Gedächtnis
(lat. memoria), Bezeichnung für die allgemeine
Thatsache, daß früher einmal im
Bewußtsein
vorhanden gewesene
Inhalte unter geeigneten
Bedingungen wieder bewußt zu werden vermögen. Mit
Bezug auf die Genauigkeit in der
Übereinstimmung der aufgenommenen und der erinnerten
Vorstellung redet man von einem treuen, in Rücksicht auf die Anzahl
behaltener Eindrücke von einem umfassenden Gedächtnis.
Den Vorgang des Wiedererscheinens bezeichnet man als
Reproduktion.
Von unmittelbarer
Reproduktion spricht
man da, wo eine
Vorstellung oder Vorstellungsmasse, ohne von andern hervorgerufen zu
sein, in das
Bewußtsein tritt, z. B. der
Gedanke an eine quälende
Sorge. Die mittelbare
Reproduktion besteht in dem Vorgange,
daß eine
Vorstellung durch
Association, d. h. durch eine andere, mit der sie auf irgend eine
Weise verschmolzen
oder verbunden ist, in das
Bewußtsein zurückgerufen wird. So ruft uns ein
Ort, den wir nach längerer Zeit wiedersehen, zahlreiche
Ereignisse ins
Bewußtsein, die wir dort erlebt, an die wir aber seither nie wieder gedacht haben. In neuester Zeit hat man
die Leistungen des Gedächtnis
experimentell untersucht, teils für Sinneseindrücke, teils für
gelesene und gesprochene sinnlose
Silben.
Man hat dabei eine gesetzmäßige Abhängigkeit von der nach der
Aufnahme verstrichenen Zeit, von der Anzahl der Wiederholungen
u. a. gefunden. Von praktischer Bedeutung ist z. B. die
Thatsache, daß das Erlernen leichter von statten geht, wenn die dazu
erforderliche Zahl von Wiederholungen sich über einen größern Zeitraum erstreckt. Ferner wird das
Gedächtnis
für Gelesenes wesentlich unterstützt, wenn es gesprochen oder niedergeschrieben wird. Ein sog.
inneres Sprechen, eine unhörbare Mitbewegung der
Sprachorgane, ist daher eine sehr zweckmäßige Gedächtnis
hilfe.
Man unterscheidet unwillkürliche und willkürliche
Erinnerung (Besinnen). Die Erziehung des Gedächtnis
erstreckt sich auf beide
Arten und bemüht sich die wesentlichen, d. h. begrifflich wichtigen
Associationen zu befestigen und ihren Eintritt ins
Bewußtsein
zu erleichtern. Am sichersten und leichtesten wird die
Association durch klar gedachte Beziehungsbegriffe; daher erhält sich
im allgemeinen alles um so sicherer im G., je schärfer es aufgefaßt und je klarer es begriffen worden
ist.
Das Erlernen von logisch zusammenhängenden
Lauten nimmt nur etwa den zehnten
Teil der Zeit in
Anspruch, die zum
Behalten sinnloser
Wortreihen erforderlich ist.
Die beste Ausbildung für das Gedächtnis
liegt deshalb nicht im äußerlichen, mechan.
Memorieren, sondern in der
Erweckung einer lebhaft interessierten
Aufmerksamkeit und einer eindringenden, ordnenden
Auffassung der Dinge. Am stärksten entwickelt sich das Gedächtnis
jedes
Menschen nach der Seite seines Interesses, wie es entweder
in seinem
Berufe oder in seiner persönlichen Neigung begründet ist; so spricht man von Orts-,
Namen-, Zahlengedächtnis
u. s. f.
Was weder dem persönlichen Interesse wichtig ist, noch in Beziehungsverhältnissen zu anderm Vorstellungsinhalt
steht, verschwindet am leichtesten aus dem Gedächtnis;
daher sucht man sich Dinge, die einander reproduzieren sollen
und doch keine innere
Beziehung haben, z. B. histor.
Ereignisse und Jahreszahlen, durch künstliche
Beziehungen zu verknüpfen und so besser zu «behalten»; diese Kunst
heißt
Mnemonik (s. d.) oder
Mnemotechnik. Neuerdings ist man auch den individuellen Unterschieden des
Gedächtnis
nachgegangen. Man ist dabei zur
Aufstellung verschiedener
Typen gelangt, von denen einer dadurch charakterisiert ist, daß
vorzugsweise Worte
(Schrift-,
Klang- oder Bewegungsbilder) reproduziert werden, während ein anderer die Eigentümlichkeit
zeigt, daß konkrete
Vorstellungen früherer Erlebnisse am häufigsten und leichtesten ins
Bewußtsein treten. Auch redet man
von einer besondern
Entwicklung des optischen oder akustischen Gedächtnis
u. dgl. (S.
Ideenassociation.) -
Vgl.
Ebbinghaus,
Über das Gedächtnis
(Lpz. 1885);
Fauth, Das Gedächtnis
(Gütersloh 1888);
Dörgfeld,
Denken und Gedächtnis
(«Beiträge zur pädagogischen
Psychologie», Heft 1, 4. Aufl., ebd. 1891);
Ribot, Les maladies de la memoire (5. Aufl., Par. 1888).