Gedankenlesen
(engl. Mind-reading), die vorgebliche Kunst, durch »magnetischen Rapport« od. dgl. in den Gedanken andrer zu lesen, welche zuerst durch einen Amerikaner, Namens Brown (1876), dann durch Irving Bishop zu Schaustellungen benutzt wurde und in neuerer Zeit, namentlich durch die geschickte Ausführung seitens des Engländers Stuart Cumberland, zu einer beliebten ¶
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Gesellschaftsunterhaltung geworden ist. Die Vorstellung spielt sich in der Regel so ab, daß in Abwesenheit des Künstlers ein
Gegenstand versteckt oder eine Person, eine bestimmte Zahl, z. B. die Nummer einer Banknote, eine Jahreszahl etc., in Gedanken
genommen wird, worauf der zurückgekehrte Künstler aus der Gesellschaft einige Wissende zu »Medien« wählt,
deren Brauchbarkeit als solche in der Regel durch einige Vorproben festgestellt wird. Der Gedankenleser
läßt sich sodann
die Augen, mitunter auch die Ohren, verbinden, faßt das Medium, in dessen Gedanken er lesen soll, bei der Hand
[* 4] oder drückt dessen
Hand an seine Stirn und bittet es, nunmehr die Gedanken fest auf die zu suchende Örtlichkeit, Person oder
Sache zu »konzentrieren«, während er mit ihm in seinem angegebenen
Umkreis umhersucht und ihn nach verschiedenen Richtungen hinführt.
Handelt es sich um das Erraten von Zahlen oder Worten, so führt er die von ihm gehaltene Hand wiederholt langsam über eine Tafel, auf welcher die zehn Zahlzeichen oder die Buchstaben des Alphabets in großen Charakteren verzeichnet sind. Das Finden und Erraten der in Gedanken gehaltenen Örtlichkeit, Person, Sache, Zahl etc. erfolgt bei geübten Experimentatoren mit ziemlicher Sicherheit und Schnelligkeit, obwohl mitunter ein zweites oder drittes Medium beansprucht wird, welches seine »Gedanken besser konzentrieren« könne.
Die Kunst beruht im wesentlichen auf einer Feinfühligkeit der Hand, welche die Verstärkung
[* 5] der Blutbewegung in den Adern des
Mediums und gewisse Bewegungen desselben zu fühlen weiß, sobald der richtige Weg beim Suchen einer Örtlichkeit eingeschlagen
wird, oder sobald die Person oder Hand des Mediums in die Nähe der gesuchten Örtlichkeit, Person, Sache,
Schriftzeichen, Zahlen etc. gelangt. Die richtige Erklärung gab bereits 1876 der Entdecker Brown selbst, worauf der Nervenarzt
Gedankenlesen
M. Beard in New York eine »Physiologie des Gedankenle
sens« (1877) veröffentlichte und Carpenter nachwies, daß die unbewußten
Bewegungen der Medien zum Teil identisch sind mit den von ihm seit 1852 studierten ideomotorischen Bewegungen
(s. d.), durch die auch die Schwankungen der Wünschelrute, das Klopfen der Tische etc. zu stande kommen. W. Preyer konstruierte
dann einen besondern, sehr empfindlichen Apparat, den Palmagraphen, um diese unbewußten Bewegungen der Hände etc. graphisch
darzustellen und dadurch den unzweifelhaften Beweis ihres Vorhandenseins zu liefern.
Leute, die bei dem Experiment an ein geheimnisvolles und vielleicht übernatürliches Können des Gedankenlesers
glauben, geben die brauchbarsten Medien, Personen, die sich beherrschen können, die schlechtesten ab. Im ganzen ist die Kunst
so wenig schwierig, daß sich die dazu gehörige Geschicklichkeit bald erwerben läßt und von unzähligen Personen nachgemacht
werden konnte; durch Übung, Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis kann sie aber zu wirklich überraschenden
Leistungen gesteigert werden, wie denn für Cumberland selbst eine lose Verbindung mit einem Medium genügte, um im Umkreis
einer halben Meile versteckte Dinge zu finden.
Der Name Gedankenlesen
ist somit auf Täuschung berechnet und würde besser durch »Muskellesen«
ersetzt, denn der Künstler liest nicht in den Gedanken des Mediums, sondern dieses verrät ihm dieselben
durch die unbewußten Bewegungen seiner Hände und durch die Aufregung seines Pulses und ist trotz allem Anschein des Gegenteils
beim Suchen der führende Teil. Dabei laufen noch allerlei kleine Kunstgriffe unter, um die Aufregung des
Mediums künstlich zu steigern.
Diejenigen, welche durch das Gedankenlesen
das Vorhandensein einer besondern,
nötigenfalls auch ohne materielle Verbindung von einer Person auf die andre übertragbaren Geisteskraft nachweisen möchten,
haben in neuerer Zeit noch eine andre Form des Gedankenlesens
in Mode gebracht, welche man die Gedanken-Übertragung (engl.
Thought-transference, franz. Suggestion mentale) nennt.
Wenn dabei eine Person, die sich eine bestimmte Zahl oder ein Wort denkt, mit ihrer Hand diejenige des Experimentators erfaßt und sie veranlaßt, die von ihr gedachten Zahlen, Worte etc. niederzuschreiben, so handelt es sich wieder um die schon erwähnten unbewußten ideomotorischen Bewegungen, und dieses Experiment gelingt meistens leicht. Anders verhält es sich mit den von Richet und andern Experimentatoren angestellten Versuchen, in denen Personen ohne alle Berührung die Gedanken andrer übermittelt erhalten haben sollen, Experimenten, bei denen es, wie Preyer gezeigt hat, sehr schwer ist, Selbsttäuschung und Betrug auszuschließen.
Vgl. vom gläubigen Standpunkt: Du Prel, Das Gedankenlesen
(Bresl. 1885), und Richet in der
»Revue philosophique« 1884, S. 609-621; vom skeptischen: Preyer, Die Erklärung des Gedankenlesens
(Leipz. 1886).