Geburtshilfe
,
die Wissenschaft, welche die physiol. und pathol. Vorgänge im weiblichen
Körper von der Empfängnis an bis zu Ende der unmittelbaren Folgen der
Geburt für
Mutter und
Kind darstellt und zugleich die
Mittel angiebt, durch die der regelmäßige Verlauf dieser Vorgänge befördert, den Unregelmäßigkeiten
in denselben aber passend begegnet wird. Da der letztere
Teil dieser Wissenschaft, der praktische, jedoch auch oft unmittelbar
thätliche Hilfe vorschreibt und zu dieser wieder eine gewisse Fertigkeit nötig wird, so schließt die Geburtshilfe
auch
eine Kunst, die Entbindungskunst oder
Obstetrik (ars obstetricia), ein, deren Ausübung für die Menschheit
von solcher Wichtigkeit ist, daß in den meisten civilisierten
Staaten nur besonders darin geprüften
Ärzten, den sog.
Geburtshelfern
oder
Accoucheurs, die Erlaubnis dazu erteilt wurde, während die diätetische und therapeutische Behandlung einer Schwangern,
Gebärenden oder Wöchnerin, wenn kein manueller
Eingriff nötig war, jedem andern
Arzte, und der
Beistand
bei leichten, regelmäßigen
Geburten den
Hebammen überlassen werden konnte.
Nach den neuern gesetzlichen Bestimmungen erhält dagegen im
Deutschen
Reich kein
Arzt die staatliche
Approbation zur Ausübung
der Praxis, der nicht genügende geburtshil
fliche Kenntnisse nachzuweisen vermag. Man darf die Geburtshilfe
nicht
als einen
Teil der
Medizin im engern
Sinne oder der
Chirurgie ansehen, da nicht nur die Kenntnis jener beiden
Zweige sich vereinigen, sondern noch vieles, was jene in ihrer gewöhnlichen Bedeutung nicht einschließen, hinzutreten muß,
um einen vollkommenen
Geburtshelfer zu bilden.
Aus diesem
Grunde erfordert die Erlernung der Geburtshilfe
eine besondere Klinik (geburtshilfliche Klinik), worin die geburtshil
fliche
Pathologie und
Therapie gelehrt werden und zu der die mediz. und chirurg. Klinik als Vorbereitungen dienen.
Die Vorübungen zu den geburtshil
flichen
Operationen nimmt man am sog.
Phantom (s. d.) vor. Geburtshil
fliche
Operationen sind
nötig, wenn wegen Schwäche,
Asthma,
Blutungen oder anderer entweder schon eingetretener oder doch zu fürchtender übler
Zufälle, welche der
Mutter die Fortsetzung der Geburtsanstrengungen unmöglich oder doch sehr gefährlich
machen, eine
Beschleunigung der
Geburt erfordert wird, oder wenn die
Größe der
Frucht oder die Kleinheit des
Beckens
den
Austritt
derselben verhindert, auch wenn die
Lage des
Kindes dessen Durchgang durch die Geburtsteile verwehrt, oder wenn Regelwidrigkeiten
in den
Teilen, die der
Mutter sowohl als dem
Kinde angehören, einem von beiden oder beiden zugleich Gefahr
drohen, z. B. zu dicke
Eihäute, zu kurze oder zu lange Nabelschnur, Knoten,
Vorfall, Zerreißung
u. dgl.
Die Geschichte der Geburtshilfe
schließt sich eng an die der gesamten Heilkunde an; nur stand die in
ihrer Ausbildung hinter den übrigen
Teilen der
Medizin
bis in das 18. Jahrh. weit zurück, da sie mit noch mehr Vorurteilen
als jene zu kämpfen hatte.
Schon in den ältesten
Urkunden der Geschichte, in den heiligen
Büchern der
Inder, Ägypter und
Israeliten, wird der
Hebammen oder Wehmütter als besonderer
Klasse gedacht, und bei den Griechen wie bei
den
Römern wurden mehrere weibliche Gottheiten als Schutzgöttinnen der Gebärenden verehrt.
Erst um die Mitte des 4. Jahrh.
v. Chr. scheint bei den Griechen männliche Hilfe von den Gebärenden in
Anspruch genommen
worden zu sein.
