern Großhirnlappen einige wesentliche Teile enthalte, die den höhern Affen stets und vollkommen mangelten, hat sich nicht bestätigt; auch ist das Vorkommen der Affenspalte (durch Nichtentwickelung der innern obern Scheitelwindung bedingte Vertiefung der Hinterhauptsspalte, die man für ein Charakteristikum des Affenhirns gehalten hat) sehr unbeständig. Die Oberfläche des Gehirns der Anthropoiden stellt vielmehr nach Huxley eine Art von Umrißzeichnung des menschlichen dar, nur durch untergeordnete Merkmale von demjenigen des Menschen sich unterscheidend.
Der Menschencharakter des Gehirns beruht nach J. ^[Johannes] Ranke auf dem Übergewicht des nicht automatisch
wirkenden Teiles der Großhirnhemisphären über die automatisch wirkenden Gehirn
abschnitte. Übrigens gibt es auch gewisse
Menschenrassen (Weddas und Tamilen auf Ceylon,
[* 7] Kurumbas der Nilgerries), die einen so kleinen Schädel und ein so geringes Hirnvolumen
(Nanokephalie) aufweisen, daß die Maximalgrenze des Anthropoidenhirns und die Minimalgrenze der
Hirnentwickelung bei diesen Völkern sich sehr nahekommen.
Beim Menschen hat das Gehirn
des Mannes vor demjenigen des Weibes sowohl das größere durchschnittliche Gewicht (s. oben) als auch
die bedeutendere Entwickelung der Hirnwindungen voraus. Schon gleich nach der Geburt lassen sich erhebliche Unterschiede
in der Entwickelung der die Sylviussche Spalte umgebenden Windungszüge bei beiden Geschlechtern nachweisen. Die zwischen männlichem
und weiblichem Gehirn bestehenden Unterschiede sind aber beim Gehirn der Naturvölker weniger stark ausgeprägt
als beim Gehirn der Kulturvölker.
Während beim Gehirn von Assen und unkultivierten Völkern (Neger- und Hottentotgehirne) die Interparietalfurche (die großen Scheitelwindungen voneinander trennende Vertiefung) mit der Sagittalebene (von vorn nach hinten durch den Körper gelegte Vertikalebene) einen nach vorn offen stehenden spitzen Winkel [* 8] bildet, verfolgt nach Rüdinger die Interparietalfurche beim Europäer einen mehr der Richtung der Sagittalebene sich annähernden Verlauf. Bei geistig hervorragenden Männern (J. v. Liebig u. a.) soll das Wachstum und die gesteigerte Entwickelung mitunter sogar zur Folge haben, daß die Interparietalfurche mit der Sagittalebene einen nach hinten offen stehenden spitzen Winkel bildet.
Vgl. v. Bischoff, Das Hirngewicht des Menschen (Bonn [* 9] 1880);
Topinard, Les poids du cerveau d'après les registres de P. Broca (»Revue d'Anthropologie«, 1882, S. 1 bis 30);
Virchow, Indische Zwergrassen (»Korrespondenzblatt für Anthropologie«, 1881, S. 151);
Rüdinger, Ein Beitrag zur Anatomie der Affenspalte und der Interparietalfurche beim Menschen (Bonn 1882);
Möller, Das Gehirn des Schimpanse (»Westermanns Monatshefte«, Dezember 1880);
Waldeyer, Hirnwindungen der Assen, insbesondere der Anthropoiden (»Korrespondenzblatt für Anthropologie«, 1890).
Vgl. auch die Art. Vorstellung und Medizinischer Kongreß.