Hippokrates hat mehrere
Schriften über
Geburt und Geburtshilfe
geschrieben und zeigt sich auch in
ihnen als großen Naturbeobachter, obgleich er in Hinsicht auf die Ausübung der Kunst nur wenig aufstellte, was nicht der
spätern Berichtigung bedurft hätte. Unter den spätern
Ärzten, denen wir Nachrichten über die damalige Geburtshilfe
verdanken, sind
zu erwähnen: Celsus,
Galenus, Moschion, im 3. Jahrh., der sich besonders nach Soranus,
dessen
Schriften aber verloren gegangen sind, richtete und das erste uns bekannte Hebammenbuch verfaßte;
ferner
Aetius von
Amida im 6. Jahrh. und
Paul von
Ägina im 7. Jahrh. Im Mittelalter war die Geburtshilfe
ebenso wie die übrigen
Wissenschaften gänzlich vernachlässigt.
Die arab.
Ärzte bildeten meist nur die irrigen
Ansichten der
Griechen weiter aus, ließen aber das Gute in den
Schriften ihrer Vorgänger unberücksichtigt, während im
Abendlande die
Geburtshilfe
der rohen
Empirie der Mönche und
Hebammen allein überlassen blieb.
Erst mit dem 16. Jahrh. wurde der Geburtshilfe
wieder mehr
Aufmerksamkeit zugewendet; 1513 erschien das erste gedruckte und
mit Holzschnitten versehene geburtshilfliche Lehrbuch von Eucharius Rößlin: «Der
swangern Frawen und
Hebammen Rosengarten», dem die ähnlichen Werke von Jak. Ruff in Zürich
[* 2] (1533)
und Walth. Reiff in
Straßburg
[* 3] (1561) folgten. Praktisch wurde die Wissenschaft fortgebildet durch
Vesalius, Falopia u. a.;
doch blieben, da nur in sehr schwierigen Fällen
Männer an das Geburtsbett gerufen wurden, die Naturbeobachtung
sehr mangelhaft und die Fortschritte hauptsächlich auf die operative Seite der Geburtshilfe
beschränkt. Auch wurde
die Geburtshilfe
nur als ein
Teil der
Chirurgie angesehen und hatte mit dieser dasselbe
Schicksal. Als daher letztere an Ausbildung gewann,
wurde auch erstere gefördert, namentlich in
Frankreich, wo Franco,
Paré und
Guillemeau (gest. 1613) sich
bedeutende Verdienste um dieselbe erwarben und der Ausübung der Geburtshilfe
seitens männlicher
Ärzte nach und nach mehr Eingang
verschafften. Die Vorurteile gegen die Geburtshilfe
wurden endlich wenigstens in den höhern
Ständen dadurch fast gänzlich besiegt,
daß
Ludwig XIV. den berühmten Wundarzt Clement aus
Arles zur Entbindung der Lavallière rufen ließ und
ihn dann zum ersten
Geburtshelfer des
Hofs ernannte. Diese Auszeichnung ermunterte die franz.
Ärzte zur Ausbildung der Geburtshilfe
, und
¶
mehr
vorzüglich berühmt machten sich unter ihnen Mauriceau, Portal, Pen, Dionis und La Motte. Viel weiter zurück stand die in Deutschland, [* 5] wo sie fast immer nur von Hebammen ausgeübt wurde, für deren Unterricht man nur sehr dürftig sorgte. Unter ihnen erreichte Justine Siegmundin, die kurbrandenb. Hofwehmutter (1690), durch geschicktes und glückliches Operieren und durch Veröffentlichung eines brauchbaren Hebammenbuchs den bedeutendsten Ruf. Gleichzeitig mit ihr legte der Holländer Heinr. von Deventer durch seine beiden Bücher «Morgenröte der Hebammen» (Leid. 1696) und «Das neue Hebammenlicht» (1701) den ersten Grund zur wissenschaftlichen Fortbildung der Geburtshilfe.
In diese Zeit fällt auch die folgenreiche Erfindung des für die Geburtshilfe wichtigsten Instruments, der Geburtszange [* 6] (s. d.). Von nun an nahm die Geburtshilfe einen mächtigen Aufschwung. Levret, Puzos, Astruc, Solayrés de Renhac und Baudelocque verbreiteten in Frankreich, sowie in England, wo vorher nur wenig geleistet wurde, William Smellie (geb. 1680, gest. 1763) durch Lehren [* 7] und Schriften viel Licht [* 8] über die neue Wissenschaft. Auch in Deutschland hob sich diese Wissenschaft schnell durch Johann Georg Röderer (geb. 1726, Professor der Anatomie und Chirurgie zu Göttingen, [* 9] gest. 1763), welchem sein Schüler Georg Wilhelm Stein (gest. 1803) folgte. Der Erfolg der Bestrebungen dieser Männer, die allgemeinere Verbreitung geburtshilflicher Kenntnisse, wurde hauptsächlich gesichert durch die Errichtung von Entbindungshäusern, mit denen Lehranstalten für studierende und Hebammen verbunden waren. Während in Paris [* 10] nur eine Hebammenschule im Hôtel-Dieu bestand, war in Straßburg 1728 ein Entbindungshaus eingerichtet worden, das unter Fried (gest. 1769) lange Zeit großen Ruf genoß. In England wurde ein solches zuerst 1765 eröffnet.
Die erste Hebammenschule in Deutschland errichtete 1751 Friedrich d. Gr. in Berlin [* 11] in der Charité; ihr folgte in demselben Jahre unter der Leitung Röderers die zu Göttingen, worauf bald noch andere entstanden. In Deutschland entstanden unter F. B. Osiander (geb. 1759, gest. als Professor zu Göttingen 1822), der die operative Geburtshilfe auf eine hohe Stufe erhob, und unter Boer (gest. al5 Professor in Wien [* 12] 1835), der fortan der Naturhilfe ihre Anerkennung im vollsten Umfange sicherte, zwei Schulen, die, obgleich in schroffer Opposition einander gegenüberstehend, die Wissenschaft auf eine vordem ungeahnte Höhe führten. Neben ihnen sind hervorzuheben: Schmitt (gest. 1827), A. E. von Siebold, Weidmann (gest. 1819), Wenzel (gest. 1827) und Wigand (gest. 1817), in Frankreich Lachapelle und in England Denman;
aus neuerer Zeit: Nägele, Jörg, d'Outrepont, Ritgen, Kilian, E. K. J. von Siebold, Kiwisch von Rotterau, Scanzoni, Roßhirt, Credo, Späth, Martin, Braun, Schröder, Winckel, Schatz, Ahlfeld, Leopold, Sänger, B. Schultze, Spiegelberg, Kleinwächter, Zweifel, Olshausen, Veit, Fritsch,Hegar, Kaltenbach, Kehrer, Dohrn, Freund, Fehling u. a. Eine neue segensreiche Ara begann für die Geburtshilfe mit der Einführung der antiseptischen Wundbehandlung, durch welche es gelungen ist, das vordem so gefürchtete Kindbettfieber (s. d.) in immer engere Schranken zurückzuweisen und dadurch die Sterblichkeit in den Entbindungshäusern auf ein Minimum herabzudrücken.
Besonders nutzbringend hat sich die innige Verbindung der Geburtshilfe mit der Gynäkologie (s. d.) erwiesen, die beide vermöge ihrer gemeinsamen anatomisch-physiol. Grundlagen zueinander in der engsten Beziehung stehen. -
Vgl. Siebold, Versuch einer Geschichte der Geburtshilfe (2 Bde., Berl. 1839-45);
H. Häser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin (3. Aufl., Bd. 1, Jena [* 13] 1875);
Schröder, Lehrbuch der Geburtshilfe (12. Aufl., Bonn [* 14] 1893);
Spiegelberg, Lehrbuch der Geburtshilfe (3. Aufl., Lahr [* 15] 1891);
P. Müller, Handbuch der Geburtshilfe (3 Bde., Stuttg. 1888-89).
Winckel, Lehrbuch der Geburtshilfe (2. Aufl., Lpz. 1893); Zweifel, Lehrbuch der Geburtshilfe (3. Aufl., Stuttg. 1892).
Geburtshilfe bei Tieren gehört zu den wichtigsten Verrichtungen des Tierarztes. Wenn derselbe auch nicht, wie der Arzt, zur Leitung und Überwachung normaler Geburten hinzugezogen wird, so verlangt doch die große Zahl von vorkommenden Geburtshindernissen, namentlich bei Kühen, sachverständige Geburtshilfe. Die Hilfeleistung ist verschieden, je nachdem die Gebärschwierigkeit in einer fehlerhaften Beschaffenheit der Organe der Mutter (zu große Enge oder Verwachsungen der Geburtswege) oder in einer abnormen Größe oder abnormen Lagerung des Jungen ihren Grund hat. Im erstern Fall müssen unter Umständen, wie z. B. bei Verhärtung des Muttermundes, die mütterlichen Teile durch das Messer [* 16] erweitert werden, im letztern Fall sucht man zuerst durch Eingehen mit der Hand [* 17] die Lage des Jungen so einzurichten, daß dasselbe «entwickelt» werden kann (Kopf- oder Steißgeburt) und unterstützt die Wehen durch kräftigen Zug, nachdem an der Frucht Stricke angeschleift oder mittels Haken befestigt worden sind. -
Vgl. Zürn, Handbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (2. Aufl., Lpz. 1863);
Baumeister, Die tierärztliche Geburtshilfe (6. Aufl., Stuttg. 1878);
Harms, Lehrbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (2. Aufl., Hannov. 1884);
Franck, Handbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (2. Aufl., Berl. 1887